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Die Leidenschaft, die Leiden schafft

Vier Frauen befreien die Werke etablierter Autorinnen aus ihren verstaubten Kokons der Literaturwissenschaft. Sie geben unbekannten, vergessenen oder angeblich ästhetisch minderwertigen Autorinnen eine neue Wertschätzung - mit Leidenschaft.

Von Michaela Schmitz | 21.02.2010
    "Die Frauen sollen in den Gemeindeversammlungen schweigen", heißt es schon in der Bibel. Unzählige Frauen wagten es dennoch bereits vor Jahrtausenden, sich öffentlich zu Wort zu melden oder sogar Kochlöffel gegen Federkiel zu vertauschen, um zu schreiben. Der Spott der Männer war ihnen sicher.

    Noch 1836 beschrieb der Schriftsteller und Publizist Gutzkow seine Kolleginnen als "klatschende Theesippschaft unserer nervenschwachen, schreibenden Damen". Erst seit der Feminismus-Bewegung in den 1970er-Jahren haben weibliche Literaturforscherinnen begonnen, sich den schreibenden Damen ernsthaft zu widmen. Mit großem archäologischem Spürsinn rekonstruierten sie Leben und Werk oft lange vergessener Autorinnen von Sappho bis zur Gegenwart. Viele Schriftstellerinnen rückten so allererst ins Bewusstsein der Literaturwissenschaft. Beim Lesepublikum sind die meisten Namen bis heute nach wie vor unbekannt. Vier renommierte Literaturkritikerinnen wollen das jetzt ändern. Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter stellen in ihrem 650 Seiten starken Buch "Leidenschaften". 99 Autorinnen der Weltliteratur" vor. Etablierte Dichterinnen wie Ingeborg Bachmann oder Annette von Droste-Hülshoff stehen neben kaum bekannten Namen wie Unica Zürn oder Leonora Carrington, schreibende Klosterfrauen wie Hildegard von Bingen neben Kinderbuchschreiberin Astrid Lindgren, Krimi-Legende Agatha Christie oder Trivialautorin Hedwig Courths-Maler. Im Nachwort erklären sie, wie und warum ihr Lesebuch zustande kam:

    Am Anfang dieses Buchs stand die Leidenschaft – die der Autorinnen und unsere. Die Autorinnen: das sind beinahe hundert, aus allen Erdteilen, aus allen Zeiten, mit dem Schwerpunkt der deutschen Sprache im Original. ( ... ) Wir haben ein Lesebuch verfasst, das aus Porträts besteht. Sie erheben nicht den Anspruch auf lexikalische Vollständigkeit; sie ermöglichen einen Zugang, geben ein Bild oder auch eine Skizze und wollen eine Lesart plausibel machen. Wir stellen 99 Autorinnen vor, die uns viel bedeuten und deren Beitrag zur Kultur- und Literaturgeschichte von eminenter Wirksamkeit ist, weil sie wichtige oder gute Bücher geschrieben haben.

    "Leidenschaften": Mit diesem Titel packen die Kritikerinnen den Stier buchstäblich bei den Hörnern. Denn gerade Leidenschaftlichkeit, starke Gefühle und Sentimentalität werden weiblichem Schreiben am häufigsten vorgeworfen. Aber Leidenschaften sind der Motor der Kultur- und Literaturgeschichte. Deshalb haben sich auch Romane wie "Vom Winde verweht" ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Margaret Mitchell, die Erfinderin des Südstaatenepos, gehört für die Kritikerinnen daher ohne Zweifel auf ihre Liste der 99 Autorinnen der Weltliteratur. Mit der prominenten Platzierung von Mitchells formatfüllendem Porträtsfoto auf dem Cover setzen sie außerdem ein Signal: für die Berechtigung unterschiedlichster Leidenschaften für Literatur und für ihre Bewertung jenseits aller geschlechtsspezifischen Vorurteile und literaturwissenschaftlichen Zuordnungen.

