Donnerstag, 25. April 2024


Die lyrix-Gewinner im September 2010

Im September haben wir euch gebeten, einen Blick in euer "Familienalbum" zu werfen. Als Orientierung diente ein Gedicht von Hans Ulrich Hirschfelder.

29.10.2010
    In euren Gedichten seid ihr ganz unterschiedlich mit dem Thema "Familienalbum" umgegangen. Viele von euch haben sich in ihren Texten mit dem Erwachsenwerden auseinandergesetzt. Ihr habt verglichen, wie ihr euch im Moment der Fotoaufnahme gefühlt habt und wie ihr jetzt zu den Bildern steht. Zahlreiche Gedichte haben sich auch damit auseinandergesetzt, dass der Eindruck, den Fotos vermitteln, oftmals nicht der Realität entspricht.

    Vielen Dank für eure Gedichte! Herzlichen Glückwunsch den Gewinnern!

    Hier die Texte der Monatsgewinner aus dem In- und Ausland:


    früher

    dem gutenachtkuss bin ich längst entwachsen
    jetzt komm ich erst wenn mama schläft nach haus
    man wünscht sich keine gute nacht ich gehe
    stattdessen nochmal kurz in icq

    früher roch der sonntag noch nach braten
    und meistens hat die oma zum kaffee
    auch noch kakao gemacht für uns die enkel
    jetzt bin ich öfters weg fürs wochenende

    die vielen male die wir zwei uns schlugen
    wie es halt brüder machen sind vorbei
    wir sehen uns jetzt fast nur noch zum frühstück
    da fehlt der grund und auch die zeit für streit

    familie manchmal spreche ich das wort
    ganz langsam aus und frage mich was denn
    von diesem wort in meinem leben ist
    und weiß als ich noch klein war war da mehr


    (Oliver Riedmüller aus Fürth, Deutschland, Heinrich-Schliemann-Gymnasium, Jahrgangsstufe 13, Muttersprache: deutsch)


    Apfelblütenschnee

    Mama, Mama, ich hab mich verirrt
    Denn meine Stadt hat neue Wege
    Bekommen, die ich nicht kenne
    Mama, Mama, ich bin geflohen
    Vor mir selbst und jetzt
    Finde ich mich nicht mehr
    Mama, Mama, kannst du mir bitte noch
    Einmal die Welt erklären?

    Wie damals,
    als ich im Apfelblütenschnee
    schaukelte und dein Lächeln
    meine Fragen stillte
    Wie damals,
    als wir noch Hand in Hand
    Tischgebete sprachen
    Und ich die Worte nicht verstand
    Wie damals,
    Als es noch keine Verbrechen gab
    Noch keinen Liebeskummer
    Keine falschen Illusionen
    Und der Kirschbaum uns noch trug
    Wie damals,
    als ich noch nicht wusste
    dass meine Zeit verrinnt
    Wie Sand durch meine Kinderhände

    Ich habe die Schalen meiner Kindheit abgelegt
    Und nun zerschneidet triviales Bürorauschen
    In messerscharfen Stichen
    Meinen Kopf
    Ich habe mein Herz verschenkt
    Den Verstand verloren
    Und Zeit raubte mir zu viele Fragen

    Es ist kalt geworden
    Ich habe Kirschen gekauft
    Und kuschle mich heute Nacht
    In eine warme Decke
    aus Fotografien
    Voller Apfelblütenschnee


    (Benita Salomon aus Schriesheim, Deutschland, Kurpfalzgymnasium Schriesheim, Jahrgangsstufe 12, Muttersprache: deutsch)


    Abglanz

    Verlorene Jahre zu finden
    In diesem Buch
    Erneut sie an mich zu binden
    War mein Gesuch
    Die Bilder bunt, voller Kinder
    - einst kannte ich sie
    Doch was ich mit ihnen verbinde
    Das finde ich nie
    Die Fremden auf mattem Papier
    Ein Mädchen wie ich
    Sie wissen: einst waren sie wir
    Ich kenne sie nicht


    (Nora Heilke aus Neunkirchen, Deutschland, Nikolaus-Kistner-Gymnasium Mosbach, Jahrgangsstufe 13, Muttersprache: deutsch)


    Das Buch in grünem Einband

    Falsches Lächeln
    Gespielter Friede
    Festgehalten
    Für die Ewigkeit
    Nur Schauspieler
    Die Masken tragen
    Die uns verdammt
    Ähnlich sehen
    Wir sind das nicht
    Wir waren es nie
    Fotos sind tot
    Wir leben
    Wir riechen den Kaffee
    Von damals
    Wir spüren den
    Kirschbaum im Garten
    Wir erinnern uns
    An Herberts Geschichten
    Wir hören Clara
    Am Klavier
    Davon leben wir
    Und sind uns nah
    Weil es wirklich war


