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Die Leerstelle Vater

Der 1968 geborene Raul Zelik gehört zu den explizit politischen Autoren seiner Generation. Die Hauptfigur seines neuen Romans, der auf den ersten Blick unpolitisch erscheint, ist auf der Suche nach seinem Vater. Und nach sich selbst.

Von Detlef Grumbach | 21.02.2013
    "Die Beziehung zwischen Daniel und seinem Vater ist ja eher die Beziehung zu einer Leerstelle. Der Vater ist präsent, aber er hat kein Bild von ihm. Er hat ja mit dem Vater nie Zeit verbracht. Und insofern ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Vaters eigentlich wie ein Kreisen um ein Phantom."

    Daniel ist 25, ist bei seiner Mutter und deren Freund in einer Kleinbürgeridylle in Göttingen aufgewachsen, kennt den Vater kaum und zieht zum Studium nach Berlin. Vielleicht kann er dort auch den kurz Fil genannten Vater doch noch kennenlernen. Dieser Fil war 23, als Daniel 1985 geboren wurde, gehörte zur Berliner Hausbesetzerszene, brach Supermärkte auf, damit die Armen sich bedienen konnten, unterstützte über Jahre einen Freund, der von der Polizei gesucht wurde. Solidarität, füreinander Einstehen, das galt aber immer nur für andere, nicht für den eigenen Sohn, der ihn gebraucht hätte. Den hat er im Stich gelassen. Daniel möchte wissen warum, verstehen, wie Fil gelebt hat, aber dann findet er ihn todkrank auf der Intensivstation. Dort wartet Fil auf eine Organ-Transplantation, wird an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und fällt ins Koma.

    "Und insofern ist weder etwas Feindliches noch etwas Freundschaftliches, was sich da entwickelt, sondern dass sich diese Leerstelle des Vaters im Laufe des Romans seiner bemächtigt und er selber auch nicht wirklich vorankommt. Er kommt ja dem Vater nicht wesentlich näher. Die Fragen, die er am Anfang hat, hat er eigentlich auch am Schluss, die meisten davon."

    Der Roman setzt vier Monate nach Daniels Umzug ein. Vater und Sohn hatten sich bis dahin öfter gesehen, doch den Fragen Daniels ist Fil ausgewichen. Und plötzlich geht es um Leben und Tod, muss Daniel für Fil da sein. Auf Fils Rolltisch am Krankenbett liegt das Buch "Der Eindringling" des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy. Ich – wer ist dieses Subjekt, wenn es ein fremdes Herz in sich trägt? Bin ich noch ich mit dem fremden Organ, das mein Leben rettet, das mein Körper aber auch als Bedrohung empfindet, das sein Immunsystem abstoßen will? Die Fragen, mit denen sich der Vater noch beschäftigt hat, interessieren auch den Sohn, doch für Daniel bekommen sie eine zusätzliche Dimension.

    "Der Eindringling" – Raul Zelik übernimmt den Titel Nancys für seinen Roman. Intensiv und berührend erzählt er aus Daniels Perspektive von der Suche nach dem Vater, wie dieser in sein Leben eindringt, wie er sich innerlich dagegen wehrt: Wieviel von Fil steckt in ihm, wie vorbestimmt ist sein Leben durch ihn, wer ist er?

    Raul Zelik wurde 1968 geboren, er war noch keine zwanzig, als er nach Nicaragua ging, um dort die Sandinisten zu unterstützen, entwickelte sein Schreiben aus den politischen Problemen und Konstellationen, die ihn umgaben, innerhalb derer er auch handelte. Im Vergleich dazu scheint der neue Roman auf den ersten Blick unpolitisch: auf Distanz zu den Verhältnissen, dicht dran an Daniel und seinen Problemen. Doch unterschwellig und dafür umso eindringlicher bekommt auch er eine politische Ebene, indem der Autor in Daniel und Fil zwei völlig unterschiedliche Lebensentwürfe miteinander konfrontiert.

    "Der Sohn findet nicht so richtig einen Weg, wie er seinem Leben eine Richtung geben könnte, die ihn erfüllt. Und das fasziniert ihn natürlich sehr stark am Vater. Der Vater hat ein sehr intensives Leben geführt, obwohl er sich in der Beziehung zum Sohn scheiße, nicht gut verhalten hat, ist er für ihn eine interessante Person und Daniel fasziniert die Haltung Fils."

    No risk, no fun, das war die Losung des Vaters. Träume und Ziele waren etwas für die Gegenwart. Daniel hatte als Schüler den Traum, Journalist zu werden, auf die Henry-Nannen-Schule zu gehen. Bei einem Treffen hatte er das dem Vater einmal erzählt. Der hielt ihm darauf einen Vortrag über die NS-Verbindungen Nannens: Kein Interesse an der Gedankenwelt des Sohns, stattdessen eine politische Belehrung. Daniel studiert jetzt fürs Lehramt.

    "Ich glaube schon, dass der Daniel eigentlich keine Vorstellung davon hat, wie es anders sein könnte. Und das ist schon sehr charakteristisch für die Zeit. Also all das, was in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren als Rebellion, als Aufbegehren, als Aufbruch möglich war und dann eben auch eine Intensität und einen Spaß am Leben ermöglicht hat, ist ja heute eigentlich Teil des Normalbetriebs. Also alles, was man sich Verrücktes oder Anderes ausdenken könnte, ist innerhalb von 14 Tagen eine Werbestrategie von Red Bull. Wenn du kreativ, spontan und schnell leben willst, dann hast du genau das verinnerlicht, was dir als Ich-Unternehmer auf die Sprünge helfen soll. Und insofern gibt es für Daniel kein so richtiges Raus, kein richtiges Hinaus aus den Verhältnissen und bei Fil ist das sicher anders gewesen."

    Daniel ist in eine gesellschaftliche Situation hineingewachsen, in der beinahe alles möglich und kaum etwas von Bedeutung ist. Er geht nur noch selten zur Uni, zieht in die Wohnung des Vaters, begibt sich auf Spurensuche. Er lernt einen Freund Fils kennen, fährt bis nach Rumänien, um mit der Frau zu sprechen, mit der Fil einmal zusammen war, konfrontiert seine Mutter mit der Frage, ob sie es nicht sogar war, die seinen Kontakt zum Vater behindert habe. Fil bleibt bei all dem stumm und ungreifbar.

    Aber aus zweiter Hand, gefiltert durch die Erinnerungen der anderen, nimmt sein Leben Konturen an, werden Vorstellungen eines freiheitlichen Lebens deutlich. Das klingt für Daniel wie von einem fremden Stern. Mit leisen Tönen erzählt Raul Zelik, wie Daniel nicht dem Vater, aber in der Abgrenzung ihm sich selbst Stück um Stück näher kommt, wie er – ohne spektakuläre Ziele – seinem Leben eine eigene Richtung gibt.

    "Daniel verändert sein Leben schon. Das ist unmerklich vielleicht. Er lernt eine Frau kennen, die Beziehung, die er zu ihr bekommt, die Form, wie ihm das plötzlich wichtig ist, die Dinge, worauf er sich plötzlich konzentriert, wie er das wahrnimmt, das ist auf jeden Fall ein Perspektivwechsel. Es ist ja eigentlich ganz klein, was da passiert, aber gerade dadurch wird es ja auch richtiger."

    Raul Zelik: Der Eindringling
    Roman
    Edition Suhrkamp 2012
    289 Seiten, 14,00 Euro