    Ihr Anspruch: aus Leben und Werk jeweils die individuelle Leidenschaft herauszulesen, die für jede der 99 Autorinnen zum Antrieb ihres Schreibens wurde. In alphabetischer Folge werden Leben und Werk von wechselnden Kritikerinnen vorgestellt. Jedem vier- bis sechsseitigen Essay folgt eine halbe Seite "Biografisches" mit Lebensdaten und eine Leseempfehlung zur jeweiligen Autorin. Nicht für alle Leidenschaften konnten sich die Kritikerinnen gleichermaßen erwärmen, gesteht Elke Schmitter im Nachwort. Dennoch begegnen sie allen 99 Autorinnen mit Respekt und Wertschätzung. Vier ganz unterschiedliche Porträts stellen wir im nachfolgenden beispielhaft vor.

    Zunächst die 1648 geborene mexikanische Klosterfrau Juana Inés de la Cruz. Sie bewegte eine Leidenschaft, die Frauen in ihrer Zeit nicht zugestanden wurde:

    Ihre Leidenschaft war die Wissbegier. Noch nicht drei Jahre alt, schlich sich die kleine Juana mit ihrer älteren Schwester in die Schule, beschwatzte die Lehrerin und lernte lesen ( ... ). Ein paar Jahre später hörte sie auf, Käse zu essen, weil sie gehört hatte, man werde dumm davon. Sie verfasste ein Singspiel für das Nachbardorf, gewann einen poetischen Wettstreit und damit ihr erstes eigenes Buch. Ihr Großvater öffnete ihr den Zutritt zu seiner Bibliothek. Wahllos verschlang sie alle Bücher, die sie darin fand. Mit acht Jahren lernte sie in kürzester Zeit Latein. Aus Ungeduld über die eigenen langsamen Fortschritte schnitt sie sich ihr schönes dunkelblondes Haar ab, 'denn es schien mir ungehörig, dass ein leerer Kopf so reichen Schmuck tragen sollte'. Ihr Kindertraum war gewesen, sich als Junge zu verkleiden und an der Universität von Mexiko-Stadt zu studieren. Undenkbar im damaligen mexikanischen Vizekönigreich Neuspanien.

    ... so die Kritikerin Gunhild Kübler. Es sollten noch Jahrhunderte vergehen, bevor die erste Frau studieren durfte. Zu Juanas Zeit waren Frauen von der Bildung ausgeschlossen. Ihre einzige Chance: der Eintritt in ein Kloster. Auch Juana führt ihr Wissensdurst dorthin. Hier kann sie ihre Studien weitertreiben und außerdem schreiben:

    Sie schrieb gern und viel – ebenso leicht gereimt wie in Prosa (...). Dramen und zahlreiche geistliche und weltliche Gedichte entstanden. ( ... ) Als Lyrikerin verfügte Sor Juana über ein breites Register von Tönen, von hochsprachlicher Eleganz bis hin zu umgangssprachlichen erotischen Derbheiten, sie konnte im Gedicht feurig und zart, witzig und verspielt, aber auch harsch und bissig sein. Sie riskierte einiges in diesen Liebesgedichten, von denen viele im Palast zirkulierten. ( ... ) Bis heute berühmt, ist ihr Spottgedicht auf einfältige Männer.

    Selbstbewusst fordert sie außerdem "Bildung für alle Frauen". Das ist zu viel – nicht nur für die Kirchenoberen, die Sor Juana mit der Inquisition drohen. Sie wird mundtot gemacht.

    Die Geschichte von Sor Juana zeigt dreierlei im Bezug auf literarische Leidenschaften von Frauen: Die Bedingungen, unter denen Frauen schreiben, sind andere als die ihrer männlichen Kollegen. Schreibende Frauen stoßen in der Vergangenheit oft auf erbitterten Widerstand der Männer. Und schließlich: Um schreiben zu können, brauchten Frauen über die Zeiten hinweg große Beharrlichkeit und außerordentlich viel Mut. Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Verena Auffermann thematisieren diese besonderen weiblichen Schreibbedingungen – unverkrampft und ohne in feministische Schablonen zu verfallen. Alle Kritikerinnen geben dem historischen, gesellschaftlichen und biografischen Hintergrund der Schriftstellerinnen in ihren Essays bewusst viel Raum. Ihr Interesse gilt der Literatur und dem "Dahinter" – ohne dabei Person und Werk miteinander zu verwechseln, wie es bei charismatischen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann gerne gemacht wird. Gunhild Küblers Essay ist noch in anderer Hinsicht beispielhaft für die Herangehensweise der Kritikerinnen. Küblers Markierung von Juanas Wissbegier entlang kindlicher Verrücktheiten wie der "Käse-Diät gegen Dummheit" ist typisch für ihre "Literatur über die Hintertreppe". Die vier Kritikerinnen nähern sich den Dichterinnen meist über ungewohnte Zugänge oder Nebenschauplätze und entdecken dabei überraschende Blickwinkel und Lesarten. Das macht die Lektüre anschaulich, einprägsam und außerordentlich unterhaltsam. Blenden wir in ein weiteres Autorinnen-Porträt.

