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"Die Mehrheit der Hörer ist deutlich für Thilo Sarrazin"

Eine ungewöhnliche Flut von Hörerreaktionen per Mail, per Post, per Telefon erreichte die Redaktionen des Deutschlandfunks im Zuge der Berichterstattung über Thilo Sarrazin. Es ist ein deutlich gespaltenes Echo, aber viele stellten sich hinter das Vorstandsmitglied der Bundesbank. Welche Konsequenzen der DLF-Chefredakteur aus den vielen Stellungnahmen zieht.

Stefan Detjen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 03.09.2010
    Christoph Heinemann: Die "Bildzeitung" versuchte gestern, einen etymologischen Beitrag zur Diskussion über die biologistischen Thesen des Thilo Sarrazin zu liefern. Der Nachname des Bundesbankvorstandes bedeute im Mittelhochdeutschen "Mann aus dem Morgenland" oder "Mohammedaner". Die Familie, so die Erklärung des Boulevard-Blattes, stamme offenbar von Mauren ab, die aus dem Jemen über Spanien und Frankreich nach Europa einwanderten.

    Wir enthalten uns jetzt jedweder Spekulation über die genetischen Dispositionen, die beim Entstehen des umstrittenen Buches den Ausschlag gegeben haben könnten. Wir machen etwas ganz anderes. Im Studio ist Stefan Detjen, der Chefredakteur des Deutschlandfunks. Guten Morgen.


    Stefan Detjen: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Detjen, Sie haben sich in den vergangenen Tagen durch viel Papier gearbeitet, nämlich durch die Wortmeldungen unserer Hörerinnen und Hörer, die sich zur Causa Sarrazin geäußert haben. Zustimmung, Ablehnung, welcher Tenor überwiegt in den Mails?

    Detjen: Ja, das ist ganz richtig, Herr Heinemann. Wir haben, seitdem wir am vergangenen Sonntag Vormittag unser "Interview der Woche" mit Thilo Sarrazin übertragen haben, eine ungewöhnliche Flut von Hörerreaktionen per Mail, per Post, per Telefon erhalten. Wir haben das Thema am Montagvormittag in unserer Sendung "Kontrovers" mit unseren Hörern diskutiert, einige Ausschnitte daraus haben Sie eben bereits eingespielt.
    Wenn Sie fragen, wie ist der Tenor? Insgesamt in der Mehrheit ist es deutlich, dass die Zustimmung zu Thilo Sarrazin überwiegt. Da sind ungefähr doppelt so viele Hörerstimmen, die sich für Sarrazin äußern, wie kritische Hörerstimmen. Insgesamt ist es aber ein breiter Querschnitt und wir haben noch mal einige von den Stimmen zusammengetragen, die uns auch per Post erreicht haben. Vielleicht können wir da einfach mal reinhören.

    "Die Politik hat noch nichts von diesem Sprengstoff gerochen, der da schwelt."

    "Sarrazin hat als Berlins Finanzsenator Gelder für Integrationsprojekte gestrichen und ist somit verantwortlich für den dramatischen Zustand der Migranten. Dem notorischen Hetzer und Islamfeind Gelegenheit zur Hasspropaganda zu geben, ist unverzeihlich."

    "Die Fragen nach den Ursachen müssen erlaubt sein!"

    "Herr Sarrazin vermischt richtige Anliegen mit rassistischen Thesen. Das sollte man ihm nicht durchgehen lassen."

    "Da sich diese liberalistische, auch Multikulti-Schleimerei durch weite Teile Ihres Programms zieht, erwäge ich nunmehr, Rechtsmittel gegen die GEZ-Gebührenerhebung wahrzunehmen."

    "Meine Kinder und Enkel baden es aus, was Politiker und Medien verderben."

    "Ich habe mir sofort das Buch bestellt, bevor es im Rahmen der political correctness möglicherweise verboten wird."

    "Ist eigentlich ganz Deutschland verrückt geworden, Herrn Sarrazin dermaßen große Aufmerksamkeit zu schenken? Bitte tiefer hängen, dieses abscheuliche Zeugs."

    "Ich bin Hauptschullehrer in Süddeutschland und ich weiß, wovon Herr Sarrazin redet. Wir wollen verständnisvoll sein. Sie sehen es als Schwäche."

    "Das war das letzte Mal, dass ich Ihren Sender eingeschaltet habe."

    Heinemann: Offenbar nicht!

