Mittwoch, 24. April 2024


Die »lyrix«-Gewinner im September 2014

Im September haben wir nachgefragt, was ihr mit dem Begriff 'Grenzerfahrungen' verbindet. Eure Gedanken dazu waren nicht nur gut formuliert, sondern auch kritisch.

29.09.2014
    Schlauchboot treibt mit Flüchtlingen aus Afrika auf dem Mittelmeer.
    Die italienische Marine hat 4000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer aufgegriffen. (dpa / Italian Navy Press Office )
    Die Gewinner der September-Runde von »lyrix« betrachten unser Motiv 'Grenzerfahrungen' wieder einmal aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. System- und Gesellschaftskritik stehen bei vielen Texten im Mittelpunkt, beispielsweise in Form von Verwunderung über die Gewalt, die Flüchtlinge weltweit seit Jahrhunderten und auch heute immer wieder erfahren müssen. Doch in manchen Texten geht es auch um die Entdeckung innerer Grenzen, den Drang sich gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen zu müssen und den Wunsch nach Freiheit.
    Die Monatsgewinner, September 2014:
    Dunkelheit,
    Die uns umgibt.
    Sind eingeschleiert und
    Finden nicht
    Den Weg zueinander
    Oder voneinander weg,
    Sind geblendet vom Dunkel,
    Haben die Grenze entdeckt.
    Versuche
    Zu waten,
    Durch den Nebel zu dir,
    Strecke die Hand
    Ins Nichts
    Spüre nur distanzierte Kälte,
    Da, wo du einst warst,
    Kriege dich nicht zu fassen,
    Habe meine Grenze entdeckt.
    Du
    Waberst herum
    Durch meine Gedanken,
    Lässt dich nicht blicken,
    Doch immer spüren.
    Irgendwann warst du da
    In meiner freien Welt
    Und hast alles zerstört,
    Denn du hast Grenzen gezogen.
    Ich
    Stehe jetzt
    Hinter dem Zaun,
    Scheint neu,
    Doch voll Rost
    Und frage mich, weiß nicht,
    Wie du dazu kamst,
    Wo du dein Recht gesehen hast,
    Ihnen allen Grenzen zu zeigen,
    Wo doch eigentlich
    Niemals welche sein sollten.
    (Verena Brocker, Jahrgang 1997)

