Freitag, 19. April 2024


Die lyrix-Gewinner im Juni 2010

In Anlehnung an "Die Zerknirschung" von Hans Magnus Enzensberger solltet ihr uns im Juni Gedichte zum Thema "Verfehlungen" schicken.

30.07.2010
    Enzensberger zählt in seinem Gedicht in ironisch-distanziertem Ton leichte bis schwere Verfehlungen auf. Ihr habt in euren Texten von persönlichen Verfehlungen geschrieben, aber auch in Frage gestellt, ob wirklich alle von der Gesellschaft verurteilten Verhaltensweisen tatsächlich Verfehlungen sind. Oft ging es in euren Gedichten um den Gewissenskonflikt, in den man gerät, wenn man äußere Erwartungen nicht erfüllt.

    Hier folgen nun wie immer die lyrix-Monatsgedichte und die Namen der Gewinnerinnen und Gewinner aus dem In- und Ausland.

    Vielen Dank für eure Einsendungen und herzlichen Glückwunsch!



    Die Steinigung

    gezwungen durch die Menschengasse laufen
    in ihren schweren Blicken fast ersaufen
    jeder ist erschienen
    wollen einen armen Sünder strafen
    Steine scharf geschliffen
    auf den Rossen sitzen reiche Grafen
    neben ihnen Schergen, Steine in den Händen
    alle werden heute Eines Lebens enden

    alle warten um zu werfen
    werd verachtet von den ganzen Leuten
    wie sie warten mich zu töten
    seh die Steine die mein Ende deuten

    mit meiner Liebsten habe ich geschlafen
    und jetzt nun wollen sie mich dafür strafen
    Steine in den Händen fingen mich genau vor zwei der Wochen
    wollen mich nun richten
    tief in mir beginnt mein Herz zu pochen
    wissend, seh die meine Liebste niemals wieder
    eine Ehefrau die singt mir Liebeslieder

    alle warten um zu werfen
    werd verachtet von den ganzen Leuten
    wie sie warten mich zu töten
    seh die Steine die mein Ende deuten

    ich weiß genau ich werde sterben nun
    und schall ein aller letztes Mal:
    Ich weiß ich würd es wieder tun!
    und doch ich weiß ich würd es wieder tun!


    (Martin Piekar aus Bad Soden, Deutschland, Friedrich-Dessauer-Gymnasium, Jahrgangsstufe 13, Muttersprache: deutsch/ polnisch)


    Mustermensch

    immer gelächelt
    fröhlich getan.
    immer gelernt
    fleißig getan.
    immer gehorcht
    vernünftig getan.
    immer gesprungen
    höflich getan.
    immer getan
    immer gemacht
    immer vorgetäuscht
    immer das
    Idealbild gewesen.
    immer nur geträumt
    vom Ameisen zertreten
    vom Steine werfen
    vom Schule schwänzen
    vom Stress mit Eltern
    vom dreckigen Lachen
    von Zigarettenqualm
    von Entnüchterungszellen
    von Drogen
    von Sex
    vom abschreckenden Beispiel
    vom "dagegen sein"
    nur geträumt
    nicht das Gefühl zu haben nur so dahin zu leben.
    nur geträumt
    die Hülle "Mustermensch" irgendwann abzustreifen und zu vergessen.
    nur geträumt
    sich selbst je verzeihen zu können.


    (Johanna Fugmann aus Memmelsdorf, Deutschland, Dientzenhofer-Gymnasium, Jahrgangsstufe 7, Muttersprache: deutsch)


    Sühne

    Ein alter Mann mit langem, wirrem Barthaar und mit kleinen,

    Getrübten Augen im vergilbten, windgegerbten Angesicht
    Sitzt unentwegt im Stadtpark in zerschlissnem Hemd und sucht das Licht.

    Er schichtet kleine Türme aus im Gras gefund’nen Steinen,

    Und wenn ihn einer fragt "warum?" Er möge doch erzählen,
    Da sagt er: "Herr, an mir klebt Schuld, der Kummer mancher Seelen.

    Mein größter Wunsch ist es, mich mit dem Himmel zu vereinen.

    So bau’ ich die Türme als Leiter zu Sühne und Frieden,
    Bis jetzt hat mir Gott jedoch keine Erfüllung beschieden.

    Erst wenn ein Turm zur Sonne ragt, ist er mit mir im Reinen."

    Und sagt der Parkbesucher dann Mit Mitleid in den Blicken:
    "Solang man’s auch versuchen kann Es wird doch niemals glücken."

    Gibt er zur Antwort: "Wenn die Mühen auch vergeblich scheinen,

    Wenngleich der Wind sie niederwirft und sie zu Boden streben,
    So hoffe ich doch fest darauf, denn Hoffnung ist mein Leben."


