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Die Mär vom gerechten Krieg

520 Seiten Zitate und Paraphrasen von 1892 bis Ende 1941, ein kurzes Nachwort und etwa 90 Seiten Quellennachweise - das ist "Menschenrauch", Nicholson Bakers Buch darüber, wie im Zweiten Weltkrieg Wahrheit, Menschlichkeit und Zivilisation auf der Strecke geblieben sind. An allen Fronten, bei allen Kriegsparteien - und vielleicht auch schon vor dem eigentlichen Kriegsbeginn, im präventiven Reden über den Krieg, der kommen würde und geführt werden müsste.

Von Michael Schmitt | 29.03.2009
    Die Texte stammen aus Zeitungen, Tagebüchern, Aufsätzen, Magazinen und Büchern von Zeitgenossen. Jede einzelne Stelle kann für sich allein als Miniatur zum Thema betrachtet; alle gemeinsam ergeben sie ein Mosaik, mit dem Baker zeigen will, dass der Zweite Weltkrieg zu keinem Zeitpunkt ein moralischer "guter Krieg" gewesen ist, auch wenn er gegen Nazideutschland geführt worden ist, und dass dieser Krieg auch niemanden geholfen habe, der wirklich in Not gewesen sei.

    Baker argumentiert dabei nicht wie ein Fachhistoriker, er hat keine Monographie oder ein Lehrbuch geschrieben. Er deutet die Quellen nicht wie ein Wissenschaftler und wägt sie nicht im Einzelnen gegeneinander ab - er kompiliert statt dessen ein Nebeneinander und Gegeneinander von politischen Meinungen, Verlautbarungen, Appellen und Kommentaren.

    Dieses Buch dokumentiert eine Gärung von Redeweisen über Sinn und Charakter sowie über den unumgänglichen Zynismus der Kriegsführung. Es holt weit aus - und erinnert im Kern - weil es immer darum geht, wie mit Hilfe der Sprache die Welt "gefasst wird" - trotzdem an die Kammerspiele mit denen Nicholson Baker sich seinen guten Namen als Schriftsteller erworben hat.

    Auch "Checkpoint" war 2004 kein Aufruf zum Morden, sondern vor allem ein Buch über eine Aufwallung in einem empörten Menschen, den der zweite Irakkrieg so verstört, dass er darüber nachdenkt und redet, ob man George W. Bush vielleicht ermorden sollte. Und "Vox" war 1992 schließlich auch ein Roman, in dem es nur am Telefon um Sex ging - um das Reden darüber, es war keine Pornographie.

    "Menschenrauch" handelt demgegenüber natürlich von einem weitaus brisanteren Thema - der Zweite Weltkrieg hat 50 Millionen Menschen das Leben gekostet. Aber man sollte die früheren Bücher von Baker trotzdem nicht vergessen, wenn man über "Menschenrauch" nachdenkt - selbst dann nicht, wenn man "Menschenrauch" auf ein paar Kernthesen reduziert und sie mit dem gängigen Bild von diesem Krieg vergleicht: Wenn Baker sagt, dass eine Katastrophe wie der Zweite Weltkrieg mehr als nur ein Kraftzentrum haben muss, oder dass Winston Churchill und Frank Delano Roosevelt keine geringen Anteil am Ausbruch dieses Krieges haben, dass nicht nur Nazideutschland es auf einen Waffengang angelegt hat.

    Winston Churchill, anfangs Erster Seelord, dann britischer Premierminister, steht über weite Strecken im Mittelpunkt, weil er diesen Krieg nach Hitlers Überfall auf Polen führen will und ihn ständig eskaliert. Der amerikanische Präsident Roosevelt wirkt energisch im Hintergrund durch die Unterstützung der Briten und durch ständige Sticheleien im pazifischen Raum und in China gegen Japan.

    Und Hitler? Der steht, weil "Menschenrauch" sich an einer weltweiten Perspektive versucht, tatsächlich nicht immer als die eine zentrale Person im Vordergrund, die für alles Böse zuständig ist. Weil aber, ungeachtet der bewussten Lückenhaftigkeit der Gesamtdarstellung des Krieges und seiner Vorgeschichte, alle wesentlichen kriegstreiberischen und polen- oder judenfeindlichen Reden Hitlers und alle entsprechenden nationalsozialistischen Aktionen dieses Buch wie ein Gerüst durchziehen, kann von einer Relativierung in Sachen "Kriegsschuld" oder gar von einem nivellierenden Vergleich der drei genannten Politiker keine Rede sein.

