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Die Nachwuchs-Generation Ost
Junge deutsche Zweiheit

28 Jahre nach der Wiedervereinigung suchen junge Erwachsene nach wie vor nach ihrer Idendität. Jedenfalls junge Menschen im Osten. Während sich Westdeutsche deutsch fühlen, sehen sich erstaunlich viele Nach-Wendekinder als Ostdeutsche an. Das hat mit Abwertungserfahrungen wegen ihrer Herkunft zu tun.

Von Marie-Sophie Schiller | 03.10.2018
Sudiodeko der Sendung von Maybritt Illner
Ossi oder Wessi? - Junge Westdeutsche fühlen sich deutsch, Nach-Wendekinder sehen sich als Ostdeutsche (imago/ Müller-Stauffenberg)
"Also, was da im Kopf aneinandergekoppelt ist, bei wirklich fast allen: Osten – AfD; Osten – Pegida, das ist das, woran sich viele junge Ostdeutsche stören."
Als im Jahr 2015 Pegida damit begonnen hat, montags durch Dresdens Straßen zu ziehen, stand Valerie Schönian auf einer Gegendemonstration in München. Die Journalistin lebte und studierte damals in der bayerischen Landeshauptstadt. Ihre Freunde dort sahen in Dresden keine wütenden Bürgerinnen und Bürger – sie sahen vor allem Ostdeutsche.
"Und da wurden plötzlich Klischees aus der Schublade geholt, von denen ich dachte, dass es diese Klischees noch gibt – das sei ein Klischee. Also von wegen, sie seien abgehängt. Sie seien demokratieuntauglich. Die haben sowieso überhaupt nichts verstanden."
Die Ostdeutschen abgehängt. Nicht angekommen in der Demokratie. Das war der Moment, in dem Valerie Schönian anfing, sich selbst ostdeutsch zu fühlen. Das müsste sie nicht. Die heute 29-Jährige ist ein Wendekind, sie wurde acht Tage vor der deutschen Wiedervereinigung geboren. In Gardelegen, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Aber im Jahr 2015 in München wurde sie zum Ossi, wie sie sagt. Aus Trotz.
"Wie ich mit 27 zum Ossi wurde"
Anfang des Jahres schrieb die Journalistin einen Artikel für die Wochenzeitung "Die Zeit" über ihre Identitätsfindung: "Wie ich mit 27 zum Ossi wurde", lautete der Titel. Sie fragte sich darin, darf sie eigentlich noch Ossi sein? Ein Wessi ist sie ja nicht. Aber was dann? Sie redete mit Familie und Freunden, mit Kollegen und bemerkte, sie ist nicht allein. Viele junge Leser schrieben ihr, auch sie würden sich ostdeutsch fühlen. Allerdings fanden nicht alle ihren Artikel gut:
"Interessanterweise habe ich von älteren Ostdeutschen die Reaktionen bekommen: Das ist doch Quatsch, Du hast doch nichts mehr mit dem Osten zu tun, wo bist Du denn noch Ossi? Das ist ja auch das, was meine Eltern gesagt haben."
Eine Generation, die im vereinten Deutschland geboren wurde, sucht ihre Identität. Zwischen Ost und West. Alt und neu. Daniel Kubiak, Soziologe an der Humboldt Universität Berlin, erforscht die Frage, ob sich junge Erwachsene 28 Jahre nach der Wiedervereinigung heute noch west- oder ostdeutsch fühlen. Ein Ergebnis: Ja, das tun sie – zumindest im Osten.
"Was versteht Ihr unter Identität?"
"Ich frage die Leute am Anfang immer erst: Was versteht Ihr unter Identität? Und in der ersten ostdeutschen Gruppendiskussion ist der allererste Satz des allerersten Teilnehmers, der auf diese Frage antwortet: Ja, dass wir alle aus dem Osten kommen. Also, das ist der erste Satz. Während dieser Satz in keiner einzigen Diskussion in Westdeutschland fällt."
Das hat den Soziologen überrascht: ostdeutsche Identität ja, westdeutsche nein. Wie kann das sein?
