Freitag, 29. März 2024

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Die Montagsangst

Sie will ihr Schicksal so annehmen, wie es war. Doch wo genau, an welchem Ort sich das Schicksal des Schulkindes Caritas Führer abspielte, das verrät die Autorin nicht. Irgendwo in Sachsen muß es gewesen sein, in der DDR Ende der sechziger Jahre. Es war eine bipolare Welt, von der sie erzählt, eine Welt, in der man sich schon als Kind zum sozialistischen Staat bekennen mußte, wenn man später weiterkommen wollte: Nur die Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren und später ab 14 bei der FDJ wurde im Zeugnis als gesellschaftliches Engagement gewertet. Caritas Führer, Jahrgang 1957, ging als Tochter eines Pfarrers ganz selbstverständlich in die sogenannte Christenlehre. Schikanen und Kränkungen waren für sie und ihre Geschwister an der Tagesordnung. Da sie sich über die Jahre standhaft weigerten, in die FDJ einzutreten, war ihnen das Abitur verbaut, trotz hervorragender Noten und trotz der Freiheit der Religionsausübung, die die Verfassung der DDR garantierte. Die Eltern konnten nur versuchen, sie zu trösten. Die Autorin meint jedoch rückblickend, sie sei ihnen dankbar, daß sie sie nicht zur Opportunistin erzogen, sondern ihr den geraden Weg gewiesen hätten.

Katrin Hillgruber | 19.06.1998
    "Die Montagsangst" ist einer jener Texte, den sich jemand buchstäblich von der Seele geschrieben hat. Im Zentrum steht die Schülerin Nathalie, von der aus wechselnden Perspektiven erzählt wird - mal heißt es "das Kind", dann wieder "ich". Sie stammt ebenfalls aus einer Pfarrersfamilie. Der Verlag stellt die schmale Erzählung in eine Reihe mit klassischen deutschen Schulgeschichten wie "Unterm Rad" von Hermann Hesse oder Alfred Anderschs "Der Vater eines Mörders". Aber der Fall liegt hier anders, die Anklage gegen das System wird künstlerisch kaum gefiltert. Eine Atmosphäre der fortwährenden Beklemmung und Ohnmacht lastet auf dem Text, bestimmt ihn von Anfang an. Sie muß in der Lebensgeschichte der Schreibenden begründet liegen, so unmittelbar wirkt sie auf den Leser. Der Montag mit seinem Fahnenappell bedeutet den allwöchentlichen Neubeginn des Schreckens Schule für das Mädchen. Noch am Sonntag hatte es sich wohlgefühlt, als es als Kurrendanerin am Gottesdienst des Vaters teilnahm. "Das sind die Kinder im Erzgebirge, die mit einer bestimmten geistlichen Tracht - schwarze Mäntel und weiße Kragen - im Gottesdienst singen", erläutert Caritas Führer. "Die ersten Kurrendaner kennt man aus der Zeit, glaube ich, der Thomaner und Kruzianer, die sind auch singend durch die Stadt gegangen und haben Leute besucht. Und im Erzgebirge ist das einfach noch eine starke Tradition. Das Buch ist eigentlich schon lange in mir fertig gewesen. Und ich habe auch in der DDR mehrfach überlegt, ob ich es aufschreibe. Mir hat zum einen der Mut gefehlt, das zu machen. Wo hätte man es aufbewahren sollen, oder wem hätte man es zugänglich machen sollen, das wäre nicht möglich gewesen mit diesem Thema. Und ich sah auch keinen Sinn darin, etwas aufzuschreiben, was ich niemandem weitergeben kann. Als die Wende kam, wußte ich, daß ich es aufschreiben werde, aber ich habe trotzdem noch ein Jahr gebraucht, bis ich dazu in der Lage war."

    "Wir sind Kurrendaner" heißt es schlicht, oder: "Der Direktor ist für mich der Inbegriff der Macht". Da zeigt sich, daß in der unbedingten Authentizität dieser Erzählung auch ihre Schwäche liegt. Durch die unmittelbare Wiedergabe der Realität wirkt sie an vielen Stellen plakativ. Der Text ist in sich geschlossen wie ein Manifest, durchsetzt von den Stichworten "Angst" und "Widerstand". Schlüsselmomente der DDR-Ideologie werden referiert: der paramilitärische Unterricht mit seiner verblendeten Friedensmetaphorik, der 1. Mai, der Internationale Frauentag am 8. März als Gegensatz zum Muttertag, der als faschistisches Relikt galt. Für die Verfasserin sind diese Festtage einer feindlichen Ideologie zugleich die Punkte, die ihr am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind: "Ja, das waren immer genau diese Reibungsflächen, wo auch zutage kam, wo man stand, an welcher Stelle. Und wo man auch ständig immer wieder herausgefordert war, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, Bekenntnisse auszusprechen oder zu leben. Das sind in meiner Kindheit wirklich markante Punkte gewesen, um die man auch irgendwie nicht drumherum kam."

