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Die Lust am Widerlichen

Was für ein verstörendes Meisterwerk! Die literarische Fachwelt hat lange gerätselt, wer hinter dem Pseudonym M. Agejew steckt. Zunächst dachten alle an den russischen Literaturstar Vladimir Nabokov. Die Entdeckung des wahren Autors Anfang der 90er-Jahre war dann eine echte Sensation - wie auch sein "Roman mit Kokain".

Von Gisa Funck | 20.11.2012
    Lydia Chweitzer heißt die französische Übersetzerin, die der literarischen Öffentlichkeit Anfang der 80er-Jahre eine echte Sensation bescherte. Chweitzer fand nämlich an einem Bouquinisten-Stand in Paris einen alten Lieblingsroman ihrer Jugend mit dem furiosen Titel "Roman mit Kokain". Ein Buch, das 1936 in einem kleinen russischen Exilverlag erschienen war, dann aber schnell wieder vergessen wurde.

    Chweitzer übersetzte den "Roman mit Kokai" nun erstmals ins Französische, der Belfond Verlag brachte ihn 1983 neu heraus, mit grandiosem Erfolg. Die Kritiker sprachen von einem verschollenen Meisterwerk, der "Roman mit Kokain" wurde zum Überraschungsbestseller. Blieb nur die Frage, wer eigentlich hinter dem geheimnisvollen Pseudonym M. Agejew steckte, der als Autor angegeben war. Darüber wurde in Fachkreisen viel spekuliert. Doch schon bald schlossen sich viele Experten der These des Pariser Slawistikprofessors Nikita Struve an, dass so einen funkelnd bösen Drogenroman nur der Meistererzähler Vladimir Nabokov geschrieben haben könnte, der auch sonst gern Versteckspiel mit Pseudonymen trieb. Und auch wenn Nabokovs Witwe Vera das immer wieder heftig bestritt: Der "Roman mit Kokain" wurde trotzdem jahrelang dem russischen Literaturstar zugerechnet, bis nach dem Zusammenbruch der UDSSR Anfang der Neunziger Jahre endlich zwei Moskauer Bibliothekare den literarischen XY-Fall lösten.

    Demnach gilt es heute als erwiesen, dass es tatsächlich nicht Nabokov war, sondern der literarisch völlig unbekannte, russische Übersetzer Mark Levi, der den "Roman mit Kokain" geschrieben hat. Ein Autor, der fast genauso schillernd geheimnisvoll wirkt wie sein untergangssüchtiger Romanheld Wadim Maslennikow. Gerade ist Roman mit Kokain nun erstmals in neuer deutscher Übersetzung direkt aus dem Russischen im Manesse Verlag erschienen. Unsere Kritikerin ist Gisa Funck:

    Geben wir es ruhig zu: Wir lieben den glorreich scheiternden Helden. Den Verlierer mit Stil. Schließlich: Gewinnen und Glück haben kann jeder. Aber grandios zugrunde gehen? Womöglich noch selbst verschuldet, weil man eigentlich alle Trümpfe in der Hand hatte? Nein, das kriegen nur die Besten hin. Und genau das macht den Charme vieler großer russischer Romanhelden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus. In der russischen Literatur sind die rätselhaft selbst zerstörerischen Erfolgsmelancholiker sogar so häufig vertreten, dass es für sie eine eigene Fachbezeichnung gibt. Man nennt sie: lischnij tschelowek – "überflüssige Menschen", weil diese Helden tatsächlich ein besonders ausgeprägtes Talent zum Unglücklichsein besitzen. Das fängt mit Puschkins Müßiggänger Eugen Onegin an. Geht bei Lermontows gelangweiltem Dandy-Offizier Petschorin weiter. Und hört bei Gontscharows träge vor sich hinträumendem Oblomow noch lange nicht auf. Letzterer hat es als "Oblomow-Syndrom" gar in die Handbücher der Psychopathologie geschafft.

    Auch Wadim Maslennikow, den jungen Ich-Erzähler aus "Roman mit Kokain", kann man in diese Reihe faszinierender Glücksvermeider einordnen. Denn wie der Titel es bereits sagt, ist auch Wadims Geschichte die Chronik eines selbst verschuldeten und völlig unnötigen Verderbens. Hat der Moskauer Gymnasiast und spätere Jurastudent doch eigentlich beste Voraussetzungen, um ein bürgerlich erfolgreiches Leben zu führen.