Kubiak erklärt, dass Ostdeutsche noch immer als zusammenhängende Gruppe angesprochen und benannt werden. Und darauf würden sie auch reagieren. Aber wenn junge Erwachsene sich heute als Ossi bezeichnen, bedeutet das etwas anderes als noch vor 20 Jahren: Es geht nicht um einen DDR-Bezug. Es geht nicht darum, dass sie lieber Nudossi statt Nutella essen oder sagen, früher sei alles besser gewesen. Es geht um Abwertungserfahrungen wegen ihrer Herkunft, sagt Kubiak.
Der Geschäftsführer der Sächsischen und Dresdner Back- und Süßwaren GmbH & Co. KG, Karl-Heinz Hartmann, aufgenommen am 04.07.2012 in Radebeul.
Nudossi statt Nutella - "Es geht nicht darum zu sagen, dass früher alles besser gwesen ist." (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
Denn noch immer gebe es das "Wir und Die" - so wie es auch die Journalistin Valerie Schönian in Bezug auf Pegida in München erlebt hat. Die Abwertung der gesamten Gruppe führe zu einer stärkeren Identifikation mit ihr – quasi aus Solidarität, erläutert Daniel Kubiak. Zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan veröffentlichte er im Juli einen Artikel. Darin beschreiben sie, wie Ostdeutsche und Migranten in Deutschland gleichermaßen stigmatisiert werden. Beide Gruppen verbinden Heimatverlust und Abwertungserfahrungen.
Seit Jahrzehnten außerhalb des Normalen verortet
Ostdeutsche und Migranten würden seit Jahrzehnten außerhalb des Normalen verortet, heißt es bei den Forschern. Das Normale, das sei westlich codiert und als tolerant, demokratisch und zukunftsoffen beschrieben. Dem gegenüber würden Migranten und Ostdeutsche als intolerant, antidemokratisch und vergangenheitsorientiert stigmatisiert.
"Es gibt eine Norm, etwas, was als normal angesehen wird. Und alles, was normal ist, wird halt nicht gesehen, es ist nicht sichtbar. Und zumindest in dem Kontext Ost und West, ist das westdeutsch. Westdeutsch ist deutsch. Deutsche Geschichte in der Schule ist westdeutsche Geschichte. Und DDR-Geschichte ist DDR-Geschichte. Aber DDR-Geschichte ist nicht deutsche Geschichte."
Eine Migrationserfahrung schreibt man Ostdeutschen eigentlich nicht zu, sagt der Soziologe. Dabei gebe es weitere Parallelen: Umbrüche in der eigenen Biografie, teilweise geprägt von anderer Kultur und Gesellschaftslogik. Die beiden Sozialwissenschaftler glauben, die Migrationserfahrung Ostdeutscher werde unterschätzt, weil ethnische Identität hierzulande stärker gewichtet werde als Sozialisation.
Aber warum fühlen sich noch immer junge Menschen als ostdeutsch, die erst in den 1990er Jahren geboren und aufgewachsen sind? Junge Menschen, die keine DDR-Erfahrung haben, die Sozialismus nur aus dem Geschichtsunterricht kennen, für die Meinungs- und Reisefreiheit selbstverständlich sind.
Auswirkungen der Erfahrungen der Eltern
"Also, ganz viel Frage des Ostdeutschseins, der DDR-Sozialisation, wird darüber verhandelt, dass die Eltern in der DDR aufgewachsen sind, dort spezifische Erfahrungen gemacht haben und auch ganz viel darüber verhandelt, wie es den Eltern nach der Wiedervereinigung ging. Also da spielen so Fragen von Arbeitslosigkeit eine große Rolle, von Betrieben, die geschlossen wurden, und dass dann, die Leute eben sagen, und da fühle ich eben auch meine ostdeutsche Herkunft, oder meine ostdeutsche Identität meinetwegen, dass ich da ganz klar sagen kann, das macht auch was mit mir."