    Orientierungslos

    Wir haben den Blick für die richtigen
    wichtigen Dinge verloren.
    Wir leben am Limit
    Drehen unsere Kreise
    und kommen nicht mehr runter
    Immer schneller und schneller
    Wir konsumieren, addieren
    Immer mehr und immer mehr
    Trinken noch einen Schluck,
    schlucken die nächste Pille
    Wir überwinden Grenzen
    Tag für Tag, Nacht für Nacht
    Wir schmieden Pläne
    und lassen uns selbst fallen.
    Fühlen uns dreckig und leer
    Und treiben dahin.
    Haben keinen Appetitt
    Denn alles schmeckt gleich
    Nach Blut und Metall
    Wir Folgen dem Licht
    Versinken in der Spirale
    aus Kotze und flüssigem Glück
    Wir gehen nicht mehr schlafen
    Denn wir schlafen, wenn wir tot sind.
    Wir können sein, wer wir sein wollen
    Und sind doch niemand.
    Gehen nicht nur bis an unsere Grenzen,
    Sondern über sie hinaus
    Tag für Tag, Nacht für Nacht
    Wir tanzen am Abgrund
    Um lebendig zu sein
    Treiben blind umher
    Weil wir den Faden verloren haben
    Und suchen das große Glück.
    Wir tanzen im Stroboskop, Kaleidoskop
    Und alles verschwimmt
    Weil nichts mehr ist.
    Nur die Lichter rauschen an uns vorbei
    Wie ein Gewitterzug
    So laut wie Donner
    Und heller als jeder Blitz.
    Wir bauen uns unsere eigenen Grenzen
    Und überwinden sie
    Tag für Tag, Nacht für Nacht
    Denn wir rasten, wenn wir tot sind
    Wir ersticken an all unseren Träumen
    Haben Angst vor dem, was kommt.
    Weil wir alles sein können
    Wollen wir gar nichts sein
    Wir brauchen Grenzen,
    Um immer mehr von uns selbst zu verlieren
    Tag für Tag, Nacht für Nacht
    Doch wer glaubt an uns?
    Wenn wir es selbst
    nicht einmal tun wollen.
    Denn wenn wir alles sein können,
    Sind wir dann noch wir selbst?
    Wo sind wir dann?
    Wenn wir alles sein können,
    Ist es nicht viel wahrscheinlicher,
    nicht der richtige zu sein?
    Wir öffnen tausend Türen
    Treten schlagen rennen sie ein
    Laufen in die Welt voll Möglichkeiten
    Und bleiben nie stehen.
    Reißen unsere Augen auf
    Versuchen alles zu erfassen
    Und sehen doch nichts.
    Ihr habt uns die Wände genommen
    Und wenn es keine Wände gibt
    Dann gibt es auch keine Grenzen
    Doch woher sollen wir dann noch wissen, dass wir
    am Leben
    sind?
    (Vivian Knopf, Jahrgang 1999)
    Grenzerfahrung sammeln
    Frei und freier und am freisten
    und wer würde sich erdreisten
    diesen Grundsatz allen Lebens,
    dieses Ziel all unsres Strebens
    auch nur einmal anzuzweifeln?
    Freiheit gilt für alle Menschen,
    gleich, das darf wohl jeder sein,
    doch weil wir hier gleicher sind,
    lassen wir nicht jeden rein.
    Alle haben gleiche Rechte,
    wenn sie nur so sind wie wir,
    ihr dürft gleich auch wieder gehen,
    denn ihr seid ja nicht von hier.
    Wir sind doch kein Menschenspeicher,
    ihr könnt euch bei uns bedanken,
    schließlich seid ihr durch die Schranken
    um die Grenzerfahrung reicher.
    (Marcel Wendler, Jahrgang 1995)
    grenzen los
    von zwängen in die enge getrieben
    grenzt sich die gesellschaft ein mein
    korsett wird enger geschnürt schürt
    die egalität
    warte kind male nicht
    über die linie denn
    du musst mitgehen den rand sehen
    im takt bleiben und
    erleiden was die masse bestimmt
    wie sehr warte ich auf ein wunder
    auf den tag an dem
    die konvention abbiegt und
    hinter der nächsten kurve
    verschwindet
    denn
    komm
    wir reißen die gren-
    zen auf ein dauerlauf
    der nervenzellen
    lasst uns sehen wie töne verschmelzen wie farben
    klingen und düfte schmecken
    lasst uns zauberhafter leben und
    nach unendlichkeit streben
    lasst uns das
    „höher schneller weiter"
    sperren und stattdessen lernen
    dass hinter der grenze
    die freiheit liegt.
    (Jing Wu, Jahrgang 1995)
    Rennen
    Fast jeden Tag erkennst du deine Grenzen,
    fast jeden Tag sagst du ihnen Ade.
    Von Angst getrieben tut es noch mal weh.
    Und während Mut und Ehrgeiz in dir glänzen
    rennst du mal wieder in die schwarzen Träume,
    die bunt in deinen Fantasien leuchten.
    Als ob Gedanken Freiheitslieder bräuchten,
    zersprengst du mit dem Schreien Lebensräume.
    Und jede Nacht läufst du mit bittrem Weinen
    und jede Nacht bemerkst du den Verlust.
    Du schreist und fällst, den grauen, harten Steinen
    zeigst du in der Verzweiflung deinen Frust.
    Du denkst daran, wie du demnächst in seinen
    so starken Armen liegst. Du hast gewusst:
    Das Tor wird uns wie ewig Tote trennen,
    mir bleibt das Fliehen, bleibt nur noch das Rennen.
    (Jana Wüsten, Jahrgang 1999)
    Und hier ein Beitrag "außer Konkurrenz":
    (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)
    FRONTEX
    schwarze Nacht umhüllt meinen
    Freund nur Zentimeter von mir
    entfernt. allein ein Suchscheinwerfer
    spiegelt sich in seinen Augen. die See
    leckt an der Reling als spürte
    sie die Angst die unsere Blicke
    beherrscht. eine fremde Stimme
    tönt durch die Dunkelheit und verheißt
    das Ende. warum nur wir? alles verloren
    bleibt uns nur die Hoffnung auf
    eine Welt die nun zu wanken beginnt
    als ein großes Schiff auftaucht
    Leitern fallen Soldaten entern.
    Waffen zerstören Welten und
    in diesem Moment zwischen
    nirgendwo und irgendwo
    beten wir dass sie nicht Leben zerstören.
    mit erhobenen Händen gehen wir
    der Ungewissheit entgegen.
    (Katrin Moll, Jahrgang 1996)