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Die Mullahs der Monotonie

Für Alain de Botton ist Architektur eine Art Ausdruckspsychologie, ganz ähnlich wie die Körpersprache, Mimik oder Gestik. In seinem Buch "Glück und Architektur" plädiert er für einen menschenfreundlicheren Architekturstil: eine Abrechnung mit den Betonköpfen und blindwütigen Ideologen, die unsere Städte zu einem ästhetischen Albtraum gemacht haben.

Von Eike Gebhardt | 26.06.2008
    "Der Glaube an die Bedeutung der Architektur setzt nicht nur die Annahme voraus, dass wir - ob wir wollen oder nicht - an einem anderen Ort ein anderer Mensch sind, sondern auch die Überzeugung, uns vor Augen zuhalten, wer wir im Idealfall wären." Es ist eine der kühnen Thesen dieses ideenprallen Buchs.

    Bedeutungsschwanger zu psychologisieren was schon immer die Stärke - und Schwäche - dieses Autors, dem wir ein Feuerwerk gewitzter, mitunter brillanter, mitunter altkluger Einsichten verdanken, zum anderen aber auch peinliche Gemeinplätze; und das über beinah jedes Thema: Liebe, Literatur, Philosophie - immer geht es um Grundsatzfragen, und auch die Architektur gerät ihm unter der Hand zu einer Art Psycho-Ökologie des Lebensraums.

    Gewissermaßen programmatisch positioniert sich de Botton gegen Karl Kraus, der, inmitten der verbissenen Kontroverse um Form und Funktion, die Ideologen unwirsch beschied, ein Wohnhaus habe das Bedürfnis nach Komfort und Sicherheit zu erfüllen, nicht aber nach Atmosphäre oder Lebensstil; gemütlich, so Kraus sinngemäß, sei er schließlich selber.

    Kurzum: Der Architekt sei für Notwendiges zuständig, er solle sich, bitteschön, nicht einmischen, wenn es um Geschmacksfragen gehe. So einfach, freilich, sollte man es sich nicht machen, gibt unser Autor zu bedenken: Auch das Gemüt kenne Formensprachen, die seiner Befindlichkeit, ja mitunter einer Persönlichkeit oder Mentalität, im Wortsinn fast, ent-sprechen. Jahrhunderte lang seien Gebäude ja fast als ein körperliches Gegenüber wahrgenommen und ebenfalls im Wortsinn er-lebt worden.

    Intuitiv erfassen wir ja alle mit Blick auf das Mobiliar den Menschen, der sich dergestalt einrichtet - Ikea oder Chippendale: Der Stil, das ist der Mensch, ahnen wir. Dass so manche Bildungsbürger - übrigens global - sich am liebsten in der Altstadt niederlassen, mit verwunschen Gassen, kleinen Läden und einem impuls- und variationsreichen Umfeld, während Andere sparsame, funktionale, klare, ja kahle Designer-Szenen bevorzugen: Darin wittern wir mit Recht einen Mentalitätsunterschied, glaubt de Botton.

    "Jedes am Reißbrett entworfene Werk vermittelt uns eine Ahnung von den psychologischen wie moralischen Ansichten, die es verkörpert", schreibt er, und das ganze Buch illustriert im Grunde diesen Ansatz: "Von nahezu jedem Gebäude verlangen wir, dass es nicht nur eine bestimmt Leistung erbringt, sondern durch sein Äußeres auch eine vorgegebene Stimmung verstärkt: die der Religiosität oder er Gelehrsamkeit, der Rustikalität oder der Moderne, der Welt des Handels oder der Häuslichkeit." Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: Für de Botton ist Architektur eine Art Ausdruckspsychologie, ganz ähnlich wie die Körpersprache, Mimik oder Gestik.

    Allerdings speist de Botton uns gerade bei diesem Thema, das ihm doch so am Herzen liegt, nicht selten mit einer Art Pop-Psychologie ab: Der Gegensatz von skandinavischem Küchengeschirr und einem Sèvres-Service bestehe in der, wie er sagt, "eleganten demokratischen Sensibilität der Skandinavier" und der "zeremoniellen, klassenspezifischen Disposition" des Sèvres-Design." Freilich könnte man genauso gut einen gänzlich anderen Gegensatz konstruieren: Nüchternes Design als Angst vor Textur oder vor Verspieltheit, jene typischen Attribute der Rokoko-Mentalität im Sèvres-Stil.

    Doch im Kampf der architektonischen Kulturen gehe, unabhängig von der Triftigkeit einzelner Deutungen, um grundsätzliche Einstellungen, nämlich um das Erleben der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Dass Architektur auch mit Ästhetik zu tun haben könnte, sei heutzutage vielen Alltagsarchitekten, die nur Funktionsdiktaten folgen und auf diese Brutalisierung menschlicher Bedürfnisse nicht selten auch noch stolz sind, oft schwer zu vermitteln, klagt der Autor.

