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Die Natur der Moral

Die Kategorien von Gut und Böse sind die Eckpfeiler von Moral. Der Psychologe und Verhaltensforscher Norbert Bischoff hat in seinem Buch untersucht, wie es zu unterschiedlichen Wertevorstellungen kommt, und stellt fest, dass Moral immer ambivalent ist.

Von Ingeborg Breuer | 10.01.2013
    Nachdem es im Jahr 1992 in Rostock zu rechtsextremen Ausschreitungen gegen vietnamesische Asylbewerber gekommen war, gab es ein Streitgespräch zwischen dem damaligen Münchener Oberbürgermeister Georg Kronawitter und dem damaligen niedersächsischen Minister Jürgen Trittin.

    "Und der eine davon sagte, das ist schlimm, das sind Arbeitslose, die sind frustriert, und wenn sie frustriert sind, sucht man gleich einen Sündenbock. Und der andere konterte mit der Bemerkung: Moment mal, Frustration ist kein Grund sich als Schwein zu benehmen. Beide haben von Gründen gesprochen und beide haben sie aneinander vorbei geredet. Und der Grund war der, dass der eine mit Gründen Ursachen meinte und der andere Rechtfertigungen."

    Mit diesem Beispiel beginnt Norbert Bischof sein Buch über Moral. Der Realpolitiker Kronawitter stellt eine "empirische These" auf: Menschen, die arbeitslos sind, suchen Sündenböcke! Und der "Moralist" – Trittin – empört sich, dass dies keine Rechtfertigung sei, Asylbewerberheime anzuzünden.

    "Man kann einmal von den wirkenden Kräften und Spannungen und Antrieben und Hemmungen sprechen, die sich aufbauen und dann zu moralischem Handeln führen und man kann sprechen über Pflichten und Rechte, über Schuld und Billigkeit. Und das Interessante ist, dass man auf beiden Ebenen diskutieren kann, sich beide Ebenen aber nicht vermischen lassen."

    Sowohl "Empiristen" als auch "Moralisten", so Norbert Bischof weiter, neigen aber zu logischen Fehlschlüssen in puncto Moral. Man kann von der Beschreibung, wie etwas ist, nicht darauf schließen, wie etwas sein soll. Das wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Man kann aber ebenso wenig von einem moralischen Postulat, das man aufstellt, ableiten, dass die Wirklichkeit dann diesem Postulat entspricht.

    "Das könnte man dann den moralistischen Trugschluss nennen. Der naturalistische Trugschluss - ein Beispiel wäre, wenn man sagt, dass man Frauen und Männern unter Berufung auf ihre naturgegebene Verschiedenheit verschiedene Rechte einräumt oder vorenthält. Der Moralistische ist aber genauso falsch, dass man unter Berufung auf ihre Gleichberechtigung die Unterschiede leugnet."

    In seiner eigenen Theorie über Moral versucht Norbert Bischof sowohl die naturalistischen als auch die moralistischen Fehlschlüsse zu vermeiden. Dabei versteht sich der emeritierte Verhaltensforscher und Psychologe als "Empirist". Er versucht, Sachverhalte zu ergründen, aus denen Moral entspringt und nicht, wie er schreibt, "Sollensforderungen zu untermauern". Und jede Moral, meint Bischof, habe ihren Ausgangspunkt in der menschlichen Natur und finde dort auch ihre Grenze.

    "Da muss man fragen, was ist die Aufgabe der Moral, woran ist sie adaptiert? Ist sie nicht daran adaptiert, die Komplikationen im Aufbau der menschlichen Natur ein bisschen in Ordnung zu bringen. Also versucht die Moral nicht im Grunde das menschliche Leben so zu gestalten, dass sich der Mensch in seinem natürlichen Verhalten einigermaßen spannungsfrei wieder erkennt."

    Zum Beispiel: Alle Gesellschaften kennen Heiratsordnungen, in denen Inzestschranken bestehen. Zwar gibt es unterschiedliche kulturelle Vorstellungen darüber, welche verwandtschaftlichen Verbindungen erlaubt und welche verboten sind, doch gaben sich die Menschen immer wieder Gesetze, die das Überleben ihrer Art bestmöglich sichern sollten.