Erklärt Soziologe Daniel Kubiak den Grund, warum fast drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit noch immer viele diesen ostdeutschen Bezug für sich wählen. Vor allem die Zeit nach der Wiedervereinigung habe Menschen in den nun neuen Bundesländern verunsichert, bei aller Euphorie. Viele wurden über Nacht arbeitslos. Das bisherige Leben gab es in der Form auf einmal nicht mehr.
"Das habe ich immer noch so stark im Kopf, der eine Teilnehmer, der berichtet hat wie sein Vater entlassen wurde. Und wie das für ihn noch heute so relevant ist wie da mit dem Vater umgegangen wurde. Und jetzt gibt es ja erste Stimmen, die sagen, dass man in den letzten 30 Jahren verpasst hat zuzuhören. Also tatsächlich nachzufragen, wie ging es Euch eigentlich nach der Wiedervereinigung."
Köpping und was schief lief nach der Wiedervereinigung
Petra Köpping, die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, hat Anfang September genau darüber ein Buch veröffentlicht. "Integriert doch erstmal uns", zitiert die SPD-Politikerin im Titel eine Forderung sächsischer Bürger, mit denen sie sprach. In ihrem Buch fächert sie auf, was schief lief nach der Wiedervereinigung. Köpping meint, der Schatten der Nachwendezeit sei lang. Sie schreibt, die meisten Westdeutschen hätten noch nicht verstanden, was eigentlich wirklich im Osten nach dem Jahr 1990 passierte: Dass sich von einem auf den anderen Tag für die Menschen alles verändert hat. Viele haben profitiert, andere zerbrachen daran.
Petra Köpping (SPD), Integrationsministerin von Sachsen
Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) (Monika Skolimowska/dpa)
"Man hat nicht nur den Job verloren. Ich komme aus der Leipziger Region, da haben über Nacht 100.000 Menschen den Job verloren, über Nacht, das betone ich immer. Da sagen mir gerne Menschen im Ruhrgebiet, das war bei uns ganz genauso. Aber es war eben nicht nur der Job. Sondern es war alles, was man bisher im Leben erreicht hat. Und Sie wissen ja auch, dass gerade aus der ehemaligen DDR, wo es ja auch gute Sachen gegeben hat, ehrlich gesagt nichts übernommen wurde. Sodass die Wertigkeit des Lebens, was die Menschen bisher geführt haben, gen Null geführt worden ist. Und das ist eigentlich ein großes Problem, was die Menschen noch mit sich herumtragen."
In einer Umfrage der Sächsischen Zeitung vom Januar heißt es: Ostdeutsche fühlen sich noch immer – durch alle Bildungsschichten hinweg – als Bürger zweiter Klasse. Überraschend ist, dass dem vor allem die 18- bis 29-Jährigen zustimmen – und zwar mit über 70 Prozent. Eine Benachteiligung gegenüber Westdeutschen. Sie wird also im Osten deutlich empfunden.
Die Schmerzen der Wiedervereinigung
Valerie Schönian nennt die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern in der Zeit nach der deutschen Einheit eine Kränkung. Ihre Großmutter wurde arbeitslos, vielen Menschen gingen weg, zahlreiche Läden in der Kleinstadt in Sachsen-Anhalt stehen bis heute leer. Natürlich gab es viel Gutes. Aber die Journalistin sieht und fühlt manchen Schmerz, den die Wiedervereinigung mit sich brachte. Genau das treibt sie an.
"Dass so viele Ostdeutsche, junge Ostdeutsche, das Bedürfnis haben, dass gesehen wird, was der Osten noch ist, zeigt für mich, dass diese Kränkung, die die Eltern und Großeltern erfahren haben, auch irgendwie noch weitergegeben wird. Wenn jemand heutzutage aus München zum Beispiel Witze über Berlin macht, dann ist mir das total egal. Wenn jemand dumme Sprüche über Magdeburg macht und sagt in Magdeburg gibt es doch nur Plattenbauten und Nazis. Dann sag ich: Moment. Erstens nein und zweitens sind wir jetzt sogar in der 2. Bundesliga. Das bin nicht nur ich, sondern das haben viele. Und das hat einen Grund: Also dieses Bedürfnis, dass wir etwas richtigstellen wollen, kommt durch die Geschichte unserer Eltern und Großeltern."