    (Kai Gutacker aus Niddatal, Deutschland, Sankt-Lioba-Schule, Jahrgangsstufe 13, Muttersprache: deutsch)


    Betrug oder Non, je ne regrette rien

    Der Sommer sang aus dem Radio,
    da lächelte sie zu mir,
    so süß wie noch keine lächelte,
    am Badestrand saßen wir.

    Bei Nacht krochen wir in die Zelte hinein,
    ich sah ihr Lächeln nicht mehr,
    doch sehnte mich dieses Lächeln zu spürn;
    der Sommer kam schwül zu uns her.

    Und als wir dann Arm in Arm versanken
    kamen die ersten treuen Gedanken:
    "Zu Hause, da wartet doch wer!"

    Der Sommer hat schnell mein Gewissen verbrannt,
    ich fühle an mir ihre zärtliche Hand
    und spüre ihr Lächeln an mir.


    (Oliver Riedmüller aus Fürth, Deutschland, Heinrich-Schliemann-Gymnasium, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Schuldig

    Schwarz färbt meine Haut
    wenn ich sie berühre
    Fingerabdrücke an weißen Tapeten
    treten
    in ein Gesicht, das ich durch
    Modenschauen führe

    Hinter der Sonnenbrille:
    meine Augen-
    losen-
    höhlen grölen:
    betrogen
    verlogen
    verloren
    verlassen
    verblassend im Beichtstuhl sitzend
    schlage ich mir den Kopf an
    der Realität


    (Anna Neocleous aus Rietberg, Deutschland, Gymnasium Nepomucenum Rietberg, Jahrgangsstufe 11, Muttersprache: griechisch und deutsch)


    Verfehlungen

    Verfehlt,
    Den Elfmeter verfehlt,
    verloren, verfehlt.
    Die Liebe verfehlt,
    für immer, verfehlt.
    Es scheint so als ob ich den Zug meines Lebens verfehlt habe,
    fünf Minuten zu spät, verfehlt.
    Und ich sag mir immer wieder, das war das letzte mal,
    doch es passiert wieder, verloren, für immer zu spät, verfehlt.
    Wie lange geht`s so weiter?
    Es scheint nicht lange, ich sehe das Licht am Ende des Tunnels.
    ...nur eine Enttäuschung, denn wieder sagt eine Stimme: Verfehlt!
    Nein, hier bin ich richtig!
    Hier lerne ich aus meinen Fehlern, hier kann ich nur gewinnen.
    Und die Stimme schwindet...schwindet...für immer...


    (Haris Poturkovic aus Zenica, Bosnien und Herzegowina, Erstes Gymnasium in Zenica, Jahrgang 10, Muttersprache: bosnisch)


    Wörter

    Drei Wörter, die ich nicht gesagt habe.
    Sie sind in die Zeilen meiner Seele eingeschrieben.
    Sie sind
    meine graue Ewigkeit.
    Sie sterben
    auf meinen heißen Lippen.
    Dieses Zimmer ist für mich zu kalt.

    Drei Wörter, die ich nicht gesagt habe.
    Sie sind in die Zeilen meiner Seele eingeschrieben.
    Sie vergehen
    in der drückenden Zeit.
    Sie sind
    die Wände in meinem Zimmer
    Und dieses Zimmer ist für mich zu kalt.

    Drei Wörter, die ich nicht gesagt habe…


    (Valentyna Bilokrynytska aus Tscherkassy, Ukraine, Cherkaska Himnazija Nr. 31, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: ukrainisch)


    Eigentlich

    Erst denken, dann handeln
    Und dann das dumme Gefühl im Bauch
    Wie fühlt sich denn das ja an, das Blöde
    Zuerst kriegt man steife Beine
    Oder – besser gesagt
    Unsere Verfehlungen gehen in die Füße
    Um wegzulaufen
    Das Rauchen
    Die Disco
    War nicht so schlimm
    Die Religion passt
    Ist eigentlich toll
    Es ist ja so vieles Unklar
    Im unserem polnischen Geschichtsbuch

    Aber wenn wir dann sehen das Ganze
    Nicht das was wir wollten, planten
    Eigentlich wollten wir das ja
    Ja eigentlich schon
    Aber das passt jetzt nicht so gut
    Wie das andere
    Das würde besser passen
    Jetzt ist es aber da
    Unbequem irgendwie
    Und das Gefühl
    Im Bauch, an der Leber
    Weglassen
    Verlassen
    So, so – selber entscheiden
    Ist ja schon gut
    Die Zeit vergeht
    Alles wird wie früher
    Oder nicht?


    (Anna Dyga aus Gogolin, Polen, Publiczne Liceum Ogólnokszta³c¹ce, Jahrgang 11, Muttersprache: polnisch)