    Detjen: Wortmeldungen von Deutschlandfunk-Hörerinnen und -Hörern zum Thema Thilo Sarrazin, zu dem Interview, das wir mit ihm selbst geführt haben, zu den vielen Interviews, Kommentaren, die wir im Anschluss daran gesendet haben, wie gesagt ein Querschnitt. Auch noch mal gesagt: die Mehrheit der Hörer deutlich für Thilo Sarrazin, stellt sich hinter ihn. Was auffällig war, dass viele Hörerinnen und Hörer ihre Stellungnahmen dazu mit Beobachtungen, mit Erfahrungen aus ihrer ganz unmittelbaren Lebensumwelt unterlegen.
    Da berichtet ein Hauptschullehrer von Problemen mit türkischstämmigen muslimischen Kindern, Sozialarbeiter schreiben uns über schwierige und gescheiterte Integrationsprojekte, Eltern und Großeltern erzählen von Problemen in den Schulen ihrer Kinder und Enkel. Was da also deutlich wird, ist, dass der ja doch große Verurteilungskonsens gegen Sarrazin, der sich in Medien, Politik und Wissenschaft in den vergangenen Tagen ausdrückte, von der Breite der Bevölkerung und auch von den Deutschlandfunk-Hörerinnen und -Hörern nicht geteilt wird, sondern da gibt es ein ganz deutlich gespaltenes Echo.

    Heinemann: Und wenn man mal in das Buch hineinschaut, was wissen unsere Hörer, was wissen sie etwa über die Vererbung von Intelligenz?

    Detjen: Das ist auch auffällig, dass dieses Thema in den Reaktionen, die wir erhalten haben, eigentlich kaum eine Rolle spielt, während es ja inzwischen der Kern der publizistischen und auch wissenschaftlichen Urteile, der Verurteilungen Sarrazins ist. Also das Problem, dass er hier mit biologistischen Thesen sozusagen einen einfachen Schlüssel für die komplexen Probleme, die er auf ganz unterschiedlichen ökonomischen, demografischen, politischen Ebenen in einer heterogenen Migrationsgesellschaft erblickt, anbietet, das spielt wie gesagt in den Hörerreaktionen keine Rolle. Das, was da zum Ausdruck kommt, ist immer wieder die These, dass hier jemand ein Problem angesprochen hat, das in der Mediengesellschaft ansonsten ausgeblendet worden sei, dass man sich also nicht verstanden fühlt mit dem, was man täglich einfach an Problemen mit Migranten in einer heterogenen, sich verändernden Gesellschaft erlebt.

    Heinemann: Herr Detjen, "wir Werbeträger für Thilo Sarrazin" titelt anklagend in dieser Woche die Wochenzeitung "Die Zeit". Können wir Leute wie Sarrazin totschweigen?

    Detjen: Wir haben ihn ja gar nicht totgeschwiegen.

    Heinemann: Könnten wir es? Sollten wir es?

    Detjen: Wir könnten es auch nicht, denn das ist ja das, was auch in den Reaktionen von Leserinnen, von Lesern in vielen Zeitungen, von Hörerinnen und Hörern des Deutschlandfunks deutlich wird: Hier geht es um ein wichtiges Thema, das bewegt die Menschen, das spaltet die Menschen. Auch deswegen haben wir uns ja dafür entschieden, Thilo Sarrazin selbst breiten Raum in unserem Programm zu geben, wir haben uns ausführlich mit ihm auseinandergesetzt, wobei man natürlich hinzufügen muss, dass wir uns seit Jahren intensiv mit den Problemen einer Migrationsgesellschaft in der ganzen Vielfalt unseres Programms auseinandersetzen – in Reportagen, in Analysen, in politischen Debatten, denen wir im Deutschlandfunk eine Plattform bieten. Das ist eines der beherrschenden Themen der deutschen Gesellschaft in den vergangenen 10, 15 Jahren gewesen und wir haben das in unserem Programm ständig gespiegelt. Ich glaube, dass wir aber natürlich jetzt in dieser Situation wieder lernen, dass es unsere Aufgabe als Medien, als Journalisten ist, die Lebenswirklichkeit der Menschen immer wieder so abzubilden, dass Leserinnen, Leser, Hörerinnen und Hörer sich darin wiederfinden, ohne dass wir dafür einfache Lösungen anbieten können.

    Heinemann: Stefan Detjen, Chefredakteur des Deutschlandfunks.

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