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Die obskure Revolution

Dezember 1989 - das Ende des Regime Ceausescus in Rumänien. Ein blutiges Ende. Doch eine Frage bewegt die Rumänen noch heute: War das, was im Dezember 1989 stattfand, ein Volksaufstand oder ein Staatsstreich? Eine Chronik der Ereignisse.

Von Keno Verseck | 22.12.2009
    "Wäre ohne Sie damals das Chaos in Rumänien ausgebrochen, die Anarchie?"

    "Ich denke, ja. Es herrschte allgemeine Orientierungslosigkeit. Nichts kam zustande. Mein Erscheinen brachte Sinn in das Ganze."

    Treffen mit Ion Iliescu - einst Stalinist, dann Reformkommunist, im Dezember 1989 einer der Drahtzieher beim Sturz des Diktators Ceausescu, danach dreifacher Staatschef Rumäniens und bis heute einer der einflussreichsten Politiker im Land. Der 79-jährige Iliescu spricht über sich, über den Dezember 1989. Er sieht sich als eine Art Heilsbringer, er glaubt, die Normalisierung und Demokratisierung Rumäniens sei im Wesentlichen sein Verdienst.

    Manche Nachfragen zu seiner Rolle beim Sturz Ceausescus bringen ihn in Rage. Darunter auch die Frage, die viele Rumänen noch heute bewegt: War, was im Dezember 1989 in Rumänien stattfand, ein Volksaufstand oder ein Staatsstreich? Iliescu antwortet mit nur schwer beherrschter Wut:

    "Es heißt immer, es war ein Putsch mit Iliescu an der Spitze. Wenn es wenigstens so gewesen wäre! Dann hätten wir die vielen Todesopfer nicht gehabt. Aber es war leider kein Putsch."

    Rückblick.

    Bukarest, 21. Dezember 1989, vor dem Gebäude des Zentralkomitees. Nicolae Ceausescu hält seine letzte Rede, zehntausende Menschen sind aus Betrieben der rumänischen Hauptstadt zum Jubeln und Klatschen abkommandiert worden. Plötzlich wird der Diktator ausgepfiffen, "Nieder-Ceausescu!"-Rufe ertönen. Das hat der 71-jährige Tyrann noch nie erlebt. Er blickt ungläubig auf. Dann versucht er hilflos, die Massen zu beruhigen.

    "Alo! Alo! Genossen!"

    "Ruhe!"

    Es ist das endgültige Signal zum Sturz der Diktatur am nächsten Tag. Eine der düstersten Diktaturen Europas: Ceausescu regiert unumschränkt und brutal, der Geheimdienst Securitate ist sein gefürchteter Repressionsapparat. Der Diktator betreibt einen bizarren Kult um seine Person und überzieht sein Land mit gigantomanischen Industrie- und Bauprojekten. Er hat einen großen Teil der Bukarester Innenstadt abreißen lassen, um für sich und seine Frau einen riesigen Palast - das größte Gebäude Europas - nebst einem vier Kilometer langen Defilierboulevard zu errichten. Tausende Dörfer sollen abgerissen werden, um so genannten agro-industriellen Zentren Platz zu machen. Mit Geburtenzwang will Ceausescu Rumänien zu einer regionalen Großmacht aufblähen - von 22 Millionen soll die Bevölkerung auf 30 Millionen wachsen, Frauen müssen regelmäßige gynäkologische Zwangskontrollen über sich ergehen lassen, damit sie nicht heimlich abtreiben. Eine homogene Bevölkerung wünscht der Diktator und ordnet eine gegen Minderheiten gerichtete Assimilierungspolitik an. Schließlich hat Ceausescu auch die Rückzahlung sämtlicher Auslandsschulden angeordnet und lässt für diesen ökonomischen Irrsinn alle Reserven mobilisieren. Dafür leiden die Rumänen unter der schlimmsten Mangelwirtschaft Europas. Lebensmittel, Wasser, Strom und Heizung sind auf ein Minimum rationiert.

    Die Ceausescu-Diktatur ist ein Sonderfall in Osteuropa, wie auch ihr Ende. Im erodierenden Ostblock des Jahres 1989 ist der Umsturz in Rumänien der letzte und einzig gewaltsame. Der einzige, bei dem ein Diktator hingerichtet wird. Ein Umsturz, dessen Verlauf aus einem Sendestudio des Staatsfernsehens heraus live mitgelenkt und manipuliert wird - die erste "Telerevolution" der Welt. Ein Umsturz, den die Nomenklatura und der Repressionsapparat der Diktatur nahezu unbeschadet überleben.

