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Die Mythen der Osterinsel

Die steinernen Riesen der Osterinsel, die von einer vergangenen Kultur zeugen, geben bis heute Rätsel auf. Sylvie Glissant hat dieses mythische, einsame Eiland mit dem Segelboot umrundet. Ihr Mann, der Kulturphiloph Édouard Glissant, verknüpft die Erlebnisse zu einer vitalen Kulturpoetik.

Von Martin Zähringer | 15.04.2010
    Der Kulturphilosoph und Schriftsteller Édouard Glissant wurde in den 1960er-Jahren mit seinem Konzept der Kreolität bekannt. Es orientiert sich an der Sprache seiner karibischen Heimatinsel Martinique, dem Kreolischen. Kreolisch entstand aus den Sprachen der französischen Kolonisatoren, der karibischen Ureinwohner und der afrikanischen Sklaven. Das erweiterte Kulturkonzept der Kreolität bezeichnet die schöpferische und dauerhafte Verbindung von Elementen verschiedener Kulturen zu etwas Neuem. Glissant hat das Konzept der Kreolität über den karibischen Kulturraum hinaus erweitert und erkennt die Potenziale schöpferischer Kulturvermischung heute in einer globalen Perspektive. Dabei interessiert er sich für eine Sphäre, die er Globalität nennt. Globalität ist gewissermaßen die andere, die schöpferische Seite der Globalisierung. Glissant schreibt:

    Was Globalisierung genannt wird, ist die Angleichung auf niedrigstem Niveau, die Herrschaft der multinationalen Konzerne, die Standardisierung und der ungeregelte Liberalismus auf den Märkten der Welt. Doch für mich stellt sie nur die Kehrseite einer wunderbaren Realität dar, die ich Globalität nenne.

    Glissant untersucht diese globale Realität im Rahmen einer theoretischen Trennung. Auf der einen Seite die systemorientierte, schriftbasierte Welt der Moderne, und auf der anderen Seite die Welt der Nomaden mit ihren schriftlosen Kulturen. Für die Differenzen, also das Trennende, interessiert sich Glissant dabei nicht so sehr. Er will wissen, wie sich beide Sphären - gemäß einer universalisierten Kreolität - in schöpferischer Weise verbinden. Dazu wendet er sich verstärkt der Welt der Inseln und Archipele zu. Denn dort erkennt Glissant eine kulturelle Vitalität, ein von ihm sogenanntes archipelisches Denken, das sich von den kontinentalen Kulturen wesentlich unterscheidet, besonders durch die Bereitschaft zur Vermischung. Um dieses archipelische Denken näher vorzustellen, schreibt Glissant jetzt über die Osterinsel Rapa Nui im Pazifik.

    Und dieser Text ist etwas ganz anderes als ein herkömmlicher Reisebericht. Es beginnt schon damit, dass der mittlerweile 82-jährige Glissant gar nicht selbst vor Ort war. Die Strapazen einer derart langen Reise könne er nicht mehr auf sich nehmen, so leitet er das Buch ein.

    Also flog seine Frau, die Künstlerin Sylvie Séma über den Pazifik und umrundete dann auf dem Segelschiff La Boudeuse die Insel. Sylvie erforscht an Glissants Stelle die Osterinsel, betrachtet die geheimnisvollen Steinfiguren und nimmt Kontakt zu verschiedenen Inselbewohnern auf. Glissant sitzt in Paris und schreibt. Besser gesagt, er komponiert einen Text aus Texten. Das sind zum einen Sylvies Berichte und Interviews. Außerdem greift der gut informierte Ethnologe Glissant auf wissenschaftliche Literatur und Reiseberichte zurück.

    Dazu gibt es noch - das ist natürlich entscheidend - den oralen Diskurs. In diesem Fall sind das Livegespräche zwischen der Insel und dem Arbeitszimmer in Paris. Internet, Skype und Handykamera machen es möglich.

    Betty Rapu, eine Hauptinformantin auf der Osterinsel, erzählt jedoch nicht nur Erbauliches aus dem Sagenschatz des Königs Hotu Matua. Sie versteht sich zwar als letzte Hüterin der oralen Quellen, und so wird das ethnologische Interesse des Forschers reichlich bedient. Aber die Kulturgeschichte im Zeichen des Kolonialismus hat eben auch ihre mündlichen Versionen.

    Danach (oder eher davor) kamen die Schafzüchter von Australien und sperrten die Einwohner in den Pferch von Hanga Roa, denn das Land sollte für die Schafe da sein, sie durften als einzige frei überall herumspringen, wo sie wollten, 10.000 Schafe. Dann die Piraten, vielleicht sogar von den USA, sie trieben Sklavenhandel, deportierten Leute in die Ferne, doch die stürzten sich von den Schiffen und ertranken, denn sie wollten zwar verzweifelt die Insel verlassen, aber sie ertrugen es nicht, dass man sie mit Gewalt fortbrachte. Und die lachhaften Anstrengungen der Plünderer, Stücke von den Statuen mitzunehmen! Danach haben Peruaner alle Männer und Frauen, deren sie habhaft wurden, zum Guano-Abbau an den Küsten der Inseln und des Kontinents verschleppt, bis es dort vor diesen neuartigen Zwangsarbeitern wimmelte und sie scharenweise starben am weißen Schrecken, an Erstickung.

    Das sind die schmutzigen Geheimnisse des Kulturkontaktes. Manche Rapanuianer machen auch einen etwas eigenwilligen Gebrauch vom Diskurs der Ethnologen. Sie wollen mit den überlieferten Abstammungslinien aus den Mythen Besitzansprüche an der Osterinsel geltend machen. Doch ist die seit 1995 ein UNESCO-Nationalpark mit den entsprechenden Einschränkungen für die Bewohner. Und gerade die UNESCO ermöglicht Glissants eigenes Projekt. So findet der Leser den engagierten Pionier der Globalität mitten in einer Krise der Repräsentation.

    Was soll er schreiben? Was lieber nicht? Einerseits ist Glissant sehr an dem archipelischen Wissen interessiert. Andererseits will er seine Informanten schützen. Schließlich will er nicht der Agent des kontinentalen Wissens sein. Der Dichter Glissant findet folgende Lösung: Das vielstimmig-mündliche Material von der Osterinsel wird im Schriftlichen des Kontinents auf eine bewusst geheimnisvolle Weise vermischt. Das ist gewollt, hat Methode und ist ein geradezu klassisches Beispiel für Glissants immer noch vitale Kulturpoetik.

    Eduard Glissant: Das magnetische Land.
    Die Irrfahrt der Osterinsel Rapa Nui

    Literarischer Reisebericht des karibischen
    Schriftstellers und Kulturphilosophen
    Verlag das Wunderhorn/Reihe "Völker am Wasser"