    Nicht Wissensdurst, sondern eine andere Passion trieb Simone de Beauvoir zum Schreiben. Das Bedürfnis, die erste zu sein, sei ihre große Leidenschaft gewesen, vermutet Kritikerin Ursula März. Anhand einer Kinderfotografie entwickelt sie ihre These von Beauvoirs "Arithmetik des Vorsprungs". Ursula März vermutet, schon:

    ( ... ) im Alter von zweieinhalb erahnte die Kleine ein paar Lebensmotive und Lebensregeln, denen sie für immer treu bleiben sollte. Das Ereignis, mit dem der kindliche Bewusstseinsschub in Simone de Beauvoirs Erinnerung zusammenfällt, ist ein Kostümfest im Jahr 1910. Das auffallend schöne Mädchen mit den schwarzen Haaren und dunklen Augen ist als Rotkäppchen verkleidet. ( ... ) Auf dem Bild befinden sich indes noch ( ... ) Simone de Beauvoirs Mutter und ein Säugling, den die Mutter zärtlich im Arm hält, die kurz zuvor geborene Schwester Hélène. ( ... ) 'Ich war', schreibt Beauvoir in den Memoiren, 'eifersüchtig, aber nur kurze Zeit.' ( ... ) 'Soweit ich mich zurückerinnern kann, war ich stolz darauf, die Ältere, die Erste zu sein ... Ich fühlte mich interessanter als ein auf seine Wiege beschränkter Säugling. Ich hatte eine kleine Schwester. Aber das Baby hatte mich nicht.'

    Im zarten Alter von zwei Jahren also habe Beauvoir bereits ihre persönliche "Bewältigungstechnik der Eifersucht" entwickelt, interpretiert Ursula März. Eifersucht sei ein Schlüsselthema im gesamten literarischen Werk der französischen Philosophin und Schriftstellerin, die in die Literaturgeschichte als Ikone freien weiblichen Denkens und Lebens einging und als Urmodell der modernen Intellektuellen schlechthin gelte. Um nichts anderes, meint März, gehe es im thematischen Kern des Romans "Sie kam und blieb" aus dem Jahr 1943, der Beauvoir berühmt gemacht habe. Ihr ganzes Leben, geprägt vom antibürgerlichen Liebespakt mit Jean-Paul Sartre, sei von der Bewältigung der Eifersucht durch ihre "Arithmetik des Vorsprungs" bestimmt. Mit ihrem epochemachenden Hauptwerk "Das andere Geschlecht" habe sich 1949 ihr Ehrgeiz, die Erste zu sein, erfüllt. Heute gehörten ihre radikalen Gedanken über Frausein, Weiblichkeit und Emanzipation zum Standardwerk des Feminismus. Doch damals sei Beauvoir ihrer Zeit aufs Provokanteste vorausgewesen. Häufig werde übersehen, wie die politische Lage für Frauen tatsächlich aussah:

    Dass das Frauenwahlrecht in Frankreich erst im Oktober 1944 eingeführt worden war und Ehefrauen noch weit davon entfernt waren, sich ohne Zustimmung ihres Mannes ein eigenes Bankkonto zulegen oder einen Arbeitsvertrag unterschreiben zu dürfen. Simone de Beauvoir veröffentlichte 'Das andere Geschlecht' in einer Zeit und in einem Land, in dem noch wenige Jahre zuvor die Anwendung von Verhütungsmitteln verboten war.

    Mit den geschlechtsspezifischen Einschränkungen der Generation Simone de Beauvoirs musste die 2009 gestorbene zeitgenössische Autorin Inger Christensen nicht mehr kämpfen. Sie konnte ungehindert einige Semester Medizin, Chemie und Mathematik studieren – obwohl in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Studienfächern Frauen nach wie vor in der Minderheit sind. Die Dänin Christensen trieb eine Leidenschaft zum Schreiben, die Frauen auch heute noch äußerst selten zugesprochen wird: die Leidenschaft für Logik und Mathematik. Kritikerin Verena Auffermann geht Christensens Passion in ihrem Essay "Ordnung ist das halbe Dichten" nach.

