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Die Liebe bleibt

Der neue Roman des in Rom und London lebenden Autors Mario Fortunato endet dort, wo sein letztes Buch begann: Mit der Erzählung einer Kindheit im Kalabrien der frühen 60er Jahre. Während aber das letzte Buch neben der Entdeckung der Liebe die der Literatur behandelte - und im traditionell leseschwachen Süden Italiens, wo es bis heute zwischen Neapel und Messina keine einzige Buchhandlung gibt, muss die Entdeckung der Literatur automatisch zu einer Passion werden - gilt die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers im neuen Roman Fortunatos der Entdeckung seiner homoerotischen Liebe unter den Vorzeichen einer geheimnisvollen Familiengeschichte. Genauer gesagt: unter den Vorzeichen eines Verbrechens am Anfang. Dieser Anfang liegt in den 20er Jahren.

Jan Koneffke | 24.02.2003
    So beginnt der Roman im nüchternen Stil des Chronisten, der vom rätselhaften Mord an einem Mann namens Italo Blasi berichtet: "Wenige Monate zuvor war er zum Amtsarzt von C. ernannt worden. Er ist 29 Jahre alt, kommt aus Rom, doch für die Bewohner des Ortes C. erinnert sein fremder Tonfall irgendwie ganz allgemein an den Norden." In knappen Sätzen entwirft Fortunato das reizvolle Porträt einer Kleinstadt des mezzogiorno vor mehr als siebzig Jahren, seiner Machtverhältnisse und Gewohnheiten, seiner wirtschaftlichen Bedingungen bis hin zu den klimatischen Verhältnissen. Er hält kleine Details bereit, die bezaubern - etwa wenn einer der Protagonisten lieber in eine Zitrone beißt, als sich seine Zähne mit Natron zu putzen - und läßt seine Erzählung mit Leichtigkeit zu den Großeltern des Ich-Erzählers herüberspielen, deren Liebe zerbricht, als Lea Sciaki den jungen Amtsarzt Italo Blasi kennenlernt. Daß der das Opfer eines Mordes aus Eifersucht wird, mag der Leser bald ahnen - vollkommene Sicherheit hat er nicht. Zumal der erste Teil des Romans mit dem Freispruch des angeklagten Ehemanns Elia Sciaki endet.

    Zum Authentizität verbürgenden Chronistenton des ersten Teils von Die Liebe bleibt sagt Fortunato:

    Genau das hat mich fasziniert: Eine Fälschung anzufertigen, eine historische Fälschung. Eine erfundene Geschichte so zu erzählen, als sei sie historisch verbürgt. Im Grunde macht die Literatur das ja immer ein bisschen, dies und gleichzeitig das Gegenteil, entweder falsifiziert sie die Wahrheit oder verifiziert die Fälschung; in der Mitte verharren kann sie nicht.

    Der Leser, der sich nun vom zweiten oder dritten Teil des Romans vollständige Aufklärung über das Verbrechen am Anfang erhoffen mag, wird bald eines Besseren belehrt. Im zweiten Teil sieht er sich mit einem Tagebuch konfrontiert, das die jüngste Tochter der Sciakis - deren Vater vermutlich in Wahrheit der ermordete Blasi ist - bei einem Landaufenthalt im Sommer, Anfang der 50er Jahre, führt, ergänzt durch Kommentare des Ich-Erzählers, der sich für seine Rekonstruktion des Geschehens und der Gefühle einer vergangenen Zeit bei alten Fotos bedient. Im Tagebuch deutet die Tochter Anna ihre zarte und heimliche Liebe zum Schwager Alfredo an und beobachtet die sich anspinnende Beziehung zwischen Ida und Dino. Nur noch am Rande ist vom Verbrechen des Anfangs die Rede, nämlich da, wo der Erzähler auf seine katastrophalen Folgen für die Ehe der Großeltern Sciaki anspielt: "Er würde gerne mit seiner Frau abreisen, so wie vor vielen Jahren...Doch Lea geht nicht weg, seit Jahren geht sie nicht weg...Verbarrikadiert im Haus, im Halbdunkel der langen Sommernachmittage, geht Elia ruhelos hin und her, und Lea...versucht zu schlafen."

    Auch im dritten Teil, in der Erzählung aus erinnerter Kinderperspektive, liegt das Verbrechen nur noch wie ein dunkler Schleier über der Gegenwart, die ganz andere Verbrechen bereit hält: "Etwas anderes, an das ich mich erinnere, geschah im November...In Dallas in den Vereinigten wurde Präsident Kennedy ermordet."