Im öffentlichen Diskurs sei das lange ein Tabu gewesen. Jammer-Ossi, das hat auch Valerie Schönian schon zu hören bekommen. Aber sie möchte, dass die Unterschiede zwischen Ost und West nichts Trennendes mehr sein müssen. Denn in einer pluralen Gesellschaft müsse Einheit nicht Einheitlichkeit bedeuten:
"Der Osten hat eine andere Geschichte als der Westen. Und immer wenn es um die deutsche Geschichte geht, geht es meistens um die westdeutsche Geschichte. Wie alle Menschen durch ihre Geschichte geprägt werden, wird es auch der Osten. Und auf die emotionale Landkarte der Großeltern und Eltern hat sich die Erfahrung eines anderen Systems, eines gescheiterten anderen Systems eingeschrieben, die Erfahrung des Umbruchs und die Erfahrung der Nachwendezeit und des Scheiterns. Und das macht einen Unterschied darin, wie man alles wahrnimmt. Alle aktuellen politischen Entwicklungen, alle Diskussionen."
Netzwerk der zwischen 1975 und 1985 Geborenen
Es gab schon mal eine ostdeutsche Generationenbewegung, die das forderte. Im Jahr 2010 gründete sich das Netzwerk "Die dritte Generation Ost". Ein Zusammenschluss von Menschen, die zwischen 1975 und 1985 geboren sind. In der DDR verbrachten sie ihre Kindheit. Ihre Pubertät und die Turbulenzen der Nachwendezeit fielen biografisch zusammen, auch das prägt. Die Gründungsmitglieder des Netzwerkes nahmen das mediale Bild des Ostens als zu einseitig und westdominiert wahr. Das wollten sie ändern und selbst laut werden, erzählt Adriana Lettrari, die die 3. Generation Ost mitgegründet hat:
"Wenn Sie dann zu dem Zeitpunkt auch über Wendekinder Berichterstattung sahen, konnten Sie erleben, dass die rechtsradikal an der Bushaltestelle verloren in Ostdeutschland gezeichnet wurden. Und dass eben diese produktive Seite dieser Gruppe in keinster Weise Raum gefunden hatte. Und das hat uns wirklich so geärgert."
Wieder Abwertungserfahrungen. Wieder Ungerechtigkeitsempfinden. Aber die Dritte Generation Ost wurde gehört – sogar Bundespräsident Joachim Gauck lobte die Bewegung mit den Worten "Sie tue unserem Land gut". Ein Buch fasste die Forderungen zusammen und wurde mit einem Bürgerpreis ausgezeichnet. In Biografie-Workshops konnten Wendekinder ihre Lebensgeschichte aufarbeiten. Und eine Bus-Tour durch den Osten vergrößerte das Netzwerk weiter. Ein Hauptstadtbüro sollte auch den politischen Einfluss stärken.
Neue Bewegung erforderlich
Doch im Jahr 2014 verstummte das Netzwerk. Unterschiedliche Auffassungen der Initiatoren und immer weniger Zeit für das ehrenamtliche Projekt waren Gründe. Adriana Lettrari meint, es brauche nun wieder eine Bewegung. Eine Art 3. Generation Ost 2.0. Denn wie der Osten zurzeit in den Medien dargestellt werde, sei ein Rückschritt. Das hat natürlich auch mit den Ereignissen in Chemnitz zu tun, mit rechtsextremer Gewalt und ausländerfeindlichen Parolen dort. Über Rechtsextremismus muss gesprochen und berichtet werden. Aber er ist nicht nur ein Problem in Ostdeutschland. Genauso wie hohe Wahlergebnisse der AfD nicht nur ein ostdeutsches Phänomen sind.
