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Die organisierte "Endlösung"

Vor genau siebzig Jahren fand in Berlin die Wannseekonferenz statt, auf der die sogenannte "Endlösung", das heißt die Vernichtung der europäischen Juden, beschlossen wurde.

Von Wolfgang Dreßen | 15.01.2012
    Die "Besprechung über die Endlösung der Judenfrage", so das von Adolf Eichmann verfasste Konferenzprotokoll, fand am 20.01.1942 statt, in einer Villa "Am Großen Wannsee Nr:56/58". Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, hatte zum "Arbeitsfrühstück" eingeladen.

    Diese Konferenz bedeutete nicht den Beginn der Endlösung. Bereits am 31. Juli 1941, kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion, war Heydrich von Hermann Göring mit der "Endlösung" beauftragt worden:

    "Ich beauftrage Sie einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen."

    Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 markiert den Wendepunkt zur Endlösung. Nur einen Tag später wurden kurz hinter der sowjetischen Grenze über 200 jüdische Bewohner von einem Polizeikommando aus der benachbarten deutschen Grenzregion erschossen. Zuvor mussten die Juden ihren Besitz abgeben und Gräber ausheben. Einen Tag später ermordete das Polizeikommando weitere Juden, Männer, Frauen und Kinder. Diese Arbeit war noch ungewohnt. Die deutschen Polizisten trösteten sich gegenseitig. Der Mord war für sie Voraussetzung einer besseren Zukunft.

    Gerechtfertigt wurden diese und andere sogenannten "Befriedungsaktionen" mit der behaupteten jüdischen Leitung des Kommunismus in der Sowjetunion. Himmler, Heydrich und der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, bereisten die Frontgebiete und regten weitere Morde an. So hielt Kurt Daluege am 9. Juli vor Polizisten in Bialystock eine Rede über die "Niederringung des Weltfeindes, des Bolschewismus". Mindestens 1000 jüdische Menschen wurden am Ort erschossen.

    Rechtzeitig vor Beginn des Angriffs gegen die Sowjetunion waren im September 1940 zwei Filme uraufgeführt worden: Jud Süß und der Der ewige Jude. Die auch bei der Truppenbetreuung eingesetzten Filme wurden ein Publikumserfolg. Bis Ende 1943 werden über zwanzig Millionen Menschen Jud Süß sehen.

    Schon vor 1941, bei der Besetzung Polens und anderer Länder, waren "Einsatzgruppen" für besondere Aufgaben gebildet worden. Mit dem Beginn des Angriffs gegen die Sowjetunion werden vier Einsatzgruppen zusammengestellt: SS-Angehörige und Polizeieinheiten aus dem ganzen Reich unter der Leitung von Heydrich, die eng mit der Wehrmacht zusammenarbeiteten. Diese Einsatzgruppen werden nach Überschreiten der Grenze planmäßig Juden erschießen.

    Der Befehlshaber der Einsatzgruppe D Otto Ohlendorf:

    "Himmler erklärte, dass ein wichtiger Teil unserer Aufgabe in der Beseitigung von Juden, Frauen und Kinder, und kommunistischen Funktionäre bestünde. Ich wurde etwa vier Wochen vor dem Angriff auf Russland benachrichtigt."

    In Ereignismeldungen ist die Anzahl der Ermordeten vermerkt. Unter dem Datum vom 28. September 1941 heißt es über den Einmarsch in Kiew:

    "Bei den ersten Aktionen 1.600 Festnahmen. 150.000 Juden vorhanden. Maßnahmen eingeleitet zur Erfassung des gesamten Judentums. Exekution von mindestens 50.000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahme und erbittet radikales Vorgehen."

    Ende September wurden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew über 33.000 Menschen erschossen.
    Am 10. Oktober 1941 schrieb ein Wiener Polizeisekretär an seine Frau:

    "Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt das: Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genau so, wenn nicht zehnmal ärger machen würden. Nur weg mit dieser Brut, die ganz Europa in den Krieg gestürzt hat und jetzt auch noch in Amerika schürt."

    Die Planungen in Deutschland hatten begonnen. Ab Oktober 1941 wurde den Juden die Auswanderung verboten. Das Reichsfinanzministerium unterrichtete die Oberfinanzdirektionen über die bevorstehenden Deportationen. Die Finanzämter erhielten genaue Anweisungen über die Einziehung und Verwertung des jüdischen Vermögens. Die elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941 regelte die rechtlichen Rahmenbedingungen: Das Eigentum der Deportierten wird zugunsten des Reiches eingezogen. Die Deportierten gelten jetzt als Staatsfeinde.

    Die systematische Abschiebung begann, zunächst in das Getto von Lodz im früheren Polen. Aus Berlