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"Die Mahlzeiten waren eigentlich ein Albtraum"

Der Albtraum vieler Eltern: Das eigene Kind leidet unter Magersucht. Das ist keine Laune, sondern eine lebensgefährliche Krankheit, eine besonders gefährliche Ausprägung einer Essstörung. Fachleute beziffern das Essverhalten jedes dritten Mädchens in Deutschland als gestört. Caroline Wendt hat das gleich zweimal durchgemacht. Ihre Zwillingstöchter hungerten sich fast zu Tode.

Caroline Wendt im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.02.2011
    Christoph Heinemann: Caroline Wendt hat ein Buch über diese Zeit geschrieben, das in den kommenden Tagen erscheint - Titel: "Ich kann nicht anders, Mama" - Untertitel: "Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter". Das Schlusswort stammt von Professor Manfred Fichter von der Psychosomatischen Klinik Roseneck. - Mit der Autorin Caroline Wendt sind wir jetzt verbunden. Guten Morgen!

    Caroline Wendt: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Frau Wendt, wir lernen Anna und Marie kennen als zwei völlig normale Mädchen. Wann und wie haben Sie bemerkt, dass mit Ihren Töchtern etwas nicht stimmte?

    Wendt: Karneval. In der Faschingszeit ist uns aufgefallen, dass Marie sehr wenig aß. Vorher schon, so um die Weihnachtszeit, hat sie mal stolz verkündet, sie wolle jetzt keine Süßigkeiten mehr essen und sie wolle ein bisschen dünner werden. Das fand ich anfangs noch ... Eigentlich habe ich gedacht, ja, wow, was sie für eine Disziplin hat, ich könnte das ja nicht, dann isst sie halt keine Süßigkeiten. Aber dann Fasching hat sie wirklich angefangen, wenig zu essen im Vergleich zu ihrem normalen Kinderverhalten, sage ich mal so.

    Heinemann: Was heißt wenig?

    Wendt: Wir waren zum Beispiel gerade in Skiurlaub und mittags waren sie auf der Hütte, da waren wir dann gar nicht dabei, und dann hieß es abends, sie isst nur ein Brot, weil sie hat schon so eine fette Dampfnudel auf der Hütte gegessen. Also es wurde auch immer so argumentiert: Da habe ich ja schon so viel gegessen, jetzt kann ich nur ganz wenig essen. Da haben wir uns schon gewundert und dann kippte auch schon, selbst in diesen Ferien kippte schon ein bisschen das Klima in der Familie, weil abends haben wir dann früher immer Chips gemampft, vorm Fernseher alle, Nüsse und so, und Marie hat sich daran dann nicht beteiligt, an keinem Abend. Das sorgte dann auch schon für Unmut bei ihrer Schwester. Das fand die Anna natürlich blöd.

    Heinemann: Frau Wendt, wann wurde Ihnen klar, dass das Leben Ihrer Kinder oder zunächst mal des ersten Kindes auf dem Spiel stand?

    Wendt: Um die Osterzeit. Mein Mann und ich haben dann so gesagt, ja, es ist Fastenzeit, okay, wir akzeptieren das jetzt noch, dass du so wenig isst, aber Ostern, Marie, muss wirklich gut sein. Dann hat sie immer gesagt, ja, klar, Ostern fange ich wieder an zu essen und ich bin auch eigentlich so zufrieden mit mir. Als dann Ostern die Schokoeier nicht angerührt wurden, da war eigentlich Alarm.

    Heinemann: Wie spricht man mit magersüchtigen Kindern über Essen, über Ernährung überhaupt?

    Wendt: Ganz schwierig, Herr Heinemann. Das ist eben die Krux. Das ist eigentlich das Hauptproblem. Essen und Reden hängen anscheinend so zusammen! Die Essstörung geht mit Kommunikationsproblemen einher, geradezu, was heißt: Das musste ich alles mir auch selber beibringen. Du darfst eben beim Essen das Kind nicht darauf ansprechen, dass es sich komisch verhält, dass es eben pickt oder so gut wie gar nichts mehr isst, oder dass es ja schlecht ausschaut. Ein essgestörtes Kind oder ein essgestörter Mensch reagiert, wenn du es direkt ansprichst darauf beim Essen, äußerst aggressiv und unzugänglich.

    Heinemann: Aber irgendwie muss man doch kommunizieren!

    Wendt: Ja. Man muss rankommen an die Seele und das war eben ein paar Mal möglich. Wir hatten wahnsinnig viel Streit in der Zeit, aber auch dann immer wieder Gespräche, wo ich gemerkt habe, die Marie, die leidet eben auch unter der Situation. Also es ist nicht so: Sie hat das zwar dann immer verteidigt, sie wäre doch ganz normal und alle Frauen würden aufs Essen achten und jede Frau will dünn sein und es ist doch gesund, Mami, so langsam zu essen. Also die argumentieren dich so richtig zu Tode zum Teil. Und da muss man relativ stark bleiben und sagen, nein, Kind, das ist nicht okay und ich spüre das, und dann kommt man in gute Gesprächsmomente mit dem Betroffenen. Also jedenfalls hatten wir das auch.

    Heinemann: Sie haben eben gesagt, das Klima kippte so um Ostern herum um. Wie hat sich diese Krankheit überhaupt auf das Familienleben ausgewirkt?

