Donnerstag, 28. März 2024


Die »lyrix«-Gewinner im September 2013

Kann man Porträts sehen, lesen und hören? Welche Geschichten erzählen die Bilder? Was steht hinter ihnen? Und wie bringt man zum Ausdruck, was die Bilder vermitteln?

31.10.2013
    Im September besuchte »lyrix« das Ausstellungsprojekt "Unter vier Augen - Porträts sehen, lesen, hören" der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Für dieses verfassten 50 zeitgenössische Intellektuelle Essays, Gedichte, Impressionen und Geschichten zu jeweils einem Porträt. Die entstandenen Texte beleuchten die Gemälde aus den verschiedensten Perspektiven.

    Genauso habt ihr es in euren Gedichten gemacht. Durch verschiedene Blickwinkel habt ihr unterschiedlichste Geschichten erzählt.
    Die Grundstimmung eurer Gedichte ist zumeist melancholisch. In manchen Gedichten lösten die "Geschwister" ihre Banden und brachen auf, um in fernen Ländern ihr Glück zu finden. "Andere Geschwister" hatten ihre Wünsche, Träume und Hoffnungen schon längst verloren und lebten aneinandergebunden zusammen, aber dennoch alleine.
    So geht es auch dem "Mädchen mit Katze" in euren Gedichten: Sie muss angepasst an die Gesellschaft leben, würde jedoch viel lieber hinaus, um die Welt zu erkunden. Puppengleich maskiert sie sich, um ihre Trauer zu verbergen. Ihr Wunsch ist es, endlich Freiheit zu erlangen.

    Vielen Dank für eure Einsendungen! Hier sind die fünf Gewinner-Gedichte:

    Geschwister von Erich Heckel (Bild: Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen)
    Erich Heckel (1883-1970)
    Erich Heckel (1883-1970) (Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen)
    Die folgenden Gedichte sind zu dem Gemälde "Geschwister" entstanden:


    Geschwister

    Als die Uhren noch langsamer schwammen,
    als Konsequenzen noch ein Fremdwort war,
    Da waren wir noch eins.
    Wie graugrüne Laicheier klebten wir aneinander,
    Mal rieben wir uns und es sprangen Funken,
    aber nie waren sie groß genug,
    uns in Brand zu stecken.
    Als wir anfingen zu schwitzen,
    Als plötzlich Andere wichtig waren,
    da fingen die Silberfäden an, zu reißen.
    Unfreiwillig hinter den Schultern versteckt,
    der andere immer einen Schritt voraus.
    Skeptisch vorausberechnend stolziertest du,
    während ich noch in den Kinderschuhen stolperte.
    Als wir ins kalte Wasser fielen,
    als wir Entscheidungen trafen,
    da lebten wir nur im gleichen Nebel.
    Jeder sein eigenes Leben,
    Ziele, Wünsche verfolgend.
    Den abgestumpften Blick in die Zukunft.
    Arbeit, um zu leben.
    Als die Uhren langsamer trieben,
    als die Welt unsere Sprache verlor,
    da sponnen wir ein gemeinsames Netz.
    Lauschend am rauschenden Bach,
    der uns einsam machte,
    verweilten wir bis zum Ende.
    Hand in Hand.

    (Luise Charlotte Behr aus Dresden, Evangelisches Kreuzgymnasium Dresden, Klasse 11, Muttersprache deutsch)



    Frag nicht!

    Geschlechterrollen hatten noch nie
    wirklich Sinn und überhaupt
    sollte ein kritischer
    Gedanke nicht ein rein
    kritischer Gedanke sein?

    ganz abgesehen von den Ohren bist
    du doch auch nur
    wie ich ganz ohne
    die Frage der Vernunft
    über die wir alle,
    wir beide verschieden
    absolut erhaben sind

    ob du nun weinst
    ich nachdenke oder uns
    die Farbe der Kleider
    anders wirken lässt
    ist das wohl die
    einzige sinnvolle Antwort!

    siehst du etwa da irgendwo
    ein Lächeln in meinem Gesicht?
    wo deines ist braucht
    niemand wieder zu fragen
    keiner will ja ernsthaft
    behaupten uns stiegen
    die Wellen aus dem
    Schleier empor

    Nein! Um bei der Sache
    zu bleiben, so kann
    der Inhalt der Augen
    dem Inhalt der Augen
    im Inhalt der Augen
    wegen sich selbst
    schädlich, um nicht
    töricht interpretierbar
    zu sein

    wenn ein Betrachter
    angestrengt nach einer
    Zuflucht vor uns
    in uns sucht
    wird er sie wenn
    er sie sucht
    bei sich in uns
    finden