    Fortunatos Roman ist komplex konstruiert, und wird durch seine verschiedenen Stimmen und Perspektiven lebendig. Dabei folgt das moderne Bauprinzip von "Die Liebe bleibt", verblüffenderweise, vor allem der Kulturtradition Italiens und des mezzogiorno.

    Der italienischen Kultur, warum: Weil es in der literarischen Tradition Italiens den Roman in Wirklichkeit gar nicht gibt; es gibt hingegen die Erzählung. Und es liegt auf der Hand, daß mir die Erzählung leichter fällt, das heißt, eine kurze Geschichte zu erzählen, mit einer starken Perspektive, in einer stark begrenzten Einheit. Der Roman ist nichts anderes als die Montage dieser Erzählungen. Ich glaube, das ist wichtiger Punkt in der italienischen Tradition, daß die Erzählung stärker ist als der Roman, seit Boccaccio hat die Erzählung eine ununterbrochene Tradition. Aber aber es gibt auch den Einfluß des Südens, denn im Süden gibt es die Tradition des Mosaiks. Das Mosaik besteht ja aus vielen kleinen Stücken die sich zu einem einzigen Gesamtbild formen. Ganz offensichtlich gehöre ich zu dieser Tradition.

    Tatsächlich fügen sich die Erzählungen aus drei verschiedenen Jahrzehnten, die Geschichten dreier Generationen in jeweils anderer Tonlage zu einem Ganzen zusammen. Was den Roman aber zu einem Ganzen macht, das ist seine geheime Handlung. Wenn der Leser bis zum Schluss erhoffte, die Wahrheit über das Verbrechen in den 20er Jahren zu erfahren, mag er enttäuscht sein. Und gleichzeitig wird ihn das Gefühl beschleichen, er habe ein Buch gelesen, das etwas anderes sagt. Für diese Lektüreerfahrung findet Fortunta ein schönes Bild in den letzten Passagen des ersten Teils. Dort sieht der Amtsrichter Sculco, der dem Prozess gegen Elia Sciaki vorsitzt, zwei Mädchen, die von innen auf eine beschlagene Fensterscheibe mehrere Wörter schreiben, die er nur umgekehrt lesen kann. Umgekehrt - oder spiegelverkehrt - gelesen, erzählt Fortunatos Roman aber die Geschichte einer Schuld, die nicht vergehen will.

    Ja, richtig, im Grunde ist das Thema dieses Buches die Schuld, es gibt eine Art von Ursprungsdelikt wie in den Religionen, einen Toten am Anfang, und von dieser Anfangsschuld leiten sich andere schuldhafte Taten ab, oder zumindest werden sie von der Allgemeinheit als solche betrachtet, denn eigentlich handelt es sich nicht um eine neue Schuld, sondern einfach um andere Formen der Beziehung, der Liebe usw. Auf dieselbe Weise stürzt die Anfangsschuld auf alles andere wie ein Wasserfall herab und deshalb muss auch eine Figur wie der Ich-Erzähler, der nichts mit dem Verbrechen zu tun hat, ja der nicht einmal etwas von ihm weiß, weil man in der Familie dazu neigt, nicht über es zu sprechen und so ein Familientabu schafft, muss also auch eine Figur wie der Ich-Erzähler zwei Generationen später sich trotzdem noch mit dieser Schuld auseinandersetzen.

    Die Schuld, das ist die negative Seite der geheimen Handlung. Als Schuld empfunden wird aber die verbotene und verurteilte Liebe. Und diese Liebe, so will es das melancholische Ende des Romans, erweist sich als stärker denn die Schuld. Auf der letzten Seite von Die Liebe bleibt geht der Ich-Erzähler noch einmal auf das Verbrechen am Anfang ein, und hier reflektiert sich auch Fortunatos Roman ein letztes Mal - und zwar auf versöhnliche Weise: "Damals war es, daß ich das das Wenige erfuhr, das ich über das Leben und den Tod von Italo Blasi und über meine eigene Existenz weiß. Es handelte sich weder um große Wahrheiten noch um große Geschichten. Im Gegenteil, alles war dürftig und zerstückelt, doch endlich erhielten meine Fragen eine Antwort. Die Vergangenheit konnte ruhen.