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"Die Menschen in Haiti wollen nicht abhängig sein von Hilfe"

Inzwischen konzentriere sich die Arbeit der Hilfsorganisation CARE in Haiti darauf, die Lebensbedingungen in den Stadtvierteln zu verbessern, sagt Beat Rohr, CARE-Länderdirektor in Port-au-Prince. Wichtig sei dabei vor allem die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten.

Beat Rohr im Gespräch mit Jasper Barenberg | 12.01.2012
    Jasper Barenberg: Armut und politisches Chaos waren schon alte Bekannte in Haiti, als auf den Tag genau vor zwei Jahren das schwere Erdbeben Teile der Insel und die Hauptstadt in ein Inferno verwandelte. Weit mehr als 200.000 Menschen starben, etwa 80.000 Gebäude stürzten ein und bis heute gelingt es dem Land nicht so recht, wieder Tritt zu fassen. Auch weil die Regierung schwach ist, rückt der erhoffte Wiederaufbau in weite Ferne.
    Am Telefon begrüße ich jetzt in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince Beat Rohr, der dort die Arbeit der Hilfsorganisation CARE leitet. Ich grüße Sie!

    Beat Rohr: Guten Morgen.

    Barenberg: Sagen Sie, Herr Rohr, der Katastrophenzustand ist zum Normalfall geworden. Das ist ein Urteil, was man in diesen Tagen hört. Teilen Sie es?

    Rohr: Ich glaube, eine Rückkehr zur Normalität in Haiti ist natürlich nicht wünschenswert, denn bereits vor dem Erdbeben war das Land chronisch arm und unterentwickelt. Wenn heute nach wie vor eine halbe Million Menschen in Zeitlagern leben, dann zeigt das nicht nur, wie schwierig der Wiederaufbau ist; es zeigt auch, dass diese Menschen dort Dinge bekommen, die für sie vor dem Erdbeben nicht selbstverständlich waren: Wasser, Latrine, Nahrungsmittel. Und wir müssen uns daran erinnern, dass das Erdbeben vom 12. Januar 2010 eine unvorstellbare schwere Katastrophe war. In der Hauptstadt allein waren über eine halbe Million Menschen obdachlos geworden und es herrschte Chaos.

    Barenberg: Der Präsidentenpalast liegt ja bis heute in Trümmern, wir haben es auch gerade in dem Haiti zwei Jahre nach dem Erdbeben (MP3-Audio) Beitrag von dem Kollegen Polansky noch mal gehört. Ist das gewissermaßen ein Symbol für die gesamte Situation des Landes?

    Rohr: Ich glaube, im gleichen Moment muss man wieder die positiven Sachen sehen. Hilfsorganisationen können keine Regierung ersetzen oder bestimmte Entscheidungen zum Beispiel zum Landesrecht treffen. Wir haben nun eine neue Regierung und die versucht wirklich, bei den wichtigsten Sachen – und da sind wir ganz einverstanden mit denen – einen Fortschritt zu machen in den nächsten Monaten und Jahren.

    Barenberg: Präsident Michel Martelly, Sie haben ihn angesprochen, er hat viel versprochen, Arbeitsplätze hat er versprochen, mehr Umweltschutz, Rechtssicherheit in einem Land. Warum gelingt es ihm bisher jedenfalls nicht, diese Versprechen einzuhalten? Oder ist das zu pessimistisch?

    Rohr: Ich glaube, alle Politiker machen Versprechen, und in Haiti müssen wir einfach verständlicher sein: Fünf Jahre ist wenig Zeit in Haiti. Ich glaube, es ist eine Priorität der Regierung, die mit der Auflösung der Zeitlager zu tun hat, mit Schulen und so. Das sind die richtigen Prioritäten. Wie schnell das gemacht wird, das ist eine andere Sache.

    Barenberg: Wie schwach ist er denn, der Präsident und seine Regierung?

    Rohr: Na ja, er hat jetzt ein neues Kabinett ernannt, er macht die ersten wichtigen Schritte, und ich glaube, wir sehen schon einige Sachen, dass er nicht so schwach ist, wie viele Leute sagen.

    Barenberg: Eine wichtige Rolle im Land spielt ja auch Bill Clinton, der ehemalige US-Präsident, den die Vereinten Nationen zum Sonderbeauftragten berufen haben. Ein Magazin in den USA hat ihn einmal als Vorstandschef einer führungslosen Nation bezeichnet. Welche Rolle spielt er?

    Rohr: Ich glaube schon, dass Präsident Clinton und seine Arbeit wichtig sind. Seine Rolle ist nicht als de facto Staatschef, aber als sehr prominenter Botschafter und Verteidiger von den Interessen von Haiti.

    Barenberg: Und kann er einiges, kann er vieles erreichen für das Land?

    Rohr: Na ja, das wird man sehen über die nächsten Jahre. Aber er hat sicher erreicht, dass das Land immer noch in der Presse ist und die Leute immer noch über Haiti reden. Er hat auch eine kritische Arbeit gemacht, um einige Investitionen aus dem Ausland zu Haiti zu bringen.

    Barenberg: Wenn wir einen Augenblick auch über Ihre Arbeit, über die Arbeit von CARE sprechen. Wie andere Hilfsorganisationen auch haben Sie sich ja zunächst einmal vor allem um Nothilfe gekümmert. Jetzt will auch die Regierung mehr und mehr übergehen, den Wiederaufbau voranzubringen. Wie werden Sie die Regierung dabei unterstützen, was werden Sie in diesem Punkt vor allem machen?

    Rohr: Unmittelbar nach dem Erdbeben haben wir fast 300.000 Menschen mit dem Notwendigsten versorgt: Wasser, Nahrung, Zelte und andere Dinge. Danach haben wir Übergangshäuser gebaut, Latrinen errichtet, die Camps mit Wasser versorgt, und dann auch angefangen, mit Schulen und Gesundheitszentren zu arbeiten. Inzwischen konzentrieren wir uns darauf, in den Stadtvierteln die Lebensbedingungen zu verbessern, damit die Menschen zurückkommen. Ein wichtiger Punkt ist die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten. Die Menschen in Haiti wollen nicht abhängig sein von Hilfe, sondern selbst Geld verdienen, und da gibt es Interventionen wie "Cash for Work", wo man Straßen reparieren kann. Wir arbeiten mit Kleinspargruppen und es gibt auch im Erdbebengebiet jetzt viele Frauen, die sehr kluge Geschäftsleute sind und investieren mit dem Ersparten, das sie haben.

    Barenberg: Und spüren Sie bei den Menschen, mit denen Sie sprechen, so etwas wie Zuversicht, wie Aufbruchstimmung?

    Rohr: Ich glaube, obwohl die ganze Situation natürlich deprimierend war, haben die Leute wirklich versucht, mit ihren eigenen Kräften viel wieder aufzubauen, und das sieht man überall, wenn man in die Quartiere geht und mit den Leuten spricht.

    Barenberg: Beat Rohr, der Länderdirektor der Hilfsorganisation CARE in Port-au-Prince, über die Situation zwei Jahre nach dem Erdbeben in Haiti. Herr Rohr, danke für das Gespräch.

    Rohr: Besten Dank! – Guten Tag.

    Barenberg: Guten Tag.