    Die Mathe-Spezialistin unter den Gegenwartsdichtern unterwarf alles einem Zahlenprinzip. Der biblischen Zahl 7, der Zahlenfolge des um 1180 in Pisa geborenen Rechenmeisters Fibonacci. Jede Zahl ist bei der nach Fibonacci benannten Reihung die Summe der beiden vorangegangenen.

    Wenn Auffermann dabei Christensens poetische Zahlen-Magie mit dem Zauber einer Circe vergleicht, meint man, selbst die komplizierteste lyrische Rechenformel zu verstehen. Verena Auffermann beschreibt die Dänin mit dem Aussehen einer abgearbeiteten Hausfrau als stille Beobachterin. Auch in Auffermanns Essay finden wir wieder die Annäherung an Autorin und Werk "über die Hintertreppe". Im Eingangsbild führt sie den Leser in Christensens Haus, in dem sie zurückgezogen mit einer Katze lebt. Vier Wochen habe die Dichterin Tag für Tag im Esszimmer gesessen, und die Katze habe sich quer auf das Bett im Schlafzimmer gelegt und gewartet, bis endlich das erste Wort des Romans "Azorno" auf dem leeren Papier gestanden habe. Alles sei vorher genau durchdacht, so Auffermann. Dem dichterischen Zufall gebe die Autorin keine Chance. Die persönliche Arithmetik ihrer Poesie beschreibt Auffermann geschickt im Zusammenspiel von Erscheinung und Herkunft:

    Inger Christensen versteckte die Unerbittlichkeit ihres Denkens hinter großen Brillengläsern, einem milden Lächeln und einem dunkelblauen Konfektionskostüm. Sie hatte sich geschworen, die Sprache nicht dem Spiel der Zufälligkeit zu überlassen, und benutzte Modelle, wie sie aus der Musik und Mathematik bekannt sind. ( ... ) Ordnung, sagte sie, ist das halbe Dichten. ( ... ) Sprachbilder löste sie durch Denkschocks aus. Inger Christensen war vielleicht die einzige Dichterin, die kompromisslos Logik mit Sprache und Poesie verband. Und dort, wo sie als Kind einer Schneiderfamilie aufgewachsen ist, im Arbeiterviertel der ostjütländischen Stadt Vejle, ist die Sprache langsam und träge, als hätte die nordische Dunkelheit die Münder der Menschen gelähmt.

    Auffermanns ausgefeilte Porträt-Technik zeigt, dass der feuilletonistische Zugang der Kritikerinnen quasi "über den Nebeneingang" durchweg zu überzeugen vermag: auch bei Autorinnen ohne extravagante Lebensgeschichten und solchen, die weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen.
    Während Inger Christensen ihrer für Autorinnen seltenen Passion für Zahlen nachging, verschrieb sich eine beeindruckende Zahl ihrer Kolleginnen der Leidenschaft für soziale und politische Gerechtigkeit – so legt es jedenfalls das Lesebuch nahe. Die 1785 geborene Bettine von Arnim nimmt in dieser erstaunlich großen Gruppe eine Vorreiterrolle ein. Elke Schmitter erzählt ein Schlüsselerlebnis des jungen Mädchens, das heute unglaublich klingt:

    Vier Jahre hat sie sich selbst nicht gesehen. Mit neun Jahren, als ihre Mutter starb, wurde sie in ein Kloster nach Fritzlar bei Kassel gebracht, in dem es keine Spiegel gab. Nun, als auch der Vater gestorben ist, soll sie bei der Großmutter leben. In deren Haus in Offenbach erlebt sie die Überraschung, sich selbst zusammen mit zwei Schwestern und der Großmutter im Spiegel zu erblicken. 'Ich erkannte alle', schreibt sie in ihrem Tagebuch, 'aber die eine nicht, mit feurigen Augen, glühenden Wangen, mit schwarzem, feingekräuseltem Haar ( ... ). So nahm sie von sich selbst Besitz. Sie war begeistert von sich ( ... ) und spürte, ( ... ) sie war ( ... ) "zum Weltumwälzen geboren".