    Die sich immer stärker zuspitzende Auseinandersetzung zwischen der einzelnen und der Gemeinschaft führt bis zum Abriß einer propagandistischen Wandzeitung, auf der die angebliche Gewissensfreiheit proklamiert wird. Nathalie, die Täterin, erkennt, daß sie allein durch ihr Christsein als Staatsfeindin gilt. Was die Autorin hier schildert und was so direkt aus ihrem Leben gegriffen ist, daß sie über die Hintergründe ungern spricht, macht in seiner Eindringlichkeit ratlos. Das liegt auch an Caritas Führers intensiver Bildersprache, ein Zeugnis ihrer musischen Doppelbegabung. "Ich empfinde meine Schulzeit als traumatisch, als freudlos und angstbesetzt", so Caritas Führer. "Es heißt ja immer, daß Negativerlebnisse mit den Jahren verblassen, daß die positiven Erlebnisse in der Erinnerung haften bleiben. In meiner Erinnerung verläuft dieser Prozeß anders. Ich erinnere mich nur an wenige schöne Episoden: ein Wandertag, Spiele mit anderen Kindern, ein Ausflug ins Hallenbad, so etwas. Aber die Summe der bedruckenden Erfahrungen überzieht meine Schulzeit in der Erinnerung wie ein dichtes dunkles Netz."

    Gegen dieses "dunkle Netz" oder auch das "dunkle Mosaik" werden als einzige Lichtmomente die Zeichenstunden gesetzt. Hier ist das begabte Mädchen ganz bei sich. Wo es in Uwe Johnsons postum veröffentlichtem Erstlingsroman "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953" im Kontlikt zwischen der FDJ und der evangelischen Jungen Gemeinde für das Schülerpaar Ingrid und Klaus noch einen verheißungsvollen Fluchtpunkt gab, der Westen hieß, bleibt in der "Montagsangst" die freie Außenwelt unerreichbar. Das wird um so deutlicher, als ein Brief aus Indien eintrifft, der Nathalie vom Sieg bei einem internationalen Zeichenwettbewerb benachrichtigt - eine märchenhafte Wendung.

    Caritas Führer, die wie erwähnt nicht zum Abitur zulassen wurde, arbeitete in der Meißener Manufaktur als Porzellangestalterin. Nach der Heirat mit einem Theologen lebte sie in Leipzig und nahm dort 1981 ein Fernstudium am Johannes-R.-Becher-Institut für Literatur auf. Damals hatte sie sich schon fast mit dem Gedanken abgefunden, nicht studieren zu dürfen. Sie veröffentlichte Lyrik und Prosa in Anthologien meist christlicher Verlage. Zwei Hörspiele, eines davon zum Thema Ausländerfeindlichkeit, wurden noch zu DDR-Zeiten ausgestrahlt. Die Aufnahme am Literaturinstitut empfand sie als innere Befreiung und endlich gewährte Möglichkeit, sich weiterzubilden: "Die drei Jahre am Literaturinstitut gehören wirklich rückblickend zu den glücklichsten Jahren meines Lebens. Ich erinnere mich noch an die Arbeitszeiten in der Deutschen Bücherei, an dieses Gefühl, dort zu sitzen und einfach Zeit zu haben für diese Aufgaben und zu lesen. An den Austausch mit anderen Studenten, an die Möglichkeit, auch Kritik von anderen zu hören. Das ist eine ganz schöne und wichtige Zeit gewesen. Das war noch nicht dieser Konkurrenzkampf, der heute besteht zwischen jungen Autoren. Damals hat man sich auch wirklich gegenseitig geholfen. Auch wenn der Lehrstoff natürlich vom Marxismus-Leninismus her gefärbt war, ganz gleich ob es sich zum Beispiel um Weltliteratur oder um Stilistik handelte oder Literaturkritik oder so etwas, ich erlebte im Haus große Offenheit und Toleranz. Und ich bin dort immer mit Achtung behandelt worden, auch wenn meine christliche Lebenshaltung von den Dozenten bewußt registriert wurde. Man wußte einfach, daß ich Christ bin, ich konnte aber trotzdem meine Meinung äußern und hatte nie das Gefühl, daß es mir dort Nachteile bringt. Das war wirklich eine sehr angenehme und offene Arbeitsatmosphäre am Institut."

    Dreißig Jahre liegen die Bedrückungen nun zurück, von denen "Die Montagsangst" handelt. Die Reaktionen auf das Buch dürften in Ost und West unterschiedlich ausfallen: vom schlichten Leugnen der geschilderten Zustände bis zur oft bemühten Betroffenheit. Es bleibt abzuwarten, ob sich Caritas Führer vom eigenen Schicksal freischwimmt und allein um der Literatur willen zu schreiben beginnt.