Donnerstag, 25. April 2024


Die »lyrix«-Gewinner im Dezember 2015

Im Dezember habt ihr "Unpolitische Lieder?!?" im Spiegel der jetzigen Zeit, der aktuellen Ereignissen und Entwicklungen, Debatten und Maßnahmen, die die Welt, Europa, Deutschland und dich betreffen, herausfordern und bewegen, geschrieben. Ihr habt euch positioniert, Kritik geäußert und aufgerufen, inspiriert durch Martin Piekars Gedicht "Drink responsibly" und einer Spardose aus dem Hoffmann-von-Fallersleben-Museum in Wolfsburg. Der Dichter, der sich politisch für die Nationalliberale Bewegung in Deutschland engagierte, musste für sein Streben nach deutscher Einheit, demokratischen Rechten und Freiheit den Preis der politischen Verfolgung zahlen. Mithilfe dieser Spardose war er in der Lage, trotz seines fehlenden festen Einkommens, ein erhebliches Vermögen anzusparen.

01.01.2016
    Der amerikanische Gitarrist Jimi Hendrix tritt am letzten Tag (06.09.1970) des dreitägigen Pop-Festival "Love and Peace" auf der Ostseeinsel Fehmarn auf. Es war sein letzter Konzert-Auftritt. Hendrix starb am 18.09.1970 in London im Alter von 27 Jahren.
    Der amerikanische Gitarrist Jimi Hendrix tritt am 06.09.1970 beim dreitägigen Pop-Festival "Love and Peace" auf. (picture alliance / Dieter Klar)
    Politik ist selten simpel und sie zu erklären und zu beurteilen fordert uns heraus, manchmal mehr, manchmal weniger. In letzter Zeit wieder ganz besonders, denn die "Wanderbewegung der Zeit" - Umbrüche und Entwicklungen auf der ganzen Welt – beeinflussen die politischen Beziehungen, Konflikte und Entscheidungen. Deutschland und Europa spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn die politische und wirtschaftliche Stabilität, unsere gesellschaftliche Ordnung und die westlichen Werte sind für die einen ein Bild der Hoffnung, für die anderen ein klares Feindesbild.
    Probleme und Herausforderungen türmen sich zu Bergen auf, vor denen man vor Ratlosigkeit Angst bekommen kann. Die Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, veranlassen so manchen, sich abzuwenden nach dem Motto "was geht uns der Staat / Schon an / Der macht doch eh was er will [...] wir / Wählen auch nicht". Andere üben sich in Desinteresse und Ignoranz: "Formatierte Festplatte, / Gebrannte Meinung. / Bild: Manipulation!" und vor allem in Faulheit – "Herr Ober? Ja! Erkenntnis bitte!".
    Ihr zeigt auf, wie gefährlich das ist, wie leicht damit unser höchstes Gut - die kostbare Freiheit - entschwinden kann. Vielen Menschen auf dieser Welt bleibt die persönliche Freiheit verwehrt, wo "der einstige schreiber / erstickt [ist] am eigenen wort". Was hat er "schlimmes gemacht? / die wahrheit gesagt und den funken entfacht, / doch damit [...] hat er eines tages / ein lügendes system gegen sich aufgebracht".
    Hier hingegen möchten zu viele die "ohren schließen / leider lieber stumm verweilen". Zu verlockend scheint bei der Komplexität der aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft ein Schwarz-und-Weiß-, Gut-und-Böse-Denken zu sein, begründet auf zu schnellen, zu wenig fundierten Beurteilungen. Faulheit und Angst macht Manipulation erschreckend einfach. Das darf nicht sein, findet ihr und fragt euch, "ob nicht schon länger mal wieder menschen gestoppt werden müssten".
    Wir bedanken uns bei euch allen für eure reflektierten und großartigen Texte und gratulieren den Gewinnern im Dezember!
    Die Monatsgewinner im Dezember 2015:
    Unpolitisches Stimmungslied
    I.
    Wir haben unsere Hymne
    Vergessen, können die Melodie gerade so mitsummen im
    Sirren zwischen Bienen und dem Kühlschrank
    Googlen wir den Text, nein, geht
    Auch ohne, denn was geht uns der Staat
    Schon an
    Der macht doch eh was er will und wir
    Vertrauen nicht dem was wir gewählt haben, wir
    Wählen auch nicht, wen auch, es
    Gibt keinen in diesem Land und
    Wahlplakate sind doch eh nur schön
    Gedruckte Seifenblasenversprechen, wir
    Passen lieber auf, nicht
    Auszurutschen auf dem nassen Boden geplatzter Versprechen und
    Sagen erstmal nein, bevor es
    Vielleicht doch schön werden
    Könnte
    Oder auch nicht
    II.
