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"Die Lage ist nach wie vor sehr angespannt"

"Assad, du kommst auch dran", steht auf einer Wand im südsyrischen Darayya. Auch hier sind die Proteste gegen Staatspräsident Bashar al-Assad eskaliert. Der Rücktritt der Regierung allein werde die Demonstranten nicht besänftigen, meint Journalist Samir Matar.

Samir Matar im Gespräch mit Martin Zagatta | 30.03.2011
    Dirk Müller: Seit Wochen werden sie gewaltsam unterdrückt, jetzt zeigen die Proteste in Syrien eine erste Wirkung. Präsident Assad wechselt die Regierung aus, zugleich lässt er sich von seinen Anhängern auf der Straße feiern. Kann er damit die Regime-Gegner besänftigen? – Mein Kollege Martin Zagatta hat darüber mit dem syrischen Journalisten Samir Matar von der Deutschen Welle gesprochen.

    Samir Matar: Meines Erachtens nicht, da die zentrale Macht nicht in der Hand der Regierung liegt, sondern eher beim Präsidenten Baschar al-Assad. Die Forderungen der Demonstranten können nur durch direkte Anordnungen des Präsidenten erfüllt werden, und die sind leider oder zum Glück – man weiß nicht -, die sind sehr viele, zum Beispiel die Freilassung der politischen Gefangenen, demokratische Wahlen und die Zulassung von oppositionellen Parteien. Also man kann sagen, der Rücktritt der Regierung war nur eine Forderung von vielen.

    Martin Zagatta: Geht es den Demonstranten da Ihrer Meinung nach um diese, von Ihnen ja schon angesprochenen Reformen, oder zielen die Proteste jetzt auch auf den Rücktritt von Präsident Assad selbst?

    Matar: Also die Proteste - oder den Demonstranten geht es um Reformen, um demokratische Reformen und soziale Gerechtigkeit. Das heißt, sie wollen, dass die Regierung beziehungsweise das Regime die sofortige Umsetzung von Reformen stattfinden lässt und vor allem die Aufhebung des Ausnahmezustandes, was angekündigt ist, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Die Freilassung der politischen Gefangenen ist eine sehr zentrale Forderung. Es gibt noch die "großen" sozusagen Gefangenen, die sind noch in den syrischen Gefängnissen. Und auch eine wichtige Forderung der Demonstranten ist die Abschaffung des Ein-Parteien-Systems. Wir wissen, dass die Bath-Partei seit 1963 an der Macht in Syrien ist.

    Zagatta: Da hat die Regierung angeblich schon angekündigt, oder der Präsident angekündigt, dass er diese Forderung zumindest in Betracht zieht. Wieso kommt es eigentlich, oder wie erklärt man es sich, dass diese Proteste im Moment vor allem im Süden des Landes stattfinden und weniger in Damaskus?

    Matar: Also meiner Meinung nach war der Auslöser eher zufällig im Süden, in der Stadt Darayya. Einige Jugendliche, eher zwischen 13 und 14 Jahren, hatten auf Wände geschrieben, Assad, du kommst auch dran, was natürlich als Anspielung auf Zine el-Abidine Ben Ali, den Präsidenten von Tunesien, und Mubarak von Ägypten galt. Und dann wurden sie festgenommen. Daraufhin kam es zu Protesten am 15. März, hauptsächlich von deren Angehörigen und anderen, damit diese Jugendlichen freikommen. Diese Proteste breiteten sich dann aus und es gab Tote, und so eskalierte die Lage. In Damaskus konzentrieren sich natürlich die Kräfte von Sicherheitskräften und Geheimdiensten und Polizei, sodass die Demonstrationen nur begrenzt in Damaskus möglich sind. Das gilt auch natürlich für Aleppo.

    Zagatta: Wie angespannt ist die Lage überhaupt? Können Sie einschätzen, ob Berichte stimmen, wonach es schon mehr als 100 Tote gegeben hat, denn solche Meldungen gibt es ja?

    Matar: Ja. Die Lage ist nach wie vor sehr angespannt, denn der Präsident hat sich nach wie vor nicht persönlich an das Volk gewandt. Es wurde angekündigt, dass er das machen wird, aber bis jetzt nicht. Und solange er keine richtigen und auch baldigen Reformen ankündigt und natürlich auch umsetzt, bleibt die Lage sehr angespannt, und bis jetzt hat die Regierung beziehungsweise das Regime nur Versprechen und keine konkreten Maßnahmen durchgeführt. Die Toten? Also die Opposition spricht von mindestens 100 Toten. Es liegt daran, dass während der Demonstrationen und danach sehr viele Menschen als vermisst gemeldet wurden, und diese Vermissten, man weiß nicht, ob sie tot sind, oder eher nur festgenommen bei der Polizei.

    Zagatta: Und was schätzen Sie? Wie geht das in Syrien weiter?

    Matar: Das hängt natürlich von den Maßnahmen ab, was Assad morgen beziehungsweise übermorgen verkünden wird. Ich glaube nicht, dass die Proteste sehr schnell eingedämmt werden, wenn Assad nicht konkrete Maßnahmen und die Forderungen der Opposition erfüllt. Und sollte das nicht passieren, es könnte die Lage eskalieren und es könnte natürlich auch zu Auseinandersetzungen, leider zu eher Gewalt unter den Demonstranten, die bis jetzt eigentlich friedlich agieren, und auch der Polizei kommen, und man weiß nicht, wie die Lage auf diese Weise dann aussehen wird.

    Müller: Der syrische Journalist Samir Matar im Gespräch mit meinem Kollegen Martin Zagatta.


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