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Die Lissabonner und ihr Vertrag

Lissabon ist zum Schlagwort geworden für einen zähen Reformprozess der EU. Doch wie denken die Lissabonner über das Vertragswerk, das ihren Namen trägt?

Von Tilo Wagner | 01.12.2009
    Im kleinen Lebensmittelladen unten am Tejo riecht es nach salzigem Trockenfisch, eine dicke Aromawolke füllt den Raum. Rui Beto verkauft hier seit 15 Jahren Bacalhau – in Salz und Sonne getrockneten Stockfisch. Der Preis für die portugiesische Spezialität hängt nicht zuletzt von den Fischfangquoten für den Kabeljau ab, die in Brüssel und Straßburg ausgehandelt werden. Dass der Lissabonner Vertrag jetzt dem Europaparlament mehr Mitbestimmungsrechte auch in Agrar- und Fischereifragen einräumt, findet Rui Beto gut, glaubt aber nicht, dass die portugiesischen Abgeordneten Grundlegendes verändern können:

    "Vielleicht haben unsere Interessen ein bisschen mehr Gewicht. Aber ich habe meine Zweifel. Unsere Landwirtschaft liegt brach. Das konnten die bisher auch nicht verhindern. Mal sehen, ob das mit dem Fischfang ab jetzt wirklich anders wird."

    Der Vertrag von Lissabon tritt nun offiziell in Kraft. Damit findet ein jahrelanges Reformprojekt seinen Abschluss, aus dem ursprünglich einmal eine bürgernahe EU-Verfassung entstehen sollte. Während der portugiesischen Ratspräsidentschaft vor zwei Jahren hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon eine Kompromisslösung unterzeichnet. Dass der Grundstein für Europas institutionelle Reformen ausgerechnet im Hieronymuskloster nach Lissabon gelegt wurde, an dem Ort, an dem Portugals größter Seefahrer begraben liegen, hat für das Land hohe Symbolkraft. Geschichtsprofessor António Costa Pinto, der auch am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz tätig ist, erklärt den historischen Zusammenhang:

    "Portugal hat in seiner Geschichte – abgesehen von zwei Ausnahmen im 19. Jahrhundert – ausschließlich Verträge geschlossen, die sein Überseereich betrafen, zum Beispiel mit England. Diese Verträge waren immer auf den Atlantik bezogen. Der zeitgenössische Lissabonner Vertrag ist Ausdruck dafür, dass sich Portugal jetzt als ein kleines Land im Inneren Europas versteht."

    Auf den Straßen Lissabons ist von einer Zeitenwende, die dieser erste Dezember in Europa rein vertragsrechtlich betrachtet begründet, wenig zu spüren.

    Das Antiquariat im Herzen der Altstadt von Lissabon ist so alt wie die Ideen der großen Europäer. Im Jahr 1948 wurde es gegründet, als Winston Churchill in Zürich bereits die Notwendigkeit eines vereinten Europa postulierte. Aber so recht "historisch" ist dem Buchhändler José Ferreira nicht zumute, wenn er nun an den Vertrag denkt, der den Namen seiner Stadt trägt. Ferreira schaut skeptisch über seine Lesebrille, als er das Wort "Lissabonner Vertrag" hört:

    "Es gab keine Informationskampagne. Die Portugiesen wissen nicht, was der Lissabonner Vertrag ist. Sie haben den Namen vielleicht mal in den Nachrichten gehört, aber sie kennen weder den Inhalt des Vertrages, noch Paragrafen oder Normen. Es ist alles sehr unklar."

    Ganz in der Nähe des Antiquariats in der Altstadt von Lissabon hat ein Laden seine Pforten geöffnet, der T-Shirts mit dem Schriftzug Lissabon verkauft – entworfen von jungen Künstlern der Stadt. Inhaberin Graça Vieira hofft, dass ihr Geschäft von der Popularität Lissabons ein wenig profitieren kann, jetzt da der Name mit dem Vertragstext der Europäer in aller Munde sei. Worum genau es in dem Regelwerk geht, weiß sie deshalb aber noch lange nicht:

    "Um ehrlich zu sein, alles, was von der EU kommt, nehmen wir einfach hin. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber wir werden vor vollendete Tatsachen gestellt."

    Portugal steckt in der Krise und EU-Reformen haben in solchen Krisenzeiten keine Priorität. Die Arbeitslosigkeit erreicht nahezu zweistellige Werte, das Staatsdefizit liegt bei acht Prozent und jüngste Aussagen des portugiesischen Nationalbankpräsidenten haben die Diskussion um Steuererhöhungen angeheizt. Der Zeithistoriker Costa Pinto meint, dass die Menschen in Lissabon gerade jetzt, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, ihr Verhältnis zu Europa differenziert sähen:

    "Die Portugiesen pflegen gegenüber der EU eine positive, aber sehr pragmatische Beziehung, die eng an die Erwartung sich stetig verbessernder Lebensbedingungen geknüpft ist. Deshalb sind sie gerade jetzt skeptischer geworden. Der Lissabonner Vertrag ist für Portugals politische, soziale und kulturelle Eliten eine Realität, nicht aber für große Teile der Bevölkerung."