    Dabei war "der Anspruch, Schönes zu schaffen, einst die vermeintlich wichtigste Aufgabe eines jeden Architekten", empört er sich. Doch im 19. Jahrhundert, so de Botton, "kam es zu einem Verbot jeglicher Diskussion über Schönheit in der Architektur, erlassen von einem neuen Schlag Männer, von Ingenieuren, deren Beruf erst im späten 18. Jahrhundert Anerkennung fand, die ihre Pläne verwirklichten, ohne sich offenbar auch nur zu fragen, welchen Stil sie wählen sollten. Die Philosophie der Ingenieure sprach allem Hohn, wofür der Berufszweig der Architekten eingestanden hatte." Es sei "die Pflicht der Architektur, Nützliches, Praktisches und Zweckmäßiges in etwas Schönes zu verwandeln", habe Karl Friedrich Schinkel gefordert. Mit Recht, findet der Autor.

    Dass nicht nur die Ingenieure die Barbaren waren, sondern auch die Fundamentalisten in den eigenen Reihen, verdrängt de Botton ein wenig, obwohl er selber am Beispiel Le Corbusiers die Reductio ad absurdum dieses Puritanismus überzeugend vorführt. "Le Corbusier empfahl, dass die Häuser der Zukunft asketisch und sauber sein sollten, nüchtern und spärlich eingerichtet."

    Angesichts dieser Amputation der Erlebnisqualitäten unseres Lebensraums schwingt sich de Botton zum Missionar des Verdrängten auf und lässt ihn an ein Widerstandspotenzial appellieren, das unnötig brach liege. "Die Leichtigkeit, mit der wir die psychologische Welt an die visuelle und sinnlich wahrnehmbare Außenwelt knüpfen, streut Metaphern in unsere Sprache", beobachtet er. Eine herausfordernde These - denken wir nur an die Raummetaphern, mit denen wir die psychische Qualität unserer sozialen Beziehungen beschreiben: Nähe und Distanz, Tiefe und Oberfläche und so weiter. Wie diese Spur uns zu Entdeckungen - durchaus eben auch jene psychohistorischen Selbstentdeckungen, auf die de Botton zielt - führen könnte, haben Mythenforscher und Architekturhistoriker wie Klaus Heinrich oder jüngst die Autoren eines Sammelbandes vorgemacht, der sich dem sogenannten "spatial turn" - der neuen Aufmerksamkeit für psychische Raumerfahrung" - im zeitgenössischen Denken widmet. Unser Autor legt die Spuren, ohne sie zu verfolgen.

    De Bottons Provokation im Plauderton ist nicht nur eine vergnügliche Revue der Ideale, Verirrungen und Skurrilitäten der Architekturgeschichte - im Stil des New Journalism geschrieben, hat sie selber jene Erlebnisqualitäten, die de Botton an der dröge-funktionlistischen Ästhetik vermisst. Man nimmt dem Autor die Trauer, die Empörung und auch die Begeisterung ab, leidet mit ihm an den Betonköpfen und blindwütigen Ideologen, die unsere Städte zu einem ästhetischen Albtraum gemacht haben. Die Mullahs der Monotonie wüten global, stöhnt de Botton - und notiert auf einer Reise bekümmert "die Kluft zwischen der ästhetischen Vollkommenheit des alten Japan und der reizlosen Eintönigkeit seiner modernen Inkarnation" beziehungsweise die "Unfähigkeit, sich der modernen Wirklichkeit anzupassen und den alten Charme in ein neues Idiom zu übersetzen".

    Geschickt vermeidet er die Falle eines eigenen stilistischen Reinheitsgebots - die Fundamentalisten sieht er übrigens gar nicht in der Überzahl, sondern nur als tonangebend - und plädiert für einen gesunden Pluralismus, ja Wettbewerb der Stile.

    Denn natürlich - das weiß auch de Botton - "wollten die Architekten der Moderne genau wie all ihre Vorgänger, dass Häuser zu uns sprechen. Nicht einen Moment lang hatten sie aus den Augen verloren, wie wichtig es war, Gefühle zu erregen, nur waren sie mit jener Reihe von Gefühlen nicht mehr einverstanden, die frühere Architekturstile erzeugten." Dass sie diese schlicht ausmerzen wollten mit einer Art fanatischem Fundamentalismus ihrer reinen Lehre, gleichsam mit einer ästhetischen Fatwa, bezeuge womöglich eher eine ideologische als eine ästhetische Obsession.

    Statt immerfort eine, angeblich historisch überholte Ästhetik durch eine jeweils neue, aber ebenso ausschließliche zu ersetzen, sollten wir uns lieber, wie der Autor schreibt, "hemmungslos ausmalen, wie viele Geschmacksrichtungen sich entwickeln könnten, wenn uns nur neue Stile präsentiert würden", der Reiz neuer Formen und Baustoffe zum Beispiel, mit denen wir das Repertoire unseres Raumerlebens anreichern könnten. Die Grabenkämpfe der verschiedenen Stile leugnen nur, "dass Menschen jemals lieben lernen könnten, was sie noch gar nicht wahrgenommen haben".

    Eine sympathische Utopie.

    Alain de Botton: Glück und Architektur
    Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein
    S. Fischer 2008, 287 Seiten, 22,90 Euro