    Wir und der Staat und
    Gesetze und
    Wir nehmen uns Freiheit
    In diesem Land
    Danach strebten wir schon
    Unser ganzes Leben lang
    Du und ich ohne
    Irgendeinen Staat
    Lena Hinrichs, Jahrgang 2000
    Gesang der Gemäuer in fruchtbarem Boden II
    Wie kann ich noch sprechen
    mit all den Völkern hinter mir den Wanderbewegungen jeder erforschbaren Zeit?
    Europa selbst kam übers Meer nach Kreta, auf den Schultern eines zweifelhaften Schleppers:
    Zeus. Sie kam aus Phönizien, einem Land auf dem Gebiet des heutigen Libanons und Syriens.
    Später floh Aeneas mit Vater, Kind und dem Trauma im Feuer verstorbenen Frau Krëusa aus
    dem brennenden Troja. Dido gewährte ihm nach Stürmen und Schiffbruch Asyl doch Aeneas
    zog weiter und wurde der Stammvater Roms. Wie ihm erging es vielen Helden die ihm voraus-
    gingen und folgten. Sie verließen ihre Heimat und brachten sie in ein neues Leben. Gunther
    brachte Brünhild als unfreiwillige Immigrantin nach Worms. Im Jahr 716 begann der Heilige
    Bonifatius, Engländer, in Friesland zu missionieren. 38 Jahre später wurde er von Einheimischen
    ermordet. Menschen wie er brachten gegen den Widerstand patriotischer Germanen das
    Christentum ins heutige Deutschland. Die Germanen ihrerseits waren wohl 2000 vor Christus
    eingewandert, aus Hunger, also: als Wirtschaftsflüchtlinge. Alle Kultur ist Bewegung. Flucht ist
    Bewegung. Migration. Verlassen und Aufnehmen. Wie die Geschichte sich auflöst in ein Meer
    gerichteter Größen, auf dem auch meine eigenen Vorfahren treiben. Meine Großmutter
    streitet ab dass Zigeuner darunter seien. Welle um Welle in Richtung Gegenwart. Brecht floh.
    Leonard Bernstein floh. 1988 siedelte Helene Fischer von Sibirien nach Deutschland über.
    Meine Großeltern wanderten aus und ich blieb zurück.
    Wie kann ich sprechen wenn nicht als Wanderbewegung der Zeit.
    Ansgar Riedißer, Jahrgang 1998
    Bürgerbananen
    Bürgerbananen;
    GRUNDVERSCHIEDEN!
    Gezwungene Uniformen:
    Steif, Still, Gerade!
    Aber krumm bleibt krumm.
    Ist krumm gleich dumm?
    Senke plus Steigung:
    Addiert Gerade.
    Ists nicht so?
    Aber krumm bleibt krumm.
    Krumm gemacht,
    Gesellschaft, Eltern.
    Reputation gewünscht,
    Rezension "geschenkt".
    Aber krumm bleibt krumm.
    Kopf funktioniert.
    Nicht.
    Formatierte Festplatte,
    Gebrannte Meinung.
    Bild: Manipulation!
    Aber krumm bleibt krumm.
    Licht aus für Deutschland.
    Deutsche Alternative?
    Veränderung: Ja!
    Alternative: Nein!
    Bodenlos Dumm.
    Ist krumm gleich dumm?
    Aber krumm bleibt krumm.
    Bürgerbananen sind:
    Affenfutter; Alternative Affen.
    Intelligenz verschwunden?
    Sie ist weggelaufen: Geflüchtet!
    Kultur bedroht? Nein!
    Es ist Bereicherung!
    Deutschlands Reichtum aufgefüllt!
    Aber krumm bleibt krumm.
    Herr Ober? Ja!
    Erkenntnis bitte!
    Bürgerbananen hört!
    Seid kein Affenfutter!
    Nicht für Alternative Affen!
    Ihr seid krumm.
    Und krumm bleibt krumm.
