Dienstag, 16. April 2024


Die »lyrix«-Gewinner im April 2016

Der April stand unter dem Motto „es ist ein baum“. Als Inspirationsquelle zu euren Texten konntet ihr sowohl auf Lutz Seilers Gedicht „im felderlatein“ zurückgreifen als auch auf Fundstücke aus der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, die dort von DDR-Flüchtlingen zurückgelassen wurden. In euren Gedichten habt ihr den Baum als Hüter von Erinnerungen und Wissen ergründet und damit die Bedeutung, die er für den Menschen einnimmt.

30.04.2016
    Ein Kirschblütenbaum steht unter einer Glasglocke.
    Ein Kirschblütenbaum steht unter einer Glasglocke. (imago / Westend61)
    Bäume verkörpern für euch Verwurzelung, Standfestigkeit und Weisheit. Der Baum als friedliches Element der Natur verbindet mit Wurzeln und Krone Himmel und Erde und sammelt als langlebiger stiller Beobachter einen enormen Erfahrungsschatz über Vergangenheit und Zukunft.
    Das kurze Dasein des Menschen ist geprägt von Irrungen, Suche und der Sehnsucht nach "tiefe[n] wurzeln", Weisheit und Freiheit. Unerfahrenheit und Verdrängung beeinflussen gleichermaßen die immer wiederkehrenden Fehler des Menschen, der sich Manipulation, Denkfaulheit und Zerstörung hingibt: "du musst dir der vergangenheit bewusst sein / deine wurzeln kennen".
    Der Mensch schöpft nicht aus der Dokumentation des Baumes: Fehler und Erfolg, Krieg und Frieden, Suchen und Finden - er ist nicht mal im Stande, sich dieses Reichtums bewusst zu werden. Solange er jedoch trotzdem eine natürliche Beziehung zu ihm beibehält und somit auf seine eigene Art eine Verbindung zu ihm hat, kann er Erinnerungen an ihn knüpfen und durch ihn festhalten, denn "er stand schon hier / als ich in deinem alter war". Manchmal jedoch zerstört der Mensch trotzdem mit "Kettensäge […,] Bagger […und] Maschine" den Baum und mit ihm die "Jahresringe", die ihm "gern erzählen [würden] was [sie] erlebte[n]".
    Herzlichen Glückwunsch an unsere Aprilgewinner und vielen Dank an alle, die einen Text eingesendet haben.
    Die Monatsgewinner im April 2016:
    Jahresringe
    du musst dir der vergangenheit bewusst sein
    deine Wurzeln kennen
    und ihnen dann entwachsen
    man kriegt so schnell Pilz
    sagt die Eiche
    patriotismus
    ich bin deutsch
    und das weiß ich
    und find es nicht gut
    sagt die Eiche
    ich bin ein Baum
    und an mir kann man sehen
    wie viele Schädlinge es gibt
    alle paar jahre runzelt mein Stamm
    sagt die Eiche
    wenn mal wieder jemand sagt
    rechter Ast nach oben
    und sie marschieren hinterher
    dann haben sie die Jahresringe nicht gezählt
    sagt die Eiche
    und dann lichten sich wieder die Wälder
    und erst wenn der letzte Baum dem Pilz zu grunde fällt
    der letzte Busch dem Pestizid
    werden sie merken
    dass man rassismus nicht essen kann
    sagt die Eiche
    es ist 2016
    oder 1933
    ich weiß nicht
    ich hab die Jahresringe nie gezählt
    ich würde ihnen gern erzählen was ich erlebte
    doch ich hab keine kraft mehr
    ich kann nur noch mit der Krone im wind nicken
    säuselt die Eiche
    und stirbt ein weiteres mal
    Victoria Helene Bergemann, Jahrgang 1997
    Was mich von einem Baum unterscheidet
    Erstens
    schlage ich keine Wurzeln
    sondern renne vor ihnen weg
    bis sie mir im Bauch stehen
    Zweitens
    werfe ich keinen Schatten
    sondern versuche darüber zu springen
    mit der Sonne im Gesicht
    Drittens
    wachse ich nicht nach oben
    sondern kreuz und quer
    und mache mich gerne klein
    Viertens
    Esse ich keine Erde
    vielmehr begräbt mich die Aussicht
    irgendwann unter ihr zu liegen
    Fünftens
    Trinke ich kein Licht
    um zu wachsen brauche ich Ruhe
    ich bin ein Nachtschattengewächs
    Sechstens
    Trage ich keine Krone
    in der Gedanken nicht ineinanderwachsen
    denn meine Blätter sind Hirngespinster
    Siebtens
    ich schreibe ein Gedicht darüber.
    Laura Bärtle, Jahrgang 1999
    orientierungslos zentriert
    onyxfarbene mitternachtsarme
    wiegen mich …
    zwischen wach und traum
    frühlingsbäume fliegen
    tönen gleich
    an mir vorbei
    ich möchte sein wie ein baum
    tiefe wurzeln
    möcht´ ich schlagen
    tanzen möchte ich
    wie blätter im wind
    zart ungestüm
    orientierungslos zentriert
    frei sein möchte ich
    wie seine früchte
    seine samen
    mich tragen lassen
    in die welt
    aber
    immer wissend
    ich habe …
    … hatte
    wurzeln
    möchte …
    erinnert werden
    wenn …
    meine handschrift verblasst
    meine zeit vergangen
    und …
    mein gewesen sein
    lächeln in gesichter zaubert
    frühlingsbäumen gleich
    Lara-Sophie Cronhardt-Lück-Giessen, Jahrgang 2000
    apfelkerne
    tot …
    sie ist einfach tot …
    ein medaillon
    mit eingravierten rosen
    gehört jetzt mir
    mit einem leisem klick
    springt der kleine deckel auf
    vergilbtes bild aus ferner zeit
    und …
    4 kleine braune kerne
    apfelkerne …
    auf ihren knien mich schaukelnd
    strich sie mir übers haar
    weiche warme hände
    zerfurcht von leben
    mit braunen flecken
    schrumpeligen adern
    leise zitternd öffnet sie
    die alte hand
    darin ein kleiner brauner kern
    ein apfelkern
    siehst du diesen apfelbaum
    er hat ihn mir geschenkt
    er stand schon hier
    als ich in deinem alter war
    wie herrlich seine
    zarten federgleichen
    blüten sind
    atme tief den frühling
    erinnere dich …
    über meine zeit hinaus
    in diesem kleinen apfelkern
    wohnt ein ganzer baum
    er kann wurzeln schlagen
    überall …
    wie du …
    eifrig nickte ich
    ohne zu verstehen
    ihre liebe
    nehm ich mit
    in jeden neuen tag
    und …
    kleine braune apfelkerne
    Marie-Celestine Cronhardt-Lück-Giessen, Jahrgang 2000
    Nur ein Baum
    Es ist nur ein Baum
    denkt die Kettensäge
    denkt der Bagger
    denkt die Maschine
    die den alten Urwaldriesen
    zu DinA4 verarbeitet.
    Magdalena Wejwer, Jahrgang 1997