    Baker bringt statt dessen ins Spiel, was die meisten seiner Kritiker wohl lieber übersehen würden: Es gibt, besonders in Großbritannien, eine koloniale Tradition der Kriegsführung, die in den zwanziger Jahren in Indien, im Sudan und in Peschawar schon ausprobiert und dann gegen Deutschland wieder aufgegriffen wird - nämlich die Idee vom Bombenkrieg. Und es gibt auch schon die Idee vom großangelegten Gaskrieg - und das nicht erst seit die Italiener auf diese Weise gegen die Äthiopier vorgegangen sind. Das alles ist ein Erbe des Ersten Weltkrieges, kommt zwischen 1914 und 1918 aber nicht zur Entfaltung. Winston Churchill geht darauf in seiner Darstellung des Ersten Weltkrieges im Jahr 1929 deutlich ein:

    "In diesem Krieg sei vieles neu gewesen", schrieb Churchill. Zum Beispiel: "Es wurde planmäßig und teilweise erfolgreich der Versuch unternommen, ganze Nationen durch Aushungern zu besiegen." Aber alles Geschehene sei nichts im Vergleich dazu, was geschehen wäre, hätten die Deutschen noch bis ins Jahr 1919 weitergekämpft, schrieb er. "Extrem giftiges Gas", hätte jeden Widerstand beendet. "Tausende von Flugzeugen hätten ihre Städte zerstört."
    Stattdessen hätten die Kampfhandlungen urplötzlich aufgehört: "In Hunderten Laboratorien, in Tausenden Arsenalen, Fabriken und Büros sprangen die Leute von ihren Sitzen hoch und ließen fallen, womit sie gerade noch beschäftigt gewesen waren."
    Doch die Nichtkombattanten, deren Arbeit unterbrochen war, fänden früher oder später Gelegenheit, ihre Pläne aus dem Jahre 1919 weiterzuverfolgen, prophezeite Churchill. "Der Tod steht bereit", schrieb er, "gehorsam, ungeduldig, dienstwillig, bereit, die Völker in Massen niederzumähen; bereit, wenn aufgefordert, ohne Hoffnung auf Wiedergutmachung all das zu zermalmen, was von unserer Zivilisation verblieben ist. Er wartet nur auf das Kommando."


    Das ist pathetisch, das ist zynisch, aber es ist ein Geist, der weltweit aus der Flasche gerufen worden ist und den nun niemand mehr bändigen kann. Denn natürlich gibt es auch in Deutschland Vorstellungen vom nächsten zeitgemäßen Krieg, die nicht weniger brutal sind, nicht weniger menschenverachtend. Was Baker durch seine Collage herausstellt, ist eine Korrespondenz solcher Vorstellungen über Grenzen und Gesellschaftssysteme hinweg; sie ähneln sich strukturell und unabhängig davon, ob sie in einer Diktatur oder in einer Demokratie propagiert werden.

    Frederick Birchall, der Berliner Korrespondent der New York Times, schrieb einen Artikel über Deutschlands Kriegsvorbereitungen. Es war der 8. Oktober 1933.
    Birchall zitierte aus dem erst kürzlich publizierten Buch von Ewald Banse, einem Lehrbeauftragten an der Technischen Hochschule Braunschweig. Es trug den Titel "Wehrwissenschaft". "Krieg aber ist heute nicht mehr ein frischer, fröhlicher Feldzug mit Regimentsmusik und Siegesfahnen und einem Füllhorn von Orden, sondern ist ein blutiger Kampf und in Sonderheit Materialschlacht, er ist Gas und Pest, er ist Tank und Fliegerschrecken, er ist Hunger und Armut", schrieb Banse. Und weil der Krieg so schrecklich sei, müsse er in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden als eine neue umfassende Wissenschaft.
    (...)
    Birchall konzentriert sich insbesondere auf eine Stelle in Banses Buch, worin der Autor beklagte, Frankreich habe während des Ersten Weltkriegs zwar versucht, bakteriologische Waffen gegen Deutschlands Getreide und Vieh einzusetzen, der Plan sei allerdings fehlgeschlagen. Die Technik müsse jedoch genauer untersucht werden. Für eine schwache Nation wie Nachkriegsdeutschland, das entwaffnet und ohne Verteidigung dastehe, sei die bakteriologische Kriegsführung - "in Betracht kommen die Verseuchung des Trink- und Gebrauchswassers durch Typhusbazillen, ferner die Einführung des Typhus durch Flöhe sowie der Pest durch künstlich angesteckte Ratten" - zweifellos die gegebene Waffe.


    Dieses Buch, notiert Baker, wird zwar schon wenig später von den Nazis verboten, aber das ändert nichts an Hitlers Rüstungspolitik. Auf der anderen Seite des Atlantiks können derweil die amerikanischen Isolationisten genauso wenig an der amerikanischen Politik im pazifischen Raum ändern wie einzelne pazifistische Stimmen in der Presse oder im Kongress. Immer neue Nadelstiche werden gegen Japan ausprobiert: Wenn ein amerikanischer Pilot im Sommer 1933 in China Jagdflugzeuge vorführt, die dann von der Regierung gekauft werden; wenn gewaltige Kredite im Sommer 1936 weitere chinesische Waffenkäufe ermöglichen sollen; wenn erste Pläne für eine mögliche Bombardierung japanischer Städte durch Shuttle-Angriffe geschmiedet werden - von den USA kommend über Japan hinweg zu Landeplätzen in China.

    Mit dieser kontrastierenden, aber nie direkt vergleichenden Parallelführung von Ereignisketten, die mal in Nazideutschland und mal in Großbritannien oder den USA ihre Ursprünge haben, hat "Menschenrauch" im vergangenen Jahr in den USA, in Großbritannien und auch schon im deutschsprachigen Raum eine laute Debatte ausgelöst. Geradezu mit Schaum vor dem Mund haben einige Rezensenten dem Buch seinen Mangel an geschlossener Erzählung und an Argumentation vorgeworfen und auf den fehlenden Kontext mancher Passagen hingewiesen. "Menschenrauch" zeige, dass Geschichte zu wichtig sei, um sie Romanschriftstellern zu überlassen, konnte man lesen. "Menschenrauch" stelle Churchill, Roosevelt und Hitler nahezu auf eine Stufe und verschreibe sich der Sache der Pazifisten, ohne zu berücksichtigen, wie wenig die Appeasement-Politik vor 1939 die Kriegs- und Eroberungslust der Nationalsozialisten habe eindämmen können.

    Ereignisgeschichtlich argumentierend hat Baker darauf geantwortet, dass Ende 1941 alle wesentlichen Bedingungen für den Untergang jedweder Zivilisation vorgelegen hätten: In Auschwitz habe der systematische Massenmord begonnen, die USA seien nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour in den Krieg eingetreten, und man habe in den USA seit diesem Zeitpunkt auch definitiv die Entwicklung der Atombombe betrieben.

    Die entscheidenden Impulse für die Arbeit an diesem Buch aber wird man in Bakers Ablehnung des zweiten Irak-Krieges seit 2003 sehen müssen. "Menschenrauch" bezieht letztlich am historischen Beispiel Stellung gegen einen aktuellen öffentlichen Diskurs, der im Zeichen des "Krieges gegen den Terror" weltweit nur noch "Freund-Feind"-Konstellationen herausgestellt und die Idee einer "Weltpolizei für Freiheit und Demokratie" nur mehr als bewaffnete Wallfahrt vorgeführt hat. Aldous Huxley hat schon 1937 gegen eine solche Politik geschrieben - wer denkt dabei heute nicht automatisch an den Irak und an Afghanistan?

    Eine internationale Polizei, nach der die Menschen riefen, sei der falsche Weg und überdies eine Fehlbezeichnung, glaubte Huxley. "Die Polizei handelt mit höchster Präzision; sie nimmt den Schuldigen fest", schrieb er. "Nationen und Staatenbünde handeln durch ihre Streitkräfte, die nur ganz ungenau vorgehen können und Millionen von Menschen, die in ihrer überwältigenden Mehrheit keinerlei Verbrechen begangen haben, töten, verstümmeln, aushungern und vernichten." Eine internationale Polizeitruppe bedeute tatsächlich das Plazet für internationale Massaker. "Wenn man wahllose Massaker gutheißt, dann muss man sie auch so nennen", schrieb er. "Niemand hat das Recht, die Arglosen zu täuschen."