    20 Jahre Ehe mit Achim von Arnim lagen hinter ihr, sie hatte sieben Kinder großgezogen, als sie sich 1835 entschließt, nach Berlin zu ziehen, berichtet Elke Schmitter. Im biedermeierlichen Deutschland, vor und nach der gescheiterten 48er-Revolution nutzte die frühe Menschenrechtsaktivistin ihre Bildung, ihre ungeduldige Zähigkeit und ihr überraschendes Talent für inhaftierte Revolutionäre, vertriebene Demokraten, für Arme, Diskriminierte, Cholerakranke, Wahnsinnige und hungernde Weber. Und sie schreibt ...

    ( ... ) was Herz und Verstand ihr gebieten: Dass es unmenschlich sei, dem Verbrecher nicht zu vergeben. Dass die Politiker satt und verkommen sind, der Adel nichts mehr 'als nur mürbe verloderte Lumpen'. Dass die Religionen einander ebenbürtig sind, was die Menschlichkeit anbelangt, und dass es im Staatswesen um materielle Chancengleichheit geht: 'Ihr wollt den Armen an den Boden fesseln seiner Geburt. Kann er da säen und ernten?' Sie geht in die Proletarierhäuser – nicht nur, um zu helfen, sondern auch, um zu recherchieren. Sie rechnet Miete und Heizkosten nach, zählt unterernährte Kinder, hält Lebensläufe des Elends dem Publikum vor. ( ... ) Damit das Werk nicht verboten werden kann, gibt sie der mehrhundertseitigen Komposition aus sokratischen Gesprächen, Erzählungen und Sozialprotokollen, die 1841 erscheint, den Titel 'Dies Buch gehört dem König'.

    Die späte, die politische Bettine, bedauert Elke Schmitter, sei bis heute ein abseitiger Fall – im Gegensatz zur Romantikerin, die ein Lieblingskind der Forschung ist. Auch das ist ein Muster der Essays in diesem Buch: Die erfolgreichen Versuche der Kritikerinnen, Autorinnen und ihre Werke gegen den Strich zu lesen. Wie Schmitter bei Bettine von Arnim fördern sie dabei nicht nur erstaunliche Lesarten zutage, sondern entdecken überraschende Verbindungen unter den Autorinnen. Am Schluss ihres Essays zitiert Schmitter ein Gedicht von Sarah Kirsch, in dem sich die damals in der DDR lebende Lyrikerin mit ihren Erfahrungen von Einsamkeit und Zensur in Bettines Königsbuch wiederfindet.

    Vielleicht ist das das wichtigste Verdienst des gemeinsam erstellten Lesebuchs: Mit ihren Essays wollen die vier Kritikerinnen sich und den Lesern einen neuen "leidenschaftlichen" Zugang zu den Autorinnen und ihren Werken erschreiben.

    Ihre Präsentation 99 persönlicher Leidenschaften zum Schreiben leistet Beachtliches. Sie befreien die Werke etablierter Autorinnen aus ihren verstaubten Kokons der Literaturwissenschaft. Sie geben unbekannten, vergessenen oder angeblich ästhetisch minderwertigen Autorinnen eine neue Wertschätzung. Sie entwickeln nicht nur die erstaunlichsten Lesarten, sondern ziehen auch unerwartete Verbindungslinien zwischen Autorinnen quer durch die Jahrhunderte. Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter entdecken hinter jeder schreibenden Frau und hinter jedem Werk eine Leidenschaft. Grund genug, sie ernst zu nehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Schließlich stellt man bei der Lektüre sehr schnell fest, dass all die Leidenschaften, die Autorinnen zum Schreiben veranlassen, mindestens so vielfältig sind wie die ihrer männlichen Kollegen. Allein dafür hat sich die Sisyphos-Arbeit der vier Kritikerinnen gelohnt. Auch wenn vermutet werden darf, dass die Frauen mit dieser Erkenntnis wieder einmal für sich bleiben – ein Buch von Frauen über Frauen wird nach wie vor höchstwahrscheinlich überwiegend von Frauen gelesen.

    Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter:
    Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. C. Bertelsmann 2009. 640 Seiten, 24,95 Euro cc