"Dass, was wir jetzt erleben, und insofern fühlen wir uns schon auch ein Stück weit erstarrt in diesem Moment, ist nichts anderes als ein Backlash. Also wir fühlen uns eigentlich völlig zurückgeworfen zu dem Ausgangspunkt, als wir gestartet haben."
Auch ein Kind der 3. Generation Ost ist die Politikerin Luise Amtsberg. Sie sitzt für die Partei Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag. Ihr Wahlkreis liegt in Schleswig-Holstein. Geboren wurde sie 1984 in Greifswald, später lebte sie in Ost-Berlin. Ihre Eltern waren alles andere als Regimetreu. Luise Amtsbergs Vater war drei Jahre lang im Stasi-Gefängnis in Bautzen, eine der meist gefürchtetsten Haftanstalten der DDR. Erfahrungen, die sie bis heute prägen.
"Ich stehe auch in einer gewissen Tradition meiner Familie, ein Erbe zu verfolgen. Es ist für mich völlig klar, dass ein Mandat zu haben im Deutschen Bundestag ein Privileg ist. Dass mein Vater nie die Möglichkeit hatte, in seiner Jugend frei zu sprechen und für seine Überzeugung zu kämpfen."
Ostdeutsche Wurzeln würde niemand wahrnehmen
Ihr Abitur machte Luiste Amtsberg in Niedersachsen. Sie erzählt, kaum jemand nehme heute ihre ostdeutschen Wurzeln wahr. Aber sie selbst spüre einen emotionalen Unterschied. Aktuelles Beispiel: Chemnitz. Die Bilder von rechtsextremen Demonstranten und ausländerfeindlichen Parolen, die würden sie stärker bewegen als beispielsweise westdeutsche Freunde oder Kollegen, sagt sie.
"Der Osten stand ja immer im Verruf, und es war ja statistisch auch so, rechtsextremer zu sein als der Rest. Und dann hat man aber gesehen, dass in Städten wie Leipzig oder auch Rostock, dass sich richtig was entwickelt: Tolle Menschen, eine super Subkultur, Kunst und dass Menschen sich sozusagen ihren Raum auch erobern. Und solche Ereignisse wie jetzt in Chemnitz, ja, die sind ein Rückschlag."
Luise Amtsberg (Grüne) sprucht im Bundestag
Kind der "3. Generation Ost": Luise Amtsberg (Grüne) (dpa)
Luise Amtsberg findet, die Gesellschaft sollten weniger mit dem Finger auf Ostdeutschland zeigen. Sondern zuhören, verstehen – schließlich gäbe es viele wichtige Zeitzeugen, von denen alle auch etwas lernen können.
"Ich glaube es ist eine der wichtigsten Auseinandersetzungen derzeit, dass wir gucken müssen, dass wir die Erfahrungen meiner Eltern-Generation viel stärker auch in den politischen Alltag bringen."
Deswegen müsse man weiter über den Osten reden. Aber eben differenziert, ohne pauschale Gleichsetzungen wie Osten gleich AfD. Denn sonst, glaubt Soziologe Daniel Kubiak, überträgt sich eine Ost-Identität auf immer weitere Generationen.
Die Kategorien ost- und westdeutsch einfach ablegen?
Was würde es bringen, die Kategorien ost- und westdeutsch einfach abzulegen? Wenn nur noch von Sachsen, oder Mecklenburg-Vorpommern die Rede ist. Der Vorschlag kommt immer wieder auf. Auch Daniel Kubiak kennt ihn.
"Man könnte jetzt natürlich sagen, wir hören jetzt auf, darüber zu reden. Dann müssten es halt auch alle tun. Es müssten sozusagen Medien aufhören, das Thema immer wieder relevant zu machen, es müssten Wissenschaftler, also ich müsste aufhören eigentlich, dazu zu forschen. Und dann wäre die Hoffnung, dass es dann nicht mehr relevant wird. Aber ich glaube, dass man darin nicht unterschätzen sollte, wie relevant es dann aber doch tatsächlich anhand sozialstruktureller Daten ist."
Das heißt, nicht darüber zu sprechen, wird auch nichts helfen. Allerdings sollten die Menschen in Ostdeutschland den Diskurs selbst führen, führen wollen. Ohne Klischees.
