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Die Oper ist eine Baustelle

Wenn von Oper in Russland die Rede ist, dann eigentlich immer nur von einem Ort: vom Marijnski Theater, dem architektonischen Wahrzeichen von Sankt Petersburg. Das historische Gebäude muss nun generalsaniert werden und ist deshalb für mehrere Jahre nicht bespielbar. Als Ersatz sollte eine neue Bühne neben dem alten Theater sorgen. Dort allerdings ist bislang nur eine große Grube zu sehen. Deshalb droht das berühmte Ensemble in Kürze auf der Straße zu stehen.

Von Anastasia Boutsko | 08.08.2006
    Das Haus wird kernsaniert: museumsreife Bühnentechnik durch moderne ersetzt – es muss ein "Theater der Zukunft" entstehen. Höchste Zeit, dass sein Ensemble ein würdiges Zuhause bekommt, meint Valeri Gergiev, der charismatische Oberkommando-Inhaber und Chefdirigent des Theaters:

    "Alle wissen, dass Mariinskij zu den großen Bühnen der Welt zählt. Keiner hat aber damit gerechnet, dass wir auch künstlerisch so schnell das Niveau von Metropoliten Opera oder La Scala erreichen werden. In mancher Hinsicht sind wir sogar besser."

    Gergiev hat gute Gründe, auf sein Werk stolz zu sein. Vor 18 Jahren kam der nimmermüde Kaukasier ans Theater und hat eine künstlerische Ruine vorgefunden: mit russischer Opernklassik in den Aufführungen aus der Stalinzeit und ewigem "Schwanensee". Gergiev hat das ganze Theater umgekrempelt, hat junge Regisseure – russische wie westliche – eingeladen, bis zehn Premieren pro Saison gestemmt, hat den ersten russischen Ring geschmiedet, hat Britten und Schostakovitsch ins Repertoire genommen.

    Die krönende Leistung war die Gründung der Mariinskij-Akademie für junge Sänger, der "Kaderschmiede" des Theaters. Lauter revolutionäre Leistungen – besonders angesichts der russischen Opernlandschaft, die mehr als karge ist. Nun schließt die einzige und letzte Hoffnung des russischen Opernliebhabers. Wie konnte das passieren? Klar, erst musste eigentlich das neue Gebäude gebaut und erst dann das alte geschlossen werden. Aber! bei diesem "Aber" kommen wir in die Sphäre des "Klein-Klein" der russischen Innenpolitik. Eigentlich musste Gergiev alles mit seinem Gönner Putin abgesprochen haben. Nun hieß es, schnell an die Sache, solange "unser Mann" im Amt ist. Ein gewaltiges Neubau-Projekt wurde entwickelt. Um das alte Theater herum sollten gleich mehrere neue Häuser entstehen – eine Konzertbühne für tausend Plätze, noch eine Probebühne, neue Werkstätte für die Dekorateure und ein neues Theatergebäude mit über zweitausend Plätzen. Wozu so viel Raum, weiß man übrigens auch noch nicht genau.

    Beim Hauptneubau hat man sich für das Projekt des Franzosen Dominique Perrault entschieden: einen goldumschleierten Glasdampfer, der mehr dem "neurussischen" Geschmack entspricht, als dem Charakter des historischen Stadtkerns. Wie auch immer: 200 Millionen Dollar soll das neue Haus kosten.
    Dieses riesige Investitionsprojekt hatte der neue russische Kultusminister Alexander Sokolov auf seinem Schreibtisch vorgefunden, als er vor zweieinhalb Jahren das Amt übernahm. Mariinskij sollte ungefähr die Hälfte seines Budgets wegfressen. Sokolov zeigte sich darüber überhaupt nicht glücklich und hat seinem Vorgänger Michail Schwydkoj Amtsmissbrauch vorgeworfen. Solange sich die beiden Kulturpolitiker eine ausgiebige Schlammschlacht lieferten, passierte gar nichts. Im vergangenen Frühling erklärte Putin "die Theaterfrage" zur Chefsache: "Mariinskij ist ein richtiges Symbol. Das brauchen wir".

    Nun wird gebaut. Beziehungsweise gegraben. Irgendwann – 2008, wie die Optimisten behaupten, oder eben ein bis zwei Jahre später, wie die Realisten hoffen, - werden das alte und das neue Opernhaus fast gleichzeitig fertig. In der Zwischenzeit sollen ein hässliches "Kulturhaus" außerhalb des Stadtzentrums und die kleine "Komische Oper" als Ausweichbühnen dienen. Kein würdiger Ersatz.
    Schlechte Bühnen mit schlechter Akustik, kaum Probemöglichkeiten und fast keine Premieren, mindestens zwei Jahre lang. Vor allem um die jungen Sänger und Tänzer des berühmten Kirov-Baletts macht man sich Sorgen. Ob sie diese "Tour in die zweite Liga" mitmachen werden?

    Die einzige Hoffnung bleibt nun die "Petersburger Metaphysik". Irgendwie sind die waghalsigsten Vorhaben stets die erfolgreichsten in dieser Stadt, die - trotz jeder Logik und Vernunft - vor 300 Jahren aus dem Morast gestampft wurde.