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Die Liebeserklärung eines Stummfilms an die Traumfabrik

Nach 83 Jahren könnte mit "The Artist" erstmals wieder ein Stummfilm mit dem Oscar ausgezeichnet werden. Neben diesem Publikumsliebling hat Markus Schleinzer den Acionthriller "Drive" und den mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichneten Film "Michael" gesehen.

Von Markus Schleinzer | 25.01.2012
    Der Held in großer Gefahr. Wird ihm die Flucht gelingen? Der Abenteuerfilm "A Russian Affair", der 1927 seine Premiere feiert, steuert auf den Höhepunkt zu. Das Publikum fiebert mit Hauptdarsteller und Hollywood-Superstar George Valentin mit, während das Orchester den Film live mit Musik untermalt. Als in dicken Lettern die Worte The End auf der Leinwand prangen, brandet Applaus auf. Doch zu hören ist nichts. Keine klatschenden Hände, keine Jubelrufe. Denn bei "The Artist" ist nicht nur der Film im Film stumm. Nach wenigen Sekunden der Stille setzt erneut Musik ein. George Valentin betritt die Bühne und lässt sich vom Publikum feiern. Seinen Ruhm teilt der eitle Darsteller allenfalls mit Terrier Jack, der seinem Herrchen vor und hinter der Kamera treu ergeben ist.

    "The Artist" handelt vom größten Stummfilmstar der 1920er-Jahre. Und der Film erzählt diese Geschichte so, als sei auch er in einer Zeit entstanden, als es noch keine Tonspur gab. George Valentin ist zwar ein fiktiver Charakter, aber eventuelle Ähnlichkeiten mit den damaligen Stars Douglas Fairbanks, Rudolph Valentino oder Ramón Novarro sind beabsichtigt.

    Valentins Karriere befindet sich auf ihrem Höhepunkt, als eine technische Revolution das Kino erneuert: Die Erfindung des Tons. Anfangs noch belächelt wird sie Valentin zum Verhängnis. Das Publikum verlange jetzt nach neuen Gesichtern, hört der Star von den Studiobossen. Und während sein Stern im Sinken begriffen ist, geht der von Peppy Miller auf. Die junge Schauspielerin verdankt ihre Karriere George Valentin. Peppy wird die Einzige sein, die ihn nicht - wie alle Anderen - fallen lässt. Doch der einstige Leinwandliebling - mittlerweile arbeitslos, bankrott und von seiner Frau verlassen - vergräbt sich in seinem Schmerz und denkt sogar an Selbstmord. Die launige Komödie wird zum Melodram.

    "The Artist" - nur eine grandiose Zitatensammlung, nicht mehr als bloße Nachahmung, nur ein Parforceritt durch die goldene Ära Hollywoods? Schließlich weckt jede Sekunde in Michael Hazanavicius' Hommage Erinnerungen an eine vergangene Kinoära: An Murnau, Lubitsch und Wilder, an Filme aus der Zeit des Stummfilms, aber auch an spätere Klassiker wie "Citizen Kane", "Boulevard der Dämmerung" und "Singin' in the Rain" Doch die zahllosen Zitate machen aus "The Artist" eine Liebeserklärung an die Traumfabrik und einen grandiosen Film über das Kino mit den beiden wunderbaren Hauptdarstellern Jean Dujardin und Bérénice Bejo.

    "The Artist" von Michel Hazanavicius - herausragend!

    "Sie nennen mir Zeitpunkt und Ort, ich gebe Ihnen ein Zeitfenster von fünf Minuten. ... Bei allem, was auch nur eine Minute davor oder danach passiert, sind Sie auf sich gestellt. ... "

    So lauten die Regeln von Driver. Der von Ryan Gosling gespielte Mann ohne Namen verdient sein Geld mit Autofahren. Tagsüber arbeitet er als Stuntman für Filmproduktionen, nachts lässt er sich von Einbrechern als Fahrer des Fluchtfahrzeugs engagieren. Ein wortkarger Einzelgänger, der seine Arbeit so verrichtet, wie es einst Clint Eastwood als Kopfgeldjäger im Western "Zwei glorreiche Halunken" getan hat.

    Ein Western ist auch "Drive". Ein Großstadtwestern mit Los Angeles als Schauplatz. Leben und Sterben in L.A.. Und gestorben wird noch viel und unappetitlich in diesem gradlinigen Actionthriller mit Anklängen an Tarantino, Lynch und an den Film noir. Denn der namenlose Fahrer hat mit einem seiner Grundsätze gebrochen und sich mit seiner Nachbarin Irene und ihrem kleinen Sohn angefreundet. Als er erfährt, dass Irenes Ehemann der Mafia Geld schuldet und die Familie in akuter Gefahr schwebt, erwacht ein Gefühl der Verantwortung in ihm. "Drive" ist kühl und kühn inszeniertes Gewaltkino, das die Jury der Filmfestspiele in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet hat.

    "Drive" von Nicolas Winding Refn - empfehlenswert!

    " ... Na komm! ... Jetzt komm! ... "

    Aus dem Dunkel eines Raums tritt ein kleiner Junge. Kurz vorher hat Michael die mit einem Sicherheitsschloss verriegelte Tür im Keller seines Hauses geöffnet. Dort hält der Versicherungskaufmann seit mehreren Monaten den zehnjährigen Wolfgang gefangen. "Michael" - das Regiedebüt des Wieners Markus Schleinzer - zeigt den Alltag eines Pädophilen, der ein Kind entführt hat und es missbraucht. Der Fall der Natascha Kampusch ist hier allgegenwärtig. Gerade weil der Regisseur auf eine explizite Darstellung der sexuellen Handlungen verzichtet und nüchtern-distanziert das Geschehen abbildet, sorgt er für beklemmende Momente. Dabei ist die Normalität und Selbstverständlichkeit, mit der sich Michael sein Leben hinter der bürgerlichen Fassade eingerichtet hat, das eigentlich Erschreckende. Ein harter, verstörender und kompromissloser Film.

    "Michael" von Markus Schleinzer - empfehlenswert!