    (René Kartes aus Riegelsberg, Gymnasium am Schloss Saarbrücken, Klasse 11, Muttersprache deutsch)



    Geschwister

    Alles hinter uns gelassen
    alle Brücken angezündet
    und den grauen Menschenmassen
    ihren Untergang verkündet.
    Nun sind wir zu zweit alleine
    auf der ewiglangen Suche
    und wenn ich vor Kälte weine
    halt mich fest unter der Buche!
    "Schwester, meiner Lippen Honig
    sag, was ist da, in der Ferne?"
    Antwort gibt sie mir lakonisch:
    "Nur die selben alten Sterne."
    Doch ich seh’ die Nebeldecke
    die auf unserm Wege liegt
    und auch wenn ich mich verstecke
    fallen muss, wer ewig fliegt.

    (Vladimir Schadrin aus Blieskastel, Von der Leyen-Gymnasium, Klasse 11, Muttersprache russisch)



    Geschwister
    Auf einem Schiff sind wir die Segel
    ohne Hemmung spielen wir
    Zwiegespräche führen wir
    mit Flut oder dem Wasserpegel
    Auch wenn wir manchmal glauben wollen
    einzeln groß und stark zu sein
    halten wir doch stets zusammen
    wenn Donner übers Schiffsdeck rollen
    Es ist kein Kompass der uns weist
    Weg und Ziel und Reim und Richtung
    unsrem Schiff im Meer der Dichtung
    Dem Schiffe das Familie heißt
    Die Furcht sie trennt und hält zusammen
    ungewiss ist unsre Zukunft
    offen noch der Horizont
    so fern dem Hafen dem wir entstammen

    (Karen Schmitt aus Weinheim, Werner-Heisenberg-Gymnasium, Klasse 11, Muttersprache deutsch)



    Mädchen mit Katze von Jean-Baptiste Perronneau (Bild: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe)
    Elisabeth Fleck bezieht sich in ihrem Gedicht auf das Porträt "Mädchen mit Katze".


    En la galería

    Ich schau sie an –
    sie schaut zurück –
    ich blinzle,
    rück ein kleines Stück,
    schau wieder hin –
    sie schaut vorbei,
    als wäre ich ihr einerlei.

    Ich neig den Kopf –
    sie blicket starr –
    ich beug mich vor und ...
    ich verharr.
    Sie schaut vorüber
    zu den Kind',
    die im Portrait links spielend sind.

    Ich fletsch die Zähne –
    nichts passiert –
    ich greif das Bild ganz ungeniert
    mit einem Ruck –
    sie glotzet stumm –
    ich dreh das Bild verkehrt herum.

    Ich schau es an –
    es baumelt leicht –
    ich zieh die Stirn kraus,
    find, es reicht.
    Ein letzter Blick,
    der Gang ist leer,
    beschwingt schreite ich vor mir her.

    (Elisabeth Fleck aus Jena, CZG Jena, Klasse 12, Muttersprache deutsch)



    Und hier die Gewinner "außer Konkurrenz"

    (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)


    Metropolitan

    Führerlos sind meine Züge,
    schleierhaft ist mein Gesicht,
    jede Wahrheit, jede Lüge,
    all jene, die verbirgt sie nicht,
    gab auf ich, ohne zu probieren,
    denn fruchtlos wird es heute sein,
    mich zu verfälschen, zu maskieren,
    die Tunnel werden mir verzeih'n.
    Wir alle blicken in die Spiegel,
    du siehst mich, ja
    genau wie ich
    zu lösen Banden, Schlösser, Riegel,
    ich kenne dich, ich kenne mich.
    Die Dunkelheit des hellen Tages,
    sie hat uns sanft nun fort gebracht,
    es trägt die Seele Hoffnungsfarben,
    es schläft das Bild, in tiefer Nacht,
    und nicht verbergen können wir,
    was immerzu wir denken, tun,
    wir sind die Spiegel unsres Seins,
    reflektierend, niemals ruhn',
    'drum lehne dich zurück, mein Kind,
    mein Liebling, ach schau mich nicht an,
    im Zwielicht sehe ich dein Hadern,
    ich seh', was man dir angetan,
    ich sehe deine Ängste,
    Bangen,
    und sehe auch, wenn du verzagst,
    ich höre deine Worte klar,
    bevor du sie zu sprechen wagst.

    (Julia Fourate aus Nordhofen, Mons-Tabor-Gymnasium, Klasse 13, Muttersprache deutsch)