    (Janika Wehmann aus Bielefeld, Deutschland, Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasium, Jahrgangstufe: 13, Muttersprache: deutsch)


    Familienurlaub

    Aufgeklebtes Lachen
    Aus den Sommerseiten
    Gehalten von unserer Erinnerung
    Ans weite Meer
    Wo wir klein waren
    Geschmolzene Eislippen
    Zerflossen in Sonnenstrahlen
    Die unsere Herzen verbrannten
    Und deren fransige Enden wir fingen
    Obwohl nie einer gewann

    Verzogen und verstummt
    Sind die Worte
    Mit denen wir uns malten
    Zusammen vor Wasserlinien
    Die kichernd nach Zehen griffen
    Deren Spuren sie verwischen
    Schnell und gierig
    Den hellen Geschmack kostend
    Der auf unseren Zungen lag

    Der Wind trug Gerüche vorbei
    Nach salzigen Zitronenbäumen
    Und er spülte Sandkörner
    Zwischen das blasse Papier

    So verblichen einsam
    Sie den Boden nun bedecken


    (Sophie Garbe aus Tübingen, Deutschland, Uhland-Gymnasium, Jahrgangsstufe: 11, Muttersprache: deutsch)


    Sanduhr

    Im Album mit Aufnahmen
    Schlafen Splitter meiner Jahre.
    Sie sind meine Fata Morgana,
    Die ich auf dem Papier bewahre.

    Hier küsst die Sonne meine Sommersprossen.
    Ich mache mich mit jedem Unsinn groß.
    Hier baue ich riesige Sandschlösser,
    Und dann zerstöre ich sie schonungslos.

    Hier fühle ich die Welt in meiner Hand
    Und fange durstig jedes kleine Stück.
    Papier bewahrt die Jahre, aber Sand
    Kommt leider nie in die Sanduhr zurück.


    (Valentyna Bilokrynytska aus Tscherkassy, Ukraine, Cherkaska Himnazija Nr. 31, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: ukrainisch)


    Familienalbum

    Lächeln!
    Und schon wird´s wieder geknipst.
    Oma macht ein Piepsgesicht.
    Mein Bruder unterm Pferd,
    Mama als Seegurke,
    Opa mit den Hunden,
    Papa mit´ner pinken Schleife,
    die Hündin mit dem Frühstücksbrot.
    Alle hören Musik,
    die Tante versteckt sich.
    Die Kusine mit Gurken-Grütze-Salat verschmiert,
    die Enkelin mit Hochzeitskleid.
    Onkel fliegt über den Zaun,
    die Katze macht ´nen Purzelbaum.
    Und ich?
    Na, ich sehe hin...
    Wie jeder Augenblick in meinem Leben
    wichtig war.


    (Isabella von Wallwitz aus São Paulo, Brasilien, Colégio Visconde de Porto Seguro, Jahrgangsstufe 6, Muttersprache: portugiesisch)


    Familienbaum

    Hoch oben im Berg der Vergangenheit
    liegen sie alle:
    Väter, Söhne, Omas, Cousinen...
    Die Grabsteine reflektieren ihre Zeit,
    ihre eigene kleine Ruhmeshalle.
    Was ist mit denen die ich gar nicht kannte?
    Waren sie groß, dick, gescheit?
    Warum nahm sie die verruchte Todeskralle?
    Egal! Für mich waren sie was immer ich auch wollte.


    (Haris Poturkovic aus Zenica, Bosnien und Herzegowina, Erstes Gymnasium in Zenica, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: bosnisch)


    Traurige Erinnerung

    Stille. Ein Krach.
    Das Bild zerspringt.
    Draußen. Es gießt wie aus Kübeln.
    Mama weint. Schwester weint.
    Aber wo bist du?
    Die Leere die du hinterlassen hast,
    kann ich nicht füllen.
    Du bist verschwunden, einfach weg.
    Papa. Wir vermissen dich.


    (Klaudia Kochanek aus Landshut, Deutschland, Ursulinen-Realschule-Landshut, Jahrgangsstufe 9, Muttersprache: polnisch)


    Kindheitsalbum

    Kein Gedenken
    Ich baue keine Spielkarten aus Sand.
    Ein dunkles Zimmer, schwaches Holz-Licht.
    Ein Spaziergang mitm weinroten Kinderwagen
    und die blauen, feierlichen Lämpchen.
    Das weisse Kommunionkleid,
    - war nicht mein.
    Und ich gehe schlafen,
    ohne mir ein Kindermärchen anzuschauen.


    (Anna Bernat aus Radom, Polen, Ogólnoksztalcaca Szkola Sztuk Pieknych, Lyzeum für angewandte Künste, Jahrgangsstufe 10, Muttersprache: polnisch)