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"Die meisten jüdischen Israelis sprechen über die Araber wie über Außerirdische"

Ein jüdisch-israelischer Wachmann an der Klagemauer in Jerusalem erschießt einen jüdisch-israelischen Obdachlosen mit zehn Schüssen. Der 46-jährige Doron Ben-Shlush war auf den Sicherheitsbeamten zugelaufen und hatte laut "Alahu akbar" gerufen. Über die Hintergründe ein Gespräch mit dem israelischen Schriftsteller Nir Baram in Berlin. (*)

Von Ruth Kinet | 23.06.2013
    Ein Jude beim Gebet an der Klagemauer in Jerusalem
    Ein Jude beim Gebet an der Klagemauer in Jerusalem (picture alliance / Schoening)
    (*)(Anmerkung der Redaktion:) Der Teaser wurde von der Online-Redaktion geändert. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass der Ursprungsteaser nicht von der Autorin stammte. Die Wortwahl hatte bereits bei Facebook für heftige Diskussionen gesorgt.

    "Es ist sehr schlicht gedacht, dem Sicherheitsmann die alleinige Schuld zu geben. Als der Sicherheitsmann "Aluh akbar" gehört hat, hat er sicher sofort gedacht: ‚Hier ist ein Terrorist’. Hier geht es um etwas, das tief in der israelischen Kultur verwurzelt ist. Das hat in erster Linie mit Angst zu tun. Mit der Angst vor dem "Anderen". Wenn man Menschen 65 Jahre lang erzählt, dass die Araber nur eines wollen, nämlich uns auslöschen, dann hört sich alles, was mit der arabischen Kultur zu tun hat, beängstigend an."

    Nir Baram ist 36 Jahre alt. Er ist die große Erzählstimme der jungen israelischen Literatur. Vier Romane hat er bis jetzt vorgelegt. Die beiden Letzten, "Der Wiederträumer" und "Gute Leute", haben auch in Deutschland ein großes Publikum gefunden. Im August erscheint sein fünfter Roman, zunächst nur auf Hebräisch.

    Nir Baram ist ein politischer Mensch. Er ist der Sohn von Uzi Baram und der Enkel von Moshe Baram. Beide waren Mitglieder der Arbeitspartei und beide waren Minister unter Yitzchak Rabin.

    Nir Baram ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. In unmittelbarer Nähe zu einem arabischen Viertel. Dennoch kann er sich an Begegnungen mit arabischen Kindern nicht erinnern. Gemeinsam mit seinem Vater, den Abgeordneten der Arbeitspartei, der an ein arabisch-jüdisches Miteinander unter jüdischer Führung glaubte, hat er zwar oft arabische Freunde der Familie besucht. In der Schule lernte er aber weder Arabisch noch irgendetwas über den Islam oder das Christentum. Die Segregation zwischen arabischen und jüdischen Israelis ist seit seiner Kindheit nur noch schärfer geworden. Die Unkenntnis des "Anderen" ist in den Augen von Nir Baram eine "Katastrophe". Am Freitag hat sie sich für den Obdachlosen und den Sicherheitsmann an der Klagemauer zum Schicksal verdichtet.

    "Diese Geschichte illustriert geradezu auf groteske Weise was passiert, wenn wir die Araber überhaupt nicht kennen. Die meisten jüdischen Israelis sprechen über die Araber wie über Außerirdische. Sie glauben wirklich, dass die Araber nur eines wollen: Uns aus Israel vertreiben. Sie nehmen nicht wahr, dass die Araber komplexer sind, als das, dass sie Familien haben, dass sie arbeiten, lesen, fernsehen. Es ist traurig und zugleich fast lächerlich, dass Menschen, die so viele Jahre so nah beieinander wohnen wirklich nichts übereinander wissen."

    Deshalb ruft Nir Baram zum Umsturz des bestehenden Bildungssystems auf: Nur wenn Juden und Araber miteinander aufwachsen, die Sprache des Anderen verstehen und sprechen, noch bevor sie Englisch lernen, nur dann werden sie in der Lage sein, die tiefe Angst vor dem Anderen langsam zu überwinden. Davon ist der Schriftsteller überzeugt. Und dafür wirbt er überall dort in Israel, wo man bereit ist, ihn anzuhören.

    "Ich habe immer geglaubt und glaube jetzt noch mehr denn je, dass dieses ganze europäische Gequatsche über Frieden in Oslo, Berlin und Jerusalem nichts bringt. Wir brauchen nur eins: Wir brauchen gemeinsame Schulen für Juden und Araber."

    Nir Baram hat eine klare Vision von Israel: Er möchte, dass sich sein Land in eine moderne Demokratie verwandelt, in der allen Einwohnern gleiche Bürgerrechte zustehen - unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Der Schriftsteller ist sich sicher, dass die 1,6 Millionen arabischen Israelis in einem solchen Israel würden leben wollen. Genauso wie die 300 000 nicht-jüdischen Fremdarbeiter. Aber bevor das soweit ist, muss Israel erst einen anderen Schritt gehen:

    "Wir müssen die Besatzung beenden, weil wir sie die israelische Gesellschaft kaputtmacht. Nur das wird die israelische Gesellschaft positiv verändern. Wenn 18-jährige Israelis nicht mehr an Checkpoints sitzen und palästinensische Frauen und Kinder in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken müssen, dann ist mir das allein wichtiger als tausend andere Dinge."