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Die Landschaft als Spiegel der Seele

Der Autor Walter Kappacher verließ bereits mit fünfzehn die Schule, arbeitete als Automechaniker, später als Reisekaufmann und stieg dann aus. Seitdem hat er zahlreiche Bücher geschrieben. Sein neuer Roman "Der Fliegenpalast" beschreibt einige Tage im Leben von Hugo von Hofmannsthal, doch eigentlich dreht sich alles um Kunst und Wirklichkeit und nicht zuletzt um das Verhältnis von Leben und Tod.

Von Michaela Schmitz | 22.04.2009
    In der Zeitlupe richtet sich das Auge vom Ziel auf die Bewegung. Der Ablauf und jeder einzelne Schritt rücken in den Blick. Was, wenn die Zeitlupe sich nach innen richtet? Das zeigt Walter Kappacher in seinem neuen Roman "Der Fliegenpalast". Der Bewusstseinsstrom zerbricht; und mit ihm das Gefühl für die eigene Identität.

    Hauptfigur von Kappachers literarischem Bewusstseinsdrama ist Hugo von Hofmannsthal. Wer eignete sich besser zur Darstellung einer existenziellen Wahrnehmungs-, Sprach- und Identitätskrise als der Autor des berühmten Lord-Chandos-Briefs? In Bad Fusch, einem abseits gelegenen, wie aus der Zeit gefallenen Bergdorf, verbringt der Fünfzigjährige im August 1924 zehn Tage. Für ihn ist es ein "magischer" Ort. Jeden Sommer war er als junger Dichter mit den Eltern heraufgekommen. Hier in dieser Luft hat er am besten arbeiten können, erinnert er sich. In Bad Fusch will er jetzt seinen "Timon" fertig stellen.

    Aber alles hat sich seitdem verändert, nicht nur der Ort. Mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Die literarische Schaffenskraft droht zu versiegen. Auf den idealen Barometerstand zum Arbeiten wartet er vergeblich.

    Werde ich langsam verrückt? dachte er. Was macht die Arbeit an den Theaterstücken aus mir? In Davos hatten ihn während eines Rundgangs die vielen Bestattungs-Unternehmen, die vielen Sarggeschäfte erschreckt. Aus! Schluss! Es hat keinen Sinn! Das Stück, den Timon, sein lassen und einfach Ferien machen, so gut es geht.

    Zeitungen und Briefe sind der einzige Kontakt zur Außenwelt; ausgenommen die seltene Konversation mit Doktor Krakauer. Das zentrale Thema: Hofmannsthals fiktive "Briefe des Zurückgekehrten". Dort wird die Konfrontation der erinnerten Heimat mit der realen Heimat zum Problem - wie in der erzählten Gegenwart. Parallel zum Chandos-Brief führt das universelle Fremdheitsgefühl des Heimgekehrten über die radikale Wahrnehmungskrise zum zeitweiligen Ich- und Weltverlust. "Wir sind ja alle Zurückgekehrte, nicht wahr?", bekennt Hofmannsthal Doktor Krakauer im Gespräch. Bad Fusch, der magische Ort, ist ihm fremd geworden. Der Autor selbst wird sich zunehmend fremd. Wie beim Zurückgekehrten mischt sich in seinem Bewusstseinsstrom alles übergangslos durcheinander: Die klaren Grenzen zwischen Kopf und Gemüt, Wahrnehmung und Erinnerung, Vorstellung und Wirklichkeit, Denken und Handeln, Wollen und Müssen haben sich aufgelöst. Unvermittelt springen Hofmannsthals Gedanken vom Rodauner Familiensitz bei Wien zum Ferienhaus in Bad Aussee, vom Urlaub als Jugendlicher am Wolfgangsee zur gerade erst verlassenen Lenzerheide in der Schweiz. Auf seinem Tisch stapeln sich Zettel, Notizen und Bücher. Der Autor schreibt fiktive Briefe an Doktor Krakauer und vergegenwärtigt sich längst vergangene Begegnungen mit Freunden, als wären es frische Bekanntschaften.

