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Die Neuordnung der Welt mit dem Leib

Die freie Theatertruppe "werkgruppe 2" hat in Göttingen zusammen mit dem dortigen Deutschen Theater ein "Projekt" gemacht: über die Faszination des Zirkus', über die Zirkusarbeit, die Zirkusfamilien, die Zirkusprobleme – fast wäre es eine Reportage geworden, aber, Michael Laages kann es bestätigen, herausgekommen ist doch ein richtiger Theaterabend.

Von Michael Laages | 10.06.2012
    Als zögen sie gerade ein ins Winterquartier, und als ginge es ihnen geschäftlich derart mies, dass sie alle Attraktionen außer sich selber hätten verkaufen müssen – so, nur mit einem alten Wohnwagen und sich selber drin, ziehen die Zirkusleute ein in die muffig-kühle Lagerhalle der historischen Göttinger Saline Luisenhall, wohin die "werkgruppe 2", ein freies Theaterensemble mit Unterstützung des Deutschen Theaters der Stadt, schon mehrfach einlud: für ein Projekt über das Grenzdurchgangslager Friedland und eine Recherche über den Alltag von Soldaten in Afghanistan. Wieder hat Julia Roesler vor allem recherchiert, hat authentische Geschichten von Zirkusmenschen zusammengetragen und montiert; deren Stolz und deren Melancholie prägen diese kleine Theater-Fantasie ähnlich stark wie, natürlich, die Musik nach Zirkus-Art ...

    Dieser eigenwillige Menschenschlag passt in kein gesellschaftliches Raster – so sehr sich zum Beispiel die Zirkusmenschen in Roeslers Montage irgendwann, und speziell im Alter, wenn Knochen und Geist nicht mehr wollen wie sie sollen, nach irgendeiner Form von Sicherheit sehnen, so selbstbewusst wischen sie die beiseite, solange sie jung sind ... und weil sie auf normalen Schulen nie recht heimisch werden können, bleiben Zirkuskinder oft Zirkuskinder: Und berufen sich, wie Roeslers Theaterstimmen gleich zu Beginn, auf Generation um Generation der Vorfahren, die immer alle beim Zirkus waren.

    Jenseits der Geschichten über schönste Augenblicke oder dramatische Unfälle entwickelt die kleine Göttinger Show aber besonderen Charme aus der Improvisation ihrer Kunst-Stücke; denn gemeinhin haben Theatermenschen zwar oft das Zeug zum Clown, sind aber nicht im Übermaß artistisch begabt. Und so übernehmen quietschende Gummischweine die Parts gefährlicher Raubtiere, bevor sie zum Trocknen an die Wäscheleine kommen, und mit Eiern, gekocht oder roh, lässt sich ähnlich ambitioniert und riskant jonglieren wie mit Ringen, Keulen oder Feuerfackeln ...

    Am wichtigsten aber ist dies: Stärker als jede andere Form von Kunst-Darbietung konzentriert sich die im Zirkus auf den engen, möglichst direkten Kontakt mit der Kundschaft; Emotion wirkt hier ungefiltert und pur, Lachen und Weinen sind eins; und wenn irgendwo die Legende stimmt, dass Künstler praktisch leben vom Applaus, dann in der Manege und unter dem Chapiteau ... Die Göttinger Inszenierung erzählt in den Geschichten aus dem wenig glamourösen Alltag natürlich auch vom chronisch schlechten Ruf des "fahrenden Volks" und streift Themen wie den seit einiger Zeit latenten Streit mit fundamentalistischen Tierschützern; und doch sucht sie immer vor allem den magischen Moment, auch im tristesten Alltag, mit nicht viel mehr als Nichts und kleinen Tricks, Kostümen und einem Wohnwagen.

    Manchmal ist sie diesem Zauber sogar wirklich auf der Spur.