    Bukarest 22. Dezember 1989, 12:09 Uhr, das Gebäudes des Zentralkomitees. Vom Dach hebt ein Hubschrauber ab, darin Nicolae und Elena Ceausescu, Videoamateure halten die Szene in wackeligen Bildern fest. Auf dem Platz vor dem Gebäude jubeln die Menschen: "Der Diktator ist geflohen!"

    Kurz zuvor haben Armee und Securitate Ceausescu still und heimlich fallen lassen. Nun irrt das entmachtete Diktatoren-Ehepaar stundenlang umher, erst per Hubschrauber, dann per Anhalter auf einer Landstraße. Um 18:35 Uhr werden die beiden 70 Kilometer nordwestlich von Bukarest gefangen genommen und in einer Kaserne der Stadt Târgoviste festgesetzt.

    Bukarest, 22. Dezember 1989, 14:35 Uhr. Im Studio 4 des rumänischen Staatsfernsehens TVR tritt Ion Iliescu vor die Kamera und wendet sich an das Land. Der 59-Jährige verkündet, dass man ein Komitee zur Nationalen Rettung schaffen werde. Eine halbe Stunde später spricht er erneut: Er warnt vor Anarchie im Land und beklagt wütend, dass unter Ceausescu, dem verhassten Diktator, die Ideale der kommunistischen Partei befleckt worden seien.

    In Parteikreisen und bei Intellektuellen ist Ion Iliescu bekannt als Reformkommunist. Er war einst Jugendminister und Kronprinz Ceausescus gewesen, bis er 1971 beim Diktator in Ungnade fiel. Der hatte ihn zuletzt auf den Posten eines Direktors beim Technischen Verlag abgeschoben. Immer wieder war in den 1980er Jahren Iliescus Name gefallen, als es um mögliche Verschwörungen gegen den Diktator ging. Nun gelingt es dem kleinen, agilen Iliescu quasi über Nacht, der neue starke Mann im Rumänien nach Ceausescu zu werden. Ein Putsch? Einiges spricht dafür, vieles eher dagegen. Klar zu beweisen oder zu widerlegen ist die Putschthese nicht. Fest steht jedoch: Geschickt nutzt Iliescu das Machtvakuum aus und bindet alte Parteikader sowie die Führung der Armee und des Geheimdienstes Securitate an sich. Er ermöglicht einem großen Teil der alten Elite den bruchlosen Transfer ins neue System. Kritiker werden Iliescu später vorwerfen, die "Revolution gestohlen" zu haben.

    "Alles Unsinn", ruft der 79-jährige Iliescu entnervt, wenn man ihm die Vorwürfe seiner Kritiker entgegenhält. "Das sind die vielen Abartigkeiten des politischen Disputes bei uns!"

    Iliescu ist verbittert, weil er sich von einem Teil der rumänischen Gesellschaft noch immer verleumdet und als dreimaliger Staatschef zu wenig gewürdigt sieht. Er kann nicht verstehen, warum er bis heute die kontroverseste Figur im postkommunistischen Rumänien ist. Mit ungebrochenem Sendungsbewusstsein spricht er über den Nachmittag jenes 22. Dezember 1989, als er im legendären Studio 4 seine erste Ansprache hielt:

    "Mein Erscheinen im Fernsehen löste einen magnetischen und zusammenschweißenden Sog auf die Menschen in meinem Umkreis aus. Es war, denke ich, ein spontaner Zusammenschluss der Menschen um ein Symbol herum. Ich war ja schon in der vorherigen Epoche eine Art Symbol gewesen, weil ich bekannt war."

    22. Dezember 1989, früher Nachmittag, eine wilde Schießerei auf dem Platz vor dem Gebäude des Zentralkomitees. Die Straßenkämpfe mit den so genannten "Terroristen" beginnen - mutmaßlichen Elitetruppen des Geheimdienstes Securitate, die angeblich bis zuletzt für Ceausescu kämpfen. Mehr als zwei Wochen lang gibt es in Bukarest, aber auch anderswo im Land immer wieder Gefechte mit besagten Terroristen. Bei diesen Scharmützeln sterben die meisten der offiziell 1104 Toten der rumänischen Revolution, nämlich 978 Menschen.

    Doch in Wirklichkeit hat es die Terroristen nie gegeben - zu diesem Ergebnis kamen jedenfalls sowohl eine parlamentarische Untersuchungskommission als auch die Bukarester Militärstaatsanwaltschaft. Beide Gremien wälzten jahrelang Tausende von Akten und hörten Hunderte von Zeugen. Das Ergebnis: Es wurden schlicht Armee-Einheiten aufeinander gehetzt, Soldaten schossen auf Soldaten und Zivilisten. Im Abschlussbericht der Militärstaatsanwaltschaft vom Dezember 2000 werden mehrere Generäle aus dem Kreis der provisorischen Machthaber um Ion Iliescu als Verantwortliche genannt. Im Bericht heißt es:

    "Im Dezember 1989 gab es keine Terroristen. Sie waren eine Diversion, erfunden von denen, die die Militäraktionen im Land koordinierten."