    Eine ähnlich suggestive Reihung von Zitaten hat 2005 schon einmal der amerikanische Essayist Eliot Weinberger in seinem Essay "What I Heard About Iraq" veröffentlicht. Aus Verlautbarungen des State Departments und anderen vergleichbaren Quellen hat Weinberger eine Chronik der Verlogenheiten vom ersten bis zum zweiten Irak-Krieg zusammengestellt, scheinbar unkommentiert, im Zusammenklang aber durchzogen von zersetzender Ironie. Bakers Verfahren erinnert daran - auch wenn er sehr viel humorloser zu Werke geht und mit der eigenen Empörung beim Paraphrasieren und Kommentieren nicht immer hinter dem Berg hält.

    "Menschenrauch" ist aber viel breiter angelegt als Weinbergers Essay - und nicht nur durch die klare Parteinahme für die Pazifisten sehr viel angreifbarer. Bakers Textcollage kann sich schließlich auf keinen Konsens darüber verlassen, wie sein Gegenstand zu bewerten ist. Schon Christopher Isherwood und Klaus Mann haben seinerzeit darüber gestritten - und Baker setzt sich dieser Frage nun auch wieder aus:

    Arbeitet man nicht der falschen Partei zu, wenn man die Mär vom gerechten Krieg hinterfragt, weil er mit Methoden geführt worden ist, die aller Moral Hohn sprechen?

    Die Engländer, die angekündigt hatten, keine Zivilisten und keine Kulturdenkmäler zu bombardieren, verhängten sofort eine Hungerblockade und warfen Flugblätter mit Warnungen ab.
    Wenige Stunden nach Chamberlains Kriegerklärung, stoppte die Ajax, ein patrouillierendes britisches Kriegsschiff, die Olinda, einen aus Montevideo kommenden deutschen Frachter der HAPAG. Britische Offiziere gingen an Bord des deutschen Schiffes und forderten Kapitän und Besatzung auf, ihre Sachen zu packen und in die Rettungsboote zu steigen. Dann beschossen die Briten das deutsche Schiff, das Getreide und Büchsenfleisch geladen hatte, und versenkten es. Niemand kam ums Leben.
    Im Nordatlantik erhielt der U-Boot-Kommandant Fritz-Julius Lemp den Befehl: "Nicht auf Angriff warten. Handelsschiffe entsprechend Einsatzbefehl angreifen." Im Dämmerlicht entdeckte er in der Ferne ein Schiff. Es war sehr groß, es war verdunkelt, es fuhr einen Zickzackkurs und sah aus wie der Feind. Also ließ er es torpedieren.
    Auf der SS Athenia, die mit 1400 Menschen an Bord - Kanadiern, Amerikanern und deutsch-jüdischen Flüchtlingen - von Liverpool nach Montreal unterwegs war, gab es eine riesige Explosion. Mehr als 100 Passagiere und Mannschaftsmitglieder starben durch die Explosion, wurden von Trümmern erschlagen oder ertranken.


    Muss ein Buch, dass sich mit dem Gräuel der modernen Kriegsführung befasst, untersuchen, wer wann und wo mit welchem Unrecht angefangen hat? Wer wann und wo einen Luftkrieg begonnen und dann die Lufthoheit erkämpft hat? Nicholson Baker liefert dazu nur gelegentlich Hinweise - wer dieses Buch mit Gewinn lesen will, muss ein bisschen Vorwissen mitbringen. Ihn interessiert viel mehr, wie schnell das alles eskaliert, wie fraglos das alles in Kauf genommen wird, und wie auf beiden Seiten daraus jeweils eine spezifische Strategie wird, die den massenhaften Tod von Nichtkombattanten akzeptiert. So wie es etwa ein Berater von Präsident Roosevelt berichtet:

    Churchill meine, man werde diesen Krieg nicht mit großen Truppenmassierungen auf beiden Seiten ausfechten. Es werde ein Krieg der Bomber werden - der Bomber und Blockaden. Er drückte die Hoffnung aus, "dass wir nicht zu weit gehen und irgendeines der besetzten Länder mit Nahrungsmitteln versorgen". In Not geratene, verzweifelte Völker würden sich von Hitler schwerer in Schach halten lassen.

    Fast alles an dieser Einschätzung erweist sich später als falsch; die Bombenteppiche werden nirgendwo das gewünschte Ergebnis haben, nur etwa ein Prozent der Bomben trifft die Ziele, der Rest regnet irgendwo auf die Zivilisten herab. Und nach dem Kriegseintritt der USA wird man sehr bald auch einsehen, dass nur eine Landung in Europa den Krieg wird entscheiden können. Aber Churchills Autorität wird in Großbritannien trotzdem nur hinter vorgehaltener hand hinterfragt. Und die USA entwickeln und schenken der staunenden Welt schon bald den "schweren Bomber", die "fliegende Festung".

