Dienstag, 19. März 2024

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Die Macht der Peergroups

Nirgendwo in Europa gibt es derartige Gewaltexzesse unter Jugendlichen wie in England. Der soziale Zusammenhalt geht verloren. Von Armut, sozialem Abstieg und häuslicher Gewalt ist in den Akten der jugendlichen Straftäter zu lesen. Darüber, wie der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden könnte, herrscht Ratlosigkeit. Eine Reportage von Ruth Rach.

28.05.2008
    Schwarze gefütterte Parkas, schwarze Handschuhe, schwere Halsketten. Fünf afrokaribische Jungs und ein Pakistani in einem Klassenzimmer im Waltham Forest College, Ostlondon.

    "Früher haben sie dich nur verletzt, heute wirst du abgeknallt. Oder erstochen."

    "Ich geh nicht mehr aus meinem Revier heraus."

    "Früher konntest du bis nach Seven Kings gehen. Jetzt sind dort so viel Banden, da kommst du nicht mehr durch."

    "Respekt, Respekt… Es geht immer nur um Respekt. Wer bist du? Wen kennst du? Was hast du an dir? Ein Schritt auf ihrem Revier, und du riskierst dein Leben."

    Sie sitzen dicht beieinander, eine geschlossene Front. 17, 18 Jahre alt - vorbestraft, vom normalen Schulbetrieb verbannt. Sie "beklagen" die jüngeren. Die heutige Jugend sei noch schlimmer.

    "Mit elf sind sie noch friedliche Bürschchen. Mit 13 sind sie verdorben. Und mit 15, 16 erreichen sie ihr Maximum. Sie beruhigen sich nur, wenn sie im Knast sind, oder tot."

    "Wie du dich schützen kannst? Indem du jemand bist. In Edmonton kennen sie uns, aber in Tottenham wirst du abgemurkst."

    "Ich lebe in Marsda. Im Ghetto. Wenn du zu keiner Gang gehörst, hast du keine Chance, in Frieden zu leben."

    "Früher bekämpften sich größeren Viertel. Heute sind es schon die einzelnen Wohnblocks, der Krieg rückt immer näher","

    erzählt Angela Harvey, ihre Lehrerin auf dem Rückweg im Auto.

    ""Manche meiner Schüler haben ein dickes Stück Holz unter der Jacke, und wer es sich leisten kann, trägt eine kugelsichere Weste. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich die Klasse aufrufe - wo ist der und der - und die Schüler sagen: Miss, der wurde gestern abend erschossen."

    Manche Schulen haben Polizisten eingestellt. Manche installieren Metalldetektoren, um die Schüler auf Waffen zu kontrollieren. "Im Dschungel unserer Großstädte wächst eine Generation von Kindersoldaten heran", klagt die Tageszeitung The Guardian. Aber: Wo sind eigentlich die Eltern, wo die Communities? fragt Shaun Bailey, ein schwarzer Streetworker. Er hat in den berüchtigten North Kensington Estates in Westlondon ein Gemeindezentrum aufgebaut:

    "In keinem anderen Land Europas ist der Zerfall der traditionellen Familie derart fortgeschritten wie in Großbritannien. In keinem anderen Land verbringen Kinder so wenig Zeit mit ihren Familien, und so viel Zeit mit gleichaltrigen Peergroups. Bei uns haben Peergroups viel mehr Macht als Familien."

    Shaun Bailey ist selbst in den North Kensington Estates aufgewachsen - ohne Vater, wie viele afrokaribische Kinder. Aber damals hätten die Erwachsenen darauf geachtet, dass Kinder in ihrer Nachbarschaft nicht vom richtigen Weg abkommen. Heute verschanze sich jeder hinter seiner eigenen Tür.

    "In Großbritannien heißt es ständig: Wo ist der Staat, der soll doch etwas unternehmen. Aber der Staat kann nicht Familienvater spielen, je mehr er interveniert, desto mehr werden die Bürger entmündigt."

    Gangs sind kein ausschließlich schwarzes Problem, sagt Shaun Bailey: aber in vielen Problemvierteln leben besonders viel Schwarze. Deswegen sind sie sind besonders betroffen, als Täter und als Opfer.

    Gleich um die Ecke von den North Kensington Estates wohnt die Schickeria von Notting Hill. Filmstars. Politiker. Eine andere Welt. Regierungsmaßnahmen von oben bringen wenig, sagt Shaun Bailey. Initiative haben nur dann eine Chance, wenn sie von der örtlichen Gemeinde ausgehen und getragen werden.