Freitag, 29. März 2024


Die lyrix-Gewinner im Dezember 2010

Zum Jahresende haben wir euch in Anlehnung an ein Gedicht von Heinz Erhardt gebeten, uns Texte über nützliche oder überflüssige Erfindungen zu schicken.

17.01.2011
    In "Fernsehen" stellt Heinz Erhardt ironisch den Nutzen eben dieser Erfindung in Frage. Wir wollten von euch wissen, welche Erfindungen die Welt eurer Meinung nach (nicht) braucht. Erreicht haben uns Gedichte, die sich kritisch mit modernen Erfindungen - wie zum Beispiel dem Telefon oder dem Auto - auseinandersetzen. In vielen eurer Texte wird zudem deutlich, wie sich der technische Fortschritt eurer Ansicht nach auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirkt.

    Hier sind die Monatsgewinner aus dem In- und Ausland. Herzlichen Glückwunsch und danke für eure Gedichte!


    suchmaschine der erinnerung

    ich tunke mich in vergangenheit
    sogwirkung abwärts

    kämpfe mich durch ein gestrüpp
    aus melancholie und sehnsucht
    zum edelkitschrausch meiner
    manipulierten bildermeere

    ich dürste nach konservierter wahrheit
    und finde selbstbetrug vor

    ich bin hals über kopf verliebt in
    meine reizüberfluteten nächte
    die in wohlig glasigem blick
    leise verwummern

    ich ströme von erinnerung
    zu erinnerung und hoffe dass
    ich mir das vorbeiziehende glück
    in die taschen stopfen kann

    ich klammere mich
    an gedankenkonstrukte und
    übergrelle zukunftsmalerei
    und es funktioniert auch

    bis ich mir den schleudersitz
    zurück ins wahre leben wünsche
    und es keinen boden mehr gibt
    auf dem ich landen kann


    (Jonas Kohnen aus Ludwigshafen, Deutschland, Heinrich-Böll-Gymnasium Ludwigshafen, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Tinitus

    In meinen Ohren rauscht es nonverbal.
    Und ich betrinke mich an der hochprozentigsten Stille
    Die ich auftreiben kann.
    Ich tauche meinen Kopf unter Eiswasser
    Und lausche dem Zittern meiner Adern
    Mein Hirn – verkabelt ins nichts.
    Ich tauche durch mein sporadisch versunkenes Atlantis und
    Suche Polaroids.
    Aber da ist Zigarrenqualmleere in meinen Gedanken
    Ich rolle mich in meinem
    4D Dolby Surround Kinosessel
    Zu einer Analogen Kugel zusammen
    Das Große Fressen aus: sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen
    Mir ist schlecht.


    (Josefine Berkholz aus Berlin, Deutschland, Romain Rolland Oberschule, Jahrgangsstufe 11, Muttersprache: deutsch)


    Tattoos

    Wenn ich da sehe, diese Farben
    Auf den Körpern, dieser Knaben
    Dann denke ich mir allzu häufig
    Hier sind doch wilde Hunde läufig

    Denn so sabbernd und begeistert
    Die Jugend sich die Haut bekleistert
    Ohne Sinn und ohne Verstand
    Missbrauchen sie die Haut als Wand

    Was meine Augen dann beleidigt
    wird meistens noch als Kunst verteidigt
    Ich spreche voller Zorn und Groll
    von Tattoos, den Körper voll

    Wer es mag, der soll es tragen
    Aber nicht mein Auge plagen
    Unter einem Shirt versteckt
    bleibt das Schandbild unentdeckt

    Darum sag' ich es erneut
    Nicht jeden diese Kunst erfreut
    Schonet mich und mein Gemüt
    Wenn ihr an mir vorüber zieht


    (Oliver Link aus Bensheim, Deutschland, Geschwister-Scholl-Schule, Jahrgangsstufe 11, Muttersprache: deutsch)


    Totalschaden

    Einst ritten Liebespaare
    Bei Sonnenuntergang
    die Allee entlang
    Doch heute ist die Straße
    Nur noch Schauplatz
    eines Schönheitswettbewerbes
    Blecherner Männerträume
    Als Hauptpreis gibt es einen Ehekrach
    Scheidungspapiere und Tränen
    Vor Freude über den neuen Schatz
    Putz- statt Kuschelstunden
    Und am Ende krepiert das junge Glück
    An einem Totalschaden
    Durch einen umstürzenden Baum
    Als Antwort auf den Klimawandel


    (Benita Salomon aus Schriesheim, Deutschland, Kurpfalzgymnasium Schriesheim, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Jugend in Tuben

    Du kaufst dir die Jugend in Tuben
    Nur vier Euro neunzig – Regal hinten links –
    Es fliehen durch dieses Chemielabordings
    Die Jahre die sich in dich gruben,

    Die Spuren von Lachen und Sorgen,
    von Schmerzen, von Liebe, von Glück.
    So leicht dreht die Zeit sich zurück
    Und strafft so den Spiegelbildmorgen.

    Doch, ist’s nicht die Schwerkraft, die alles hier hält?
    In jeder der Falten Erinnerung sitzt,
    Wie Namen die jemand in Bäume geritzt.

    Ja, ist’s nicht die Haut, die Geschichten erzählt?
    Zeigt sie keine Spuren, ist Zeit doch vergebens.
    In jeder der Falten, die Handschrift des Lebens!


    (Anna Neocleous aus Rietberg, Deutschland, Gymnasium Nepomucenum Rietberg, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch und griechisch)


    unsinn

    ich höre deine stimme unsicher in meinem ohr
    das letzte mal als ich dich hörte war bevor
    man dieses seltsam ding erfunden
    gelb mit drehscheibe drumherum endlos kabel gewunden
    da hab ich noch deine worte gehört und deine augen gesehen
    da konnte ich ohne hörer am ohr neben dir stehen
    ich brauche kein sogenanntes telefon in meinem leben
    es würde mir völlig reichen dir real die hand zu geben


    (Nina Rastinger aus Gmunden, Österreich, Bundesgymnasium Gmunden, Jahrgangsstufe 8, Muttersprache: deutsch)


    Internetfreund

    Freund, wo bist du?
    Jetzt brauche ich dein Gespräch.
    Jetzt mehr als jemals.

    Ich möchte nicht mit dir im Chat sprechen,
    weil ich dich nicht sehe.
    Und wer bist du? Ich weiß es nicht.

    Ich möchte wissen,
    dass nur du und ich Freunde sind.
    Ich möchte dich sehen, wenn ich mit dir spreche.

    Freund, ich möchte nicht deine Fotos nur
    im Internet sehen.
    Ich möchte dein Gesicht, dein Lächeln sehen
    und ich möchte, dass du mir deine Geheimnisse sagst.

    Freund, bist du mein Freund nur im Internet
    oder kann ich dich sehen?
    Sprichst du nur im Internet,
    oder kann ich dich hören?
    Bist du in der realen Welt,
    oder bist du mein Freund
    nur im Internet?


    (Edin Ibreljic aus Zenica, Bosnien und Herzegowina, Prva gimnazija u Zenici, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: bosnisch)