    Alexander Schmitt, Jahrgang 1999
    aber
    möchte meine ohren schließen
    leider lieber stumm verweilen
    tränenmeere stumm vergießen
    elenden zu hilfe eilen
    ich hab ja nichts gegen ausländer
    "aber"
    Ich habe ein
    Unwort
    des jahres gefunden
    unpolitisch
    "aber"
    kein nazi
    "aber"
    a
    b
    e
    r
    Alptraum
    Beraubter
    Erniedrigter
    Rückhaltloser
    Antwort
    Berauschter
    Einträchtig
    Rücksichtsloser
    ich lasse alle reime fallen
    meine hände leer und offen
    schreie stumm und hör kein hallen
    aber
    aber
    ich muss hoffen
    Karen Schmitt, Jahrgang 1996
    er presse freiheit
    mama, wer ist der mann
    auf dem bild?
    ein fremdes lachen, ein kuss, augenblick-
    lich lichtet sich die wohnung, das grinsen
    beschallt den raum und verhallt. ach der,
    mein kind, ist wen ich im traum
    vor mir stehen sehe.
    mama, wo ist der mann
    in diesem moment?
    er, mein kind
    ist längst nicht mehr hier.
    er sitzt zwischen vier wänden
    aus reißfestem papier –
    der einstige schreiber
    erstickt am eigenen wort.
    mama, was hat der mann
    schlimmes gemacht?
    die wahrheit gesagt und den funken entfacht,
    doch damit, mein kind, hat er eines tages
    ein lügendes system gegen sich aufgebracht.
    mama, wann kommt der mann
    wieder frei?
    dein papa
    ist eingesperrt zu ihrem gefallen,
    doch kommt er wieder, mein kind, wenn die
    anderen fallen.
    ich spüre verschwommene hoffnung
    morgens im licht
    - die presse beugt sich lügen nicht.
    Jing Wu, Jahrgang 1995
    Und hier noch zwei Beiträge "außer Konkurrenz": (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)
    Ob man sie stoppen kann
    Ich frage mich,
    ob Roosevelts Eltern stolz waren
    als er 1935 Versicherungen einführte
    1938 den Mindestlohn
    als er den Menschen helfen wollte
    Dass sie die Demokraten wählen
    das zumindest stand fest
    bis er kam
    und demokratische Ideale verschob
    Ob er das hinbekommen hat
    oder ob sie irgendwann stillstanden
    zu konservativ für weitere Bewegung
    das frage ich mich
    Ich frage mich,
    ob Hitlers Eltern stolz gewesen wären
    wenn sie gewusst hätten
    dass das Aggressionspotenzial ihres Sohnes
    vielleicht etwas ausgeprägter ist als normal
    aber er so schlau ist
    dass er mehr als 60 Millionen Menschen
    einfach an der Nase herum führen konnte
    dass er sich für familiäre Werte einsetzt
    und für seine Heimat
    oder ob sie erkannt hätten
    dass er vielleicht
    das größte anzunehmende Übel
    in Menschenform war
    das frage ich mich
    Ich frage mich,
    ob man erkennt,
    wenn geliebte Menschen
    Dinge bewegen
    dass sie sich einsetzen
    oder menschliche Aussetzer haben
    ob sie einen zum Umdenken bewegen
    oder man ihretwegen umdenken muss
    ob man handelt
    sich laut dagegen ausspricht
    ob man ihnen gut zuspricht
    ob man sie stoppen kann
    ob nicht schon längst mal wieder
    Menschen gestoppt werden müssten
    das frage ich mich
    Victoria Helene Bergemann, Jahrgang 1997
    honigsüß
    meine sonne verdunkelt sich
    der morgen atmet trauer
    meine hände zittern
    ich sing mein lied
    sing es still
    weil keiner
    es hören will
    integration
    inklusion
    große worte
    keine taten
    verschlossene türen
    keine auskünfte
    der wind flüstert
    hoffnung
    verstummt
    honigsüß wird
    hart geurteilt
    ausgegrenzt
    zurückgewiesen
    nicht verstanden
    kämpfen macht so müde
    ein inferno tobt in mir
    ich wünsche mir
    dass
    die die an den schaltstellen sitzen
    "1 jahr in meinen schuhen laufen"
    wer ist gescheitert
    unser system oder ich
    persönliches budget
    sozialstation
    integration
    inklusion
    es tut mir leid
    dafür sind wir nicht zuständig
    meine mutter denkt immer
    ich merke es nicht
    wenn sie wieder einmal
    für mich weint
    über die vielen
    neins
    über den paragraphendschungel
    der so voll wilder tiere ist
    dass man daran
    scheitern muss
    lange hab ich überlegt
    soll ich die welt
    konfrontieren mit mir
    und all denen
    die keine worte finden
    deren hände zittern
    deren sonnen morgens
    schon untergehen
    die das flüstern des windes
    nicht hören können
    die der paragraphendschungel
    erschöpft
    weil zu viel zeit
    zu viel trauer atmet
    dann ...
    dachte ich
    was macht die welt mit mir
    mit uns
    die am rande leben
    sie macht die augen zu
    reitet auf schlüpfrigen
    paragraphen
    von amtsstube
    zu amtsstube
    schmettert ab
    honigsüß
    Marie-Celestine Cronhardt-Lück-Giessen