    Zwar muss Roosevelt erst noch einen Wahlkampf gewinnen, ehe er die USA in den Krieg führen kann, aber weder die Stimmen derer, die traditionell Amerika aus den Streitigkeiten der übrigen Welt heraushalten wollen, noch die Wehrdienstverweigerer, die auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht reagieren, oder die Stimmen pazifistischer Schriftsteller können ihn davon abhalten. Denn viele noch lautere Stimmen drängen ihn dazu - und diesen ganzen gemischten Chor zum Klingen gebracht zu haben, ist eine Leistung, die man "Menschenrauch" hoch anrechnen muss.

    Es war der 17. Dezember 1940.
    Roosevelts Wort des Tages lautete "leihen". Lord Lothian hatte verkündet, England ruiniere sich mit dem Kauf von Waffen und brauche Militärhilfe. Doch offiziell waren die Vereinigten Staaten immer noch neutral. "Angenommen, das Haus meines Nachbarn brennt", sagte Roosevelt, "dann leihe ich ihm einen Schlauch, um das Feuer zu löschen. Hinterher gibt er ihn mir zurück. Falls ihm der Schlauch, was ja passieren kann, beim Löschen platzt oder beschädigt wird, kann er ihn mir durch einen neuen von derselben Länge ersetzen. Das Feuer ist aus, der Schlauch wird zurückgegeben, alle sind zufrieden. Und genauso wollen wir das machen. Wir leihen England die Flugzeuge und Schiffe. Was davon kaputtgeht, kann England nach dem Krieg ersetzen".


    Der amerikanische Schriftsteller Philip Roth hat vor einigen Jahren in seinem Roman "Verschwörung gegen Amerika" ausgemalt, was hätte passieren können, wenn die USA den Weg Roosevelts nicht gegangen wären. Wenn Roosevelt den Wahlkampf gegen den Flugpionier Charles Lindbergh verloren hätte. Wenn die Isolationisten und die Ultrarechten an die Macht gekommen wären.

    Solche "Was-wäre-wenn"-Spekulationen stellt Nicholson Baker in "Menschenrauch" nicht an, und er lässt sich auch nicht als Zeuge derjenigen vereinnahmen, die in den letzten Jahren, so wie W. G. Sebald und Jörg Friedrich, auf das besondere deutsche Leid während des alliierten Bombenkrieges hingewiesen haben.

    Das Explosive an "Menschenrauch" sind nicht die einzelnen Aussagen, sondern in der Art und Weise, wie sie das Gesamtbild von der "gerechten Sache" aushöhlen und jeden Stolz darauf untergraben. Das hat vielleicht mehr mit Psychologie als mit historischen Fakten zu tun - und erinnert von Ferne an die sogenannte "Fischer-Kontroverse" Anfang der Sechziger in der Bundesrepublik, bei der es darum ging, ob das Deutsche Kaiserreich den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu verschulden habe. Den Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland unbestreitbar zu verantworten, das war nicht zu bestreiten. Für das Jahr 1914 aber sollte gelten, was der ehemalige britische Premier Lloyd George als Nenner formuliert hatte: Alle europäischen Staaten seien hineingerutscht! Dann aber erschien Fritz Fischers Untersuchung "Der Griff nach der Weltmacht" und stellte heraus, wie sehr kaiserzeitliche Verbände, Politiker und Militärs auf einen Krieg gedrängt hatten - und ein Wutgeheul unter deutschen Historikern und auch unter Politikern war die Antwort.

    Vielleicht passiert um das Buch von Nicholson Baker herum gerade etwas ähnliches - und bezeichnenderweise werden in den heftigen Reaktionen, welche die Umwertung der "Schuldfrage" anprangern, zumeist die wieder einmal vergessen, die schon im Krieg unter die Räder gekommen sind: die Opfer, denen Nicholson Baker selbst viel Platz einräumt. Deren Schicksal seiner Art des Fragens zugrunde liegt.