    Anders gesagt: Inszeniert wurden die Straßenkämpfe mit den angeblichen Terroristen zur Legitimation der altneuen Machthaber, die sich nun als Anti-Ceausescu-Kämpfer profilieren wollten.

    Anghel Cioran tritt ans Grab. "Hier ist es", sagt der alte Mann kaum hörbar. Auf einem Stein aus weißem Marmor steht der Name seines Sohnes, Gabriel, und das Todesdatum: 25. Dezember 1989. "Ich bin jeden Tag bei ihm", sagt Anghel Cioran: "Jeden Tag seit zwanzig Jahren."

    Bukarest, der Friedhof am "Platz der Helden der Revolution", auf dem der Verkehr sechsspurig vorbei donnert. Hier liegen sie begraben, viele der Todesopfer des Dezember 1989. Helden - wohl ein zynisches Wort für viele Angehörige. Schließlich starben die meisten völlig sinnlos.

    Auch Ciorans Sohn Gabriel. Er wurde am ersten Weihnachtsfeiertag 1989 vor dem Gebäude des staatlichen Radios in der Bukarester Innenstadt erschossen. Er hatte sich mit Freunden treffen wollen und war wohl zufällig dort vorbeigekommen. Wie sein Vater war er Physiker gewesen. Die genauen Umstände seines Todes haben Anghel Cioran und seine Frau nie erfahren. Sie sind gebrochene Menschen, beide schwer krank. Gabriel war ihr einziges Kind, 31 Jahre alt, als er starb.

    "Er war ein sehr zärtliches Kind. Er kam nie von der Arbeit nach Hause ohne Blumen für seine Mutter. Wir hatten ein liebevolles Kind, das uns sehr nah stand."

    Kein Verantwortlicher ist bisher für die Todesopfer, die nach dem Sturz Ceausescus umkamen, bestraft worden. Auch deshalb bewegt das Thema die rumänische Öffentlichkeit bis heute. Doch es ist nicht der einzige neuralgische Punkt der Ereignisse im Dezember 1989 in Rumänien.

    Târgoviste, 25. Dezember 1989, die Kaserne der Militäreinheit 01417. 14:45 Uhr, die letzten Minuten im Leben von Nicolae und Elena Ceausescu. Soeben hat ein geheimes militärisches Sondergericht das Diktatorenehepaar in einem Blitzprozess zum Tode verurteilt, unter anderem wegen Völkermordes. Knapp anderthalb Stunden hat der Prozess gedauert, nun zerren Soldaten Nicolae und Elena Ceausescu zur Hinrichtung in den Kasernenhof, Elena Ceausescu schreit. Um 14:50 erschießen Soldaten die beiden. Einige Stunden später erfahren die Rumänen aus dem Fernsehen vom gewaltsamen Ende der Ceausescus.

    In Rumänien spricht in jenen Tagen kaum jemand von einer juristischen Farce. Doch genau das ist der Prozess und sein Urteil - und zwar selbst nach den Maßstäben der Ceausescu-Justiz. Die Anklage wegen Völkermordes stützt sich auf frei erfundene 60.000 Tote. Immerhin den Tatsachen entsprechen die Anklagepunkte des Schießbefehls auf das Volk sowie der Schädigung der Volkswirtschaft. Allerdings: Richter und Verteidiger beschimpfen die beiden Angeklagten wüst, Zeugen werden nicht gehört, das Todesurteil steht fest, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat. All das gibt heute kein Geringerer zu als Dan Voinea, Militärstaatsanwalt und Ankläger im Ceausescu-Prozess. Zugleich redet er sich heraus: Er sei damals nur Statist gewesen. Ohnehin, meint Voinea, solle man die Hinrichtung des Diktators nicht allzu kritisch hinterfragen.

    "Die Strafe, die das Ehepaar Ceausescu bekommen hat, muss man im Verhältnis zu ihrer Vergangenheit als Diktatoren sehen. Ceausescu hat immerhin angeordnet, dass Demonstranten auf der Straße ohne Prozess erschossen werden. Sollen wir da etwa unzufrieden sein, dass er, der Diktator, keinen legalen Prozess hatte, dass der Prozess an der Grenze zur Illegalität war?!"