    Wadim kommt als Sohn einer alleinerziehenden Mutter zwar nicht aus reichen Verhältnissen wie seine Vorgänger Onegin, Petschorin und Oblomow. Doch genau wie jene ist er jung, intelligent und charmant. Und darüber hinaus auch noch so attraktiv, dass ihm schon als Fünfzehnjähriger der Ruf eines Mädchenschwarms vorauseilt.

    Kurzum: Wadim ist eigentlich ein vom Schicksal begünstigter Zeitgenosse, hätte er nicht den typisch russischen Heldenspleen, sich gerade die schönsten Momente selbst kaputtzumachen. Ähnlich wie für seinen Vorgänger Petschorin ist auch für ihn der Kick des Neuen schnell verbraucht. Weswegen er seine Verführerqualitäten bevorzugt dazu nutzt, die Verführten mit sich in den Abgrund zu reißen. Sein allererster Flirt wird zum destruktiv-erotischen Initiationserlebnis. Als Wadim gleich zu Anfang des Romans die junge Sinotschka kennenlernt, überredet er sie begeistert zu einer Schlittenfahrt, verliert dann aber rasch das Interesse an ihr:

    "Ich fühle mich wundervoll", sagte Sinotschka. "Wirklich, es ist wundervoll, nicht?" (...) Ihre Wangen sahen schon aus, als hätte man sie mit roter Apfelschale beklebt. (...) Mir aber fiel ein, dass wir in wenigen Minuten wieder in der Stadt sein, aus dem Schlitten aussteigen würden, und ich nach Hause gehen (...) und am nächsten Morgen bei Dunkelheit aufstehen müsste; und ich fand alles gar nicht mehr 'wundervoll'. Das war merkwürdig in meinem Leben: Fühlte ich Glück, so genügte es, daran zu denken, dass es nicht von Dauer war – da endete es auch schon. Das Glücksgefühl endete nicht, weil die äußeren Umstände, die dieses Glück begünstigten, verschwanden, sondern allein kraft der Erkenntnis, dass diese äußeren Umstände überaus bald und unbedingt verschwinden würden. Kaum war mir diese Erkenntnis gekommen, war der Glücksmoment vorbei – aber die äußeren Umstände des Glücks waren noch nicht verschwunden, sie existierten weiterhin, nur ärgerten sie mich jetzt."

    "Roman mit Kokain" ist erstmals 1936 in einem kleinen, russischen Exilverlag in Paris erschienen. Und Wadims Geschichte spielt sogar noch früher, am Vorabend der russischen Revolution, in den Jahren 1915 bis 1919. Trotzdem liest sich diese fast achtzig Jahre alte Beichte eines Kokainsüchtigen verblüffend zeitlos. Das liegt nicht nur daran, dass das hier dargestellte, bereits todgeweihte Zarenregime in seiner Zerstreuungssucht viel Ähnlichkeit mit unserer heutigen Amüsiergesellschaft besitzt. Das hat auch und vor allem mit der radikalen Innensicht des Helden zu tun.

    Schonungslos gibt Wadim seine geheimsten Gedanken und Gefühle preis. Und was zunächst nach nihilistischer Pose aussieht, erweist sich schon bald als psychopathologische Bindungsunfähigkeit, die man heute wahrscheinlich als narzisstische Persönlichkeitsstörung oder als Borderline-Syndrom bezeichnen würde. Wadim kann nämlich auffallend schlecht Zuneigung und Zärtlichkeit, insbesondere von Frauen, ertragen.

    Er möchte als "schneidiger", harter Bursche gelten. Von daher trainiert er sich früh alle weichen, "weiblichen" Gefühle ab. Und verhält sich nicht nur seiner Mutter, sondern auch seinen Geliebten gegenüber äußerst respektlos und grausam. Obwohl Wadim beispielsweise weiß, dass er an Syphilis erkrankt ist, geht er mit Sinotschka in ein Stundenhotel und steckt sie absichtlich an. Er wirkt wie ein dämonisch Getriebener, der stets zerstören muss, was ihm doch eigentlich am Herzen liegt. Und trotz aller Reue: Von dieser sadomasochistischen Lust am "Widerlichen", wie er es nennt, kommt Wadim einfach nicht los. Das Kokain wirkt hier nur als destruktiver Beschleuniger. Und bezeichnenderweise verfällt der Draufgänger just in jenem Augenblick der Droge, als er sich das erste Mal wirklich in eine Frau verliebt hat. Nach diversen Affären trifft Wadim auf die selbstbewusste, verheiratete Sonja: nach vielen Huren seine einzige Heilige. Und prompt brechen all jene sanften Empfindungen in ihm hervor, die er vorher so hartnäckig unterdrückt hat. Die Folge: Ausgerechnet bei seiner großen Liebe hat der Erotomane plötzlich Potenzschwierigkeiten:

    "Wenn ich Sonja küsste, empfand ich allein bei dem Gedanken, dass sie mich liebte, eine so zärtliche Verehrung, eine so tiefe seelische Rührung, dass ich keine Sinnlichkeit empfinden konnte. Ich empfand keine Sinnlichkeit, weil ich es irgendwie nicht fertigbrachte, mit der ihr eigenen Brutalität all das Zärtliche, Mitfühlende, Menschliche meiner Gefühle zu zerstören. Unwillkürlich verglich ich meine früheren Affären und die Frauen von den Boulevards mit meiner jetzigen Beziehung zu Sonja: Während ich früher nur Sinnlichkeit empfunden, der Frau zuliebe aber Verliebtheit vorgespielt hatte, empfand ich jetzt nur Verliebtheit, spielte Sonja zuliebe aber Sinnlichkeit vor."

    "Roman mit Kokain" ist wie viele große Romane der russischen Literatur die ungemein fesselnde Studie eines psychopathologischen Falls, der beispielhaft für eine amoralische Dekadenzgesellschaft steht. Und das Kokain beschleunigt hier nur Wadims Sturz. Es macht ihn nur noch launischer, noch egozentrischer und noch skrupelloser - auch als Erzähler. Liest sich sein Bericht bis über die Hälfte logisch-stringent, gehen im Drogenrausch Wahn und Wirklichkeit zunehmend ineinander über. Allerdings entwickelt Wadim im Rausch auch eine interessante, offenbar von Hegel und Nietzsche inspirierte Seelentheorie des Tragischen. Demnach erweckt der Mensch paradoxerweise gerade erst dadurch die Bestie in sich, dass er die edelsten Absichten verfolgt. Humanität und Bestialität, so Wadim, seien entsprechend in einer "Schaukelbewegung" untrennbar miteinander verbunden. Und während er dann zugekokst seitenlang über diese negative Dialektik nachgrübelt, bemerkt er gar nicht, wie vor seinem Fenster eine Revolution stattfindet. In der neuen Gesellschaft des sowjetischen Tatmenschen aber ist für den "verderbten" Wadim kein Platz mehr. Ein zum Politkommissar aufgerückter Klassenkamerad verweigert ihm am Ende die lebensrettende Therapie.

    Was für ein verstörendes Meisterwerk! Die literarische Fachwelt hat lange gerätselt, wer wohl hinter dem Pseudonym M. Agejew steckt. Und nicht wenige glaubten, dass es sich hierbei nur um den russischen Literaturstar Vladimir Nabokov handeln könnte. Die Entdeckung des wahren Autors Anfang der Neunziger Jahre war dann eine echte Sensation. Denn inzwischen gilt als sicher, dass ein gewisser Mark Levi den "Roman mit Kokain" geschrieben hat. Ein damals völlig unbekannter Autor, der schriftstellerisch nie wieder in Erscheinung getreten ist. Wie sein Held Wadim besuchte auch Levi, Sohn eines jüdischen Pelzhändlers, im vorrevolutionären Moskau das humanistische Gymnasium. Und wie sein Held machte auch er Kokain-Erfahrungen, allerdings im Berlin der Zwanziger Jahre. Dorthin war der russische Übersetzer, der neun Sprachen – darunter Deutsch – beherrschte, höchstwahrscheinlich im Auftrag des russischen Geheimdienstes gereist, um die Emigrantenszene auszuspionieren. Und hier in Berlin hat Levi vielleicht sogar wirklich Nabokov kennengelernt, bevor er 1933 vor den Nazis nach Istanbul floh. Weitere Stationen seines überaus schillernden Lebens: ein längerer Psychiatrieaufenthalt, vermutlich Beteiligung an einem Bombenattentat auf die deutsche Botschaft in Istanbul 1942 - und schließlich eine Dozenten-Stelle an der armenischen Universität in Eriwan, wo Levi Deutsch unterrichtete. Den Erfolg seines einzigen Romans, der nun erstmals direkt vom Russischen ins Deutsche übersetzt wurde, hat dieser rätselhafte Autor jedoch leider nicht mehr erlebt. Levi starb 1973 mit 75 Jahren. Zehn Jahre, bevor sein "Roman mit Kokain" in Paris 1983 wiederentdeckt und als Überraschungsbestseller gefeiert wurde.

    M. Agejew: "Roman mit Kokain". Übersetzt von Valerie Engler und Norma Cassau, mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauss, Manesse Verlag, 256 Seiten, 22.95 Euro.