    Otto Süsser kam mit Frau und Tochter Hilga am Pier 2 in Brooklyn an. Es war der 17. Mai 1941. Süsser hatte in Berlin in der Glasbranche - optische Gläser -gearbeitet. Im Oktober war er mit seiner Familie nach Moskau geflohen. Von dort waren die Süssers mit der transsibirischen Eisenbahn an die Pazifikküste gefahren. Nachdem sie schließlich Japan erreicht hatten, besorgte ihnen die jüdische Hilfsorganisation Jewish Joint Committee in Yokohama Visa für Costa Rica. Ein Frachter nahm sie bis Panama mit. Dort gestattete ihnen das Hafenamt aber nicht, panamaischen Boden zu betreten und auf dem Landweg nach Costa Rica weiterzureisen. Dann ging es nach Valparaiso in Chile. Auch dort wurde der Familie die Einreise verweigert. Ecuador und Peru wollten sie ebenso wenig ins Land lassen. Also kehrten die Süssers per Frachtschiff nach Panama zurück. Unterdessen war es dem Jewish Joint Committee gelungen, der dreiköpfigen Familie Visa für die USA zu besorgen. Auf dem Frachter Dona Nati (...) gelangten die drei schließlich nach Brooklyn. Bald, sagte Otto Süsser, wollten sie nach San Francisco weiterreisen. San Francisco sei von Anfang an ihr Ziel gewesen.

    Es ist bekannt, dass sich viele Länder dagegen gesträubt haben, Flüchtlinge aufzunehmen, und dass schon im Juli 1938 die internationale
    Flüchtlingskonferenz von Evian scheitert. Es ist auch bekannt - und Nicholson Baker notiert es mehrfach in seiner Chronik, dass es in den USA schon im Februar 1939 eine Vorlage für ein Gesetz zur Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingskindern existiert, die dann immer wieder verschleppt und nie beschlossen werden wird. Hat das amerikanische Volk die Fähigkeit verloren, auf tragische Situationen zu reagieren, fragen dazu die einen; die anderen aber würden eher 10.000 Dollar spenden, damit diese Kinder woanders unterkommen, statt zehn Cent dafür, sie in die USA hinein zu lassen.
    Die Begründungen für so etwas wirken fast immer paranoid.

    Das amerikanische Außenministerium verkündete, man befürchte, dass europäische Immigranten dem Land gefährlich werden könnten. Es war der 17. Juni 1941. Falls sie Angehörige zurückgelassen hätten, mutmaßte das State Department, könnten die Nazis sie zwingen, Amerika auszuspionieren, indem sie ihren Familien Folter androhten. Die Vereinigten Staaten würden daher keine Visa mehr an Flüchtlinge ausgeben, die Familienangehörige im besetzten Europa hätten. Diese Entscheidung galt für Deutschland, die Niederlande, Belgien, Norwegen, Frankreich, Polen und die Balkanländer.

    Auch heute finden sich Beispiele für ähnliches Elend und für ähnliche Ausgrenzung und Untätigkeit - auch das mag Nicholson Baker angetrieben haben. "Menschenrauch" lebt von und bebt mit der Empörung darüber - liefert aber keine Handlungsanweisungen für das 21. Jahrhundert. Auch dann nicht, wenn Baker die Stellungnahmen Mahatma Gandhis aus diesen Jahren herbeizitiert:

    Anfangs in den frühen Dreißigern ist Gandhi nur ein Stachel im Fleisch der Briten, der mit Erfolg eine gewaltfreie Bewegung gegen die britische Kolonialherrschaft propagiert. Dann aber folgen auch Kommentare Gandhis zur Lage in Europa - und die erscheinen vermutlich jedem, der sich an die Feindbild- und Kriegsrhetorik von damals und von heute gewöhnt hat, mehr als nur weltfremd. Er stehe zwar auf der Seite Großbritanniens, aber er können keinen Krieg befürworten, erklärt Gandhi; er erläutert auch, dass zwar jeder Diktator Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Opfern fordere, dass aber selbst Hitler auf Dauer mit einer gewaltfreien Bewegung nicht fertig werden würde.

    Das ist damals nicht versucht worden - und wohin es geführt hätte, kann keiner sagen. Worum geht es Baker also, wenn er das zitiert? Vielleicht einfach nur darum, sich einer Weise des Denkens wieder zu vergewissern, auf die damals kaum jemand gehört hat - und die gegenwärtig auch nur auf wenige Sympathisanten setzen kann. Das mit enormer Wucht zu tun ist die Leistung, sicher aber auch die Grenze dieses Buches.

    Nicholson Baker: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete.
    Deutsch von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld
    Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 576 Seiten