    Wendt: Eben kommunikationsschädigend. Diese Gespräche am Tisch mit so Teenagertöchtern und auch Teenagerjungs, das ist ja das gleiche. Man redet ja eigentlich am meisten beim Essen in der Familie, weil so viel macht man ja auch mit 14-Jährigen nicht mehr, und das hat uns total gefehlt. Die Mahlzeiten waren superverkrampft, was auch an uns lag, oder auch an mir, weil ich eben ganz lange gebraucht habe, um zu kapieren, dass ich nicht hinschauen soll und dass ich nicht das kommentieren darf beim Essen. Das habe ich lange gemacht, weil ich auch so verzweifelt war. Dadurch waren die Mahlzeiten eigentlich ein Albtraum.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, wir sprechen mit Caroline Wendt, der Autorin des Buches "Mama, ich kann nicht anders" - Untertitel: "Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter". - Viele Mädchen nehmen sich ja Models zum Vorbild, junge Frauen, die sich lebensgefährlich heruntergehungert haben, um dem Schönheitsideal irgendwelcher Modeschöpfer zu entsprechen. Spielte das bei Ihren Töchtern eine Rolle?

    Wendt: Eigentlich sagt die Wissenschaft ja, das spielt keine Rolle. Die Magersucht ist eine ernste psychische Erkrankung. Diese Sachen begünstigen die natürlich nicht, was die Heilung angeht, aber sind jetzt nicht ursächlich. Marie hat aber gesagt, doch, Mama, das war für mich schon, dieses dünn sein wollen, das war für mich schon so ein Anreiz. Und es war natürlich auch so, das müssen Sie sich mal vorstellen: Kurz vor ihrer Einweisung in die Klinik - da war Marie dann schon um die 40 Kilo, die war ja dann zum Schluss 38 Kilo -, wurde sie angesprochen auf dem Schulhof: Marie, wow, wie hast du das geschafft! Das müssen Sie sich mal vorstellen. Also sie kriegte eigentlich von den Kameraden, von den Klassenkameraden positive Verstärkung der Krankheit.

    Heinemann: Die Heilung haben Sie angesprochen. Sie haben Ärzte und Therapeuten konsultiert und beschreiben das als Spießrutenlauf. Was ist Ihnen widerfahren?

    Wendt: Ich muss jetzt gerechtigkeitshalber sagen, dass die Therapie, die Psychotherapie für die Mädchen, für beide Mädchen absolut notwendig und gut war. Die werden enorm gestärkt. Auch in den Kliniken, wo beide unsere Töchter ja waren, wurde die Persönlichkeit, die ja eigentlich einbricht mit der Krankheit, enorm gestärkt. Bloß wir Eltern und vor allen Dingen ich als Mutter habe mich eigentlich ungerecht behandelt gefühlt. Das muss ich schon sagen.

    Heinemann: Ungerecht behandelt inwiefern?

    Wendt: Du bist halt - das war bei Maries erster Klinik ziemlich offensichtlich -, du kommst eben als potenzieller Verursacher infrage.

    Heinemann: Als Mutter?

    Wendt: Ja, als Mutter. Und in dem Moment ist ja klar, dass man nicht mit dir zusammenarbeitet, und auch, dass deine Äußerungen immer so skeptisch ... - also ich fand es sehr ungut. Deswegen habe ich ja dann auch mit dem Professor Fichter, der eben ganz anders da rangeht, der den betroffenen Eltern im ersten Satz immer schon sagt: Sie trifft keine Schuld, Sie haben getan, was Sie konnten. Von so einer Basis ausgehend, kannst du natürlich auch ganz anders mit den Eltern zusammenarbeiten. Und die Eltern müssen eben ganz viel lernen, wie man mit dieser Krankheit umgeht, weil die eben eine solche Herausforderung bedeutet fürs Familienleben.

    Heinemann: Frau Wendt, welcher war der entscheidende Schritt? Wie haben Ihre Töchter diese Magersucht und ihre Essstörung überwunden?

    Wendt: Die Therapie war wichtig, dieses Stärken der Persönlichkeit, die Erkenntnis, vielleicht wie bei jeder Gemütskrankheit, dieses Erkennen, das sich Sehen von außen, das ist ganz wichtig. Es ist natürlich schwierig, gerade in der Pubertät, wenn du eh ... Also es ist nicht so einfach, dieses mit der Erkenntnis. Aber das einfach zu lernen, sich selbst zu sehen, rauszutreten, und dann, glaube ich, dass das Leben einem dabei hilft, letztlich positive Erfahrungen, Freunde. Beide haben jetzt zum Beispiel einen Freund. Spaß, mehr haben im Leben, dass man dann langsam - es dauerte dann ja doch länger, als ich gedacht hatte - loslassen kann und diese Zwangsstörung - es hat ja was Zwanghaftes - einfach sich davon befreien kann.

    Heinemann: Caroline Wendt hat ihre Erfahrungen mit ihren magersüchtigen Töchtern in einem Buch beschrieben mit dem Titel "Mama, ich kann nicht anders". Das Buch erscheint in diesen Tagen. Frau Wendt, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Wendt: Gerne geschehen!