    "Wo man die Grenze der Enge zieht, drin unterscheiden sich die Kulturen ganz erheblich, es gibt Kulturen, wo nur die Geschwister ausgeschlossen sind. Das gemeinsame Muster besteht darin, dass man niemanden heiratet, der einem zu nahe und der einem zu fernsteht."

    Moralische Regeln haben sich im Laufe der Zeit aus zwei sich wandelnden Grundwerten entwickelt: Heute sind moralische Normen eng verbunden mit dem Ideal der Gerechtigkeit. In früheren Zeiten aber war auch die "individuelle Reinheit" - die Vorstellung von persönlicher Ehre und Integrität - zentral für das moralische Wertempfinden. Schuldgefühle, so Bischof, seien vor allem das Resultat einer begangenen Ungerechtigkeit. Scham wiederum entstehe, wenn die eigene "Reinheit" verletzt werde.

    "Das eine ist die Gerechtigkeit, wenn man den Begriff weit genug fasst, hat man darunter auch den kategorischen Imperativ und die Diskursmoral und alles, was modern heute diskutiert wird. Was vielleicht zwei Generationen vorher oder noch länger vorher neben der Gerechtigkeit als Grundsatzideal stand, war die Reinheit, der Begriff des Edlen, der da im Vordergrund steht, dass der Mensch in einem prägnanten Sinne verpflichtet ist, Mensch zu sein und das betrifft das Individuum und nicht seine Beziehung zu anderen."

    Norbert Bischofs Analysen sind ernüchternd. Sind alle moralischen Entwürfe Versuche des Menschen, mit dem Faktor Natur umzugehen, dann mag man vielleicht von geeigneten und weniger geeigneten Moralentwürfen sprechen. Doch eine "Letztbegründung" von Moral – im Sinne einer Beweisbarkeit ihrer universalen Geltung – ist für den Verhaltensforscher unmöglich. Und noch ernüchternder: zwar gehöre es zu den demokratischen Grundideen, dass alle Menschen gleich sind. Doch jede Gesellschaft, meint Bischof, treffe Unterscheidungen, Unterscheidungen zwischen "Uns" und "den Anderen".

    "Antisoziales Verhalten ist nur unmoralisch, wenn es innerhalb der Wirgruppe ausgeführt wird. Der Prototyp eines solchen antisozialen Verhaltens wäre der Mörder. Antisoziales Verhalten gegen Nichtgruppenmitglieder ist hingegen verdienstvoll. Und hier ist der Prototyp der Krieger. Und dann gibt es noch das antisoziale Verhalten gegen den Mörder, was auch nötig ist. Und hier wäre der Prototyp der Henker."

    Jede Gesellschaft habe klare Vorstellungen von den "Guten" und den "Bösen". Und ebenso davon, dass die Guten sich gegen die Bösen zur Wehr setzen müssen. Doch - wer "die Guten " und wer "die Bösen" sind, das wechsele je nach Kultur. Der islamistische Fundamentalist etwa versteht sich als Krieger, während die westliche Welt ihn als Mörder sieht. Die moralischen Perspektiven sind, meint Bischof, unaufhebbar "relativ". Und daher sei Moral immer ambivalent. Sie sei einerseits die "nobelste Errungenschaft der menschlichen Kultur". Und zum anderen "ein erbarmungsloses Mordinstrument, dem mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als den schlimmsten Naturkatastrophen".

    "Z. B. irgendeine Terrororganisation wie die RAF damals, als sie den Schleyer umgebracht haben, haben sie das als Hinrichtung verstanden, sie haben sich in der Rolle des Henkers gesehen oder vielleicht auch in der Rolle des Kriegers, während sie von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft als Mörder empfunden werden. Und das ist eine nichtaufhebbare Unschärfe, sodass es Schwierigkeiten macht, damals die Mitglieder der RAF als moralisch niedrigstehend zu betrachten. Das kann sie nur vor dem Hintergrund der Gesellschaft sein, aber nicht vor dem Hintergrund irgendwelcher objektiv feststellbaren Werte, die für alle in gleicher Weise verbindlich sind. Diese an das Firmament gehefteten Tafeln gibt es einfach nicht."