    Wenn etwas weit zurücklag, näherte es sich dem Geisterhaften. Immer öfter mischte sich die Erinnerung an Menschen, denen er begegnet war, mit jenen Schemen, die in seinem Kopf entstanden und dann eine Art von Eigenleben beanspruchten.
    Dem alternden Dichter gelingt es nicht mehr, zwischen Literatur und Realität zu unterscheiden. Oft besitzen erinnerte Lektüre und eigene Dichtungen einen höheren Realitätsgrad als das aktuelle Geschehen. Man könnte, fällt Hofmannsthal eines Tages ein, im Wintergarten des Hotels ohne weiteres ein "Großes Welttheater" aufführen. Alle nötigen Figuren wären vorhanden.

    Die Landschaft auf seinen Spaziergängen wird zum Spiegel der Seele. Waren nicht selbst die tiefsten Zustände in unserem Innern, sinniert Hofmannsthal, in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft, mit atmosphärischen Zuständen verbunden? In der Wasseroberfläche des Brunnens sieht der Autor das von kreisförmigen Wellen verzerrte Bild seiner selbst als junger Dichter. Hinter dem Hotel steht er schwankend auf der Brücke über dem brausenden Weixelbach.

    In den wallenden, sich überlagernden Schüben des Gebirgsbachs erkennt er seinen eigenen drohenden Selbstverlust. Als Hofmannsthal endlich den früher oft gewanderten Waldweg zu den Hochalmen wiederfindet, verirrt er sich. Die bis in die Höhe astlosen Bäume waren ihm damals als Kathedrale erschienen. Jetzt machen sie ihm nur noch Angst. Aus Furcht vor den Synapsengewittern und neuronalen Symphonien in seinem Kopf denkt Hofmannsthal immer wieder daran, einfach mit dem Schreiben aufzuhören.

    Er brach ab, zerknüllte den Briefbogen. Zeit fürs Abendessen. Er ging zum Schrank und suchte nach einem frischen Hemd. Die Vroni oder die Kreszenz bitten, dass sie mir zwei wäscht und bügelt. Und dachte, alles hinschmeißen und weggehen. So wie der Installateur letzten Winter daheim. Als er den Zustand der Wasserrohre im Haus gesehen hatte, war er einfach verschwunden.
    Oder gibt es doch noch die Chance für einen Neuanfang, den "Another Go", wie Henry James es nennt? Die Antwort gibt der Dichter am Ende selbst, als er sich in den letzten Sätzen des Romans eingesteht: "Wie dumm von mir, dachte er. Es ist nichts."
    Zugegeben, am Anfang ist es nicht einfach, das eigene Lesetempo auf Kappachers kunstvoll verlangsamtes Zeitmaß zu drosseln. Genauso schwer fällt es, dem anfänglichen Unmut über die zahllosen, oft genug vereinzelt bleibenden Hinweise zu Hofmannsthals Leben und Werk mit Gelassenheit zu begegnen. Man muss sich einlassen auf Kappachers ungewöhnlichen Erzählduktus, auf seine Textmelodie mit endlosen Wiederholungen und Variationen, um zu verstehen: Eigentlich geht es gar nicht um Hugo von Hofmannsthal.

    Die Themen und Motive sind nicht neu. Sie drehen sich um Kunst und Wirklichkeit, das Ich in Bezug zur Welt, um Identität im Wandel, die Beziehung von Sprache und Wahrnehmung und nicht zuletzt um das Verhältnis von Leben und Tod. Als unsichtbarer Dirigent von Hofmannsthals Gedankenorchester fügt Kappacher im "Fliegenpalast" seine eigene Interpretation der bekannten Melodien hinzu. Das Geheimnis seiner Komposition verrät Kappacher in einem Interview: Er habe, so Kappacher, "einmal beobachtet, wie eine Frau einem Mädchen die Zöpfe flocht, und mir dabei vorgestellt, dieses Flechten formal in einem Text zu versuchen, mit mehr Strängen." Im "Fliegenpalast" ist es ihm gelungen. Wer sich einmal in Kappachers seltsam verschlungene Tonfolgen hineingehört hat, kann sich so schnell nicht satt hören. Der Schlussakkord kommt dann doch allzu schnell.

    Walter Kappacher:
    Der Fliegenpalast.
    Residenzverlag 2009.
    176 Seiten,
    17,90 EUR.