Vielleicht werden sich junge Erwachsene dann irgendwann nicht mehr als "Ossis" bezeichnen. Tim Leibert vom Leibnitz-Institut glaubt daran: Er hat im Jahr 2012 Schülerinnen und Schüler in Sachsen-Anhalt und Sachsen befragt, um herauszufinden, warum Menschen den Osten verlassen wollen. Diese Befragung hat er kürzlich, Jahre später wiederholt.
"In der ersten Studie haben wir so etwas wie eine Abwanderungskultur festgestellt. Also, dass man die Heimat eigentlich mit Niedergang, mit fehlenden Chancen, mit niedrigen Löhnen verbunden hat und dass man auch gar nicht so vor Ort gesucht hat. Sondern, dass man dann schon sehr stark auf das Weggehen fokussiert war."
Die Perspektiven sind gut
Sechs Jahre später ein anderes Bild. Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist noch lange nicht abgeschlossen, wird es in manchen Bereichen vielleicht nie sein. Aber der Osten entwickelt sich so gut, dass immer mehr junge Menschen auch eine Ausbildungs- und Job-Perspektive in ihrer Heimat finden. Tim Leibert hörte aus den Befragungen der Schülerinnen und Schüler Veränderungen heraus:
"Das merkt man auch bezüglich der Frage, wie die Jugendlichen ihre Heimatregion charakterisieren. Das ist wesentlich weniger katastrophal als das in unserer ersten Befragung der Fall war. Also da hatten wir im Prinzip eine Frage, die Region hier hat keine Chancen. Und das ist praktisch unisono beantwortet worden mit ja. Oder auch: Wenn ich was aus meinem Leben machen will, dann muss ich hier weg, da haben auch die meisten zugestimmt. Und die beiden Fragen haben wir jetzt in der anderen Schülerbefragung wiederverwendet und das war bei Weitem nicht so eindeutig."
Panorama Leipzigs von der Ausssichtsplattform City-Hochhaus in Leipzig, Sachsen.
Ostdeutsche Städte sind im Aufwind - wie zum Beispiel Leipzig (imago / Schöning)
Ostdeutsche Großstädte haben Aufwind. Leipzig beispielsweise gilt als sogenannte Boom-Stadt – denn sie zieht mittlerweile Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet an. Um zu studieren oder – wie die Ärztin Dilan Sert, um ein medizinisches Start-Up zu gründen, das Ärzte an überlastete Krankenhäuser vermittelt. Das hat sie in ihrem Heimatland Nordrhein-Westfalen vergeblich versucht. Erst in Sachen fand die 28-Jährige finanzielle Unterstützung.
"Die Lebenserhaltungskosten sind eben in Leipzig noch nicht so hoch wie in München oder in Berlin oder in Düsseldorf. Das ist das eine. Das andere ist, dass Leipzig eben noch nicht so überfüllt ist von ganz vielen Start-Ups. Zwar von ganz vielen jungen Leuten, die aus ganz Deutschland hierherkommen, eben weil man hier gut leben kann, eine hohe Lebensqualität hat."
Auch die Journalistin Valerie Schöninan glaubt, dass der Osten viele Vorzüge biete, vor allem viel Raum für Kreative. Das sei noch immer eine Art gut gehütetes Geheimnis. Aber vielleicht nicht mehr lange – denn in den letzten Jahren sei ein neuer Lokalpatriotismus entstanden, eine Art ostdeutscher Stolz junger Menschen, erzählt sie:
"Wenn ich von dem ostdeutschen Lokalpatriotismus spreche, meine ich eben nicht, dass es im Osten besser sei als anderswo, sondern nur, dass es auch gut ist. Im Osten gibt es halt so viel Platz und so viel Freiheit, die damit einhergeht und so viele kreative Leute. Ich habe mit so vielen westdeutschen Zugezogenen gesprochen, die gesagt haben: Oh, hätte ich das gewusst. Boah, der wilde Osten, was hier alles möglich ist."