    Ion Iliescu bestreitet, dass das Todesurteil gegen das Diktatorenehepaar bereits im Kreis der provisorischen Machthaber um seine Person beschlossen wurde. Ansonsten jedoch verteidigt er den geheimen Blitzprozess und seinen Ausgang:

    "Ein öffentlicher Prozess wäre eine gute Lektion für das Land und die Leute gewesen, ja. Aber damals starben Menschen. Ceausescu befand sich in einer ungesicherten Kaserne, es kursierten alle möglichen Gerüchte, dass ein Kommando ihn jederzeit befreien könne. Damit wäre der Zustand der Verwirrung und der Anarchie weiter gegangen. Hatten wir da etwa Zeit über Rechtsstaatlichkeit und irgendwelche Regeln zu sinnieren?! Es bestand die Gefahr der Anarchie, das Land drohte auseinanderzubrechen!"

    Tatsächlich lag eine große Gefahr vielmehr darin, dass mit dem Diktator auch sein Funktionärs- und Geheimdienstelite unterging. Doch Iliescu und sein Kreis der provisorischen Machthaber, in dem sich die wichtigsten Armee- und Securitate-Generäle tummelten, begegneten der Gefahr. Offiziell wurden Kommunistische Partei und Securitate für aufgelöst erklärt, im Hintergrund begann die Reorganisation der Parteielite in der "Front zur Nationalen Rettung" und der Securitate in zahlreichen Nachfolgegeheimdiensten. Nach dem Ende der Diktatur sei eine gewisse personelle Kontinuität unvermeidlich gewesen, sagt Ion Iliescu heute lapidar, das sei in der Geschichte immer so:

    "Hätten wir etwa Massenexekutionen aller Würdenträger des früheren Regimes veranstalten sollen?! Das wäre neohitleristisch und neostalinistisch gewesen. Wir wollten doch Demokratie. Auch die, welche im vorherigen System Fehler begangen hatten, sollten den Weg der demokratischen Entwicklung beschreiten. Und zwar ohne Schuldzuweisungen. Es gibt aber selbst heute noch Leute, die gerne Anklagen formulieren. Das sind die Neostalinisten, die sich Antikommunisten nennen."

    Einer derjenigen, die Iliescu als Neostalinisten bezeichnen, ist Radu Filipescu. In den 1980er-Jahren saß der Elektronikingenieur drei Jahre im Gefängnis, weil er in Bukarest Flugblätter gegen die Ceausescu-Diktatur verteilt hatte. Im Dezember 1989 war er einer der ersten Aktivisten der Zivilgesellschaft: Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation "Helsinki-Komitee" und der Intellektuellen-Vereinigung "Gruppe für sozialen Dialog", deren Präsident er heute ist. Der 53-Jährige blickt heute nicht hasserfüllt, sondern nüchtern auf die Umstände des Sturzes der Diktatur zurück. Zum Beispiel, wenn es um die immer noch heiß diskutierte Frage geht: Revolution oder Putsch?

    "Wenn ich Leute sagen höre, damals habe ein Putsch stattgefunden, dann denke ich, sie waren gar nicht groß dabei. Ja, es gibt viele Dinge, die ungeklärt oder nicht richtig geklärt sind. Anderseits war es kaum zu erwarten, dass wir gleich eine ausgewogene Demokratie bekommen. Es gab im politischen Spektrum keine Partner und keine starken Parteien dafür. Wir, die Dissidenten, waren nicht nur wenige, wir waren auch isoliert. Wir waren keine große Bewegung gewesen, wir hatten keine Erfahrungen, wir hatten keine Strukturen, kein Geld und keine Leute für irgendetwas in der Art einer Machtübernahme. Das war damals eben das Kräfteverhältnis."

    Radu Filipescu plädiert nicht für einen Schlussstrich. Und doch, sagt er, dürfe man bei allen Kontroversen über die Ereignisse vom Dezember 1989 in Rumänien nicht verkennen, wo das Land heute stehe:

    "Nach zwanzig Jahren hat Rumänien trotz aller Hindernisse und Misserfolge die wichtigsten Ziele erreicht: Den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union. Wir sind nicht gerade in einer beneidenswerten ökonomischen Lage, und dennoch: Wir können mit dem, was wir in Rumänien haben, durchaus zufrieden sein."

    Zufrieden - das werden zumindest die Angehörigen der Toten des Dezember 1989 niemals sein, zufrieden wird auch Anghel Cioran nie mehr sein:

    "In unserem jetzigen Justizwesen haben wir keine Chance auf eine Sühne der Verbrechen, auch auf lange Sicht nicht. Dabei wollen wir gar keine Rache. Iliescu soll nur den Anstand besitzen zu sagen: Ich habe einen Fehler begangen. Die jungen Leute, die auf die Straße gegangen sind, ahnten doch nicht, dass auf sie geschossen wird. Sie waren unschuldig und sind völlig sinnlos gestorben."