Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Die neue Ausgabe der Zeitschrift ''Edit''

"Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen." Sie klingt schon ein bisschen einschüchternd, die Sottise, die der Philosoph Theodor Adorno vor einem halben Jahrhundert dem Kulturbetrieb seiner Zeit entgegenschleuderte. Aber leider zwingen einen viele literarische Erzeugnisse unserer Tage, die grimmige Sentenz des Philosophen zu wiederholen. Diese schmerzhafte Erfahrung hat auch die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel machen müssen, als sie kürzlich nach der Verlässlichkeit und der literarischen Kontur des Ich in aktuellen Gegenwartsromanen fragte. Das Ergebnis ihrer kritischen Bestandsaufnahme der allerjüngsten Ich-Stimmen ist jetzt in der neuen Ausgabe, der Nummer 31 der Leipziger Literaturzeitschrift EDIT nachzulesen, jenem "Papier für neue Texte", dem wir sehr hilfreiche Sondierungen auf dem unübersichtlichen Terrain der "jungen Literatur" verdanken. In ihrem elaborierten Essay geht Antje Rávic Strubel zu den naiven Ich-Sagern der Gegenwartsliteratur auf entschiedene Distanz. Strubels Misstrauensvotum gegen die unbedarfte Konstruktion eines selbstgewissen Ich-Subjekts beruft sich auf Beckett, dessen Romane oft nur von der Unmöglichkeit handeln, ein "Ich" zu finden, das Worte hat.

Michael Braun | 18.07.2003
    Die neue EDIT präsentiert aber leider auch erzähltheoretisch blinde Gegenbeispiele, etwa die Prosa von Susanne Heinrich, die ein erfahrungsarmes Ich installiert, das eine jener atemlosen Liebes-Versuchs-Geschichten erzählt, die in der jungen Literatur als Dutzendware produziert werden. Mit eher geringer ästhetischer Risikobereitschaft gehen auch die jungen Lyriker in EDIT zu Werke. Jörg Schiekes Verse, vor einiger Zeit mit einem nicht unbedeutenden Literaturpreis ausgezeichnet, folgen allzu bereitwillig den Sentimentalitäten einer recycelten Erlebnislyrik, die sich an verlorenen und wiedergefundenen Geliebten berauscht: "manche Frauen heißen Saskia/ sie hängen mit dem Herzen wo fest / und sind doch nach dem Licht gewachsen...". Solchen rührenden Unbeholfenheiten sind denn doch die schnörkellosen Erzählgedichte von Maik Lippert vorzuziehen, auch wenn diese zu sehr auf die Authentizität der subjektiven Erfahrung vertrauen. Am ehesten kann noch Arne Rautenbergs Projekt überzeugen, der in einem Zyklus von Rollengedichten die fiktiven Bewohner eines "dunklen Hauses" porträtiert. Das eine oder andere Charakterbild, so etwa das Porträt der "hilfsarbeiterin" oder der "künderin", hat den Vorzug einer lakonischen Drastik. Die schönsten Gedichte in EDIT stammen aber von einem jungen Engländer, dem in seiner Heimat enorm erfolgreichen Lyriker Simon Armitage, der von Jan Wagner vorgestellt und übersetzt wird. Es ist eine sehr erzählerische, vitalistische, manchmal auch anekdotische Dichtung, die in schwarzem Humor und manchmal rauen Pointen Szenen aus dem Alltag darbietet. So wird in grimmigem Witz die Geschichte eines Mannes in Verse verwandelt, der sich mit dem Auto in einen Schneesturm hinaus wagt, aber kläglich scheitert: "Man fand ihn zusammengesunken über dem Lenkrad, / VOLVO in Spiegelschrift auf der gefrorenen Stirn. / Bei heißem Grog stritt man sich im Pub, / wem am meisten Ehre gebührte. Ihm , der die Antenne für einen Weißdornzweig hielt? / Ihm, der den Umriss des Autos erkannte?/ Oder ihm, der die Hupe zu hören glaubte, ihr Klagen/ gedämpft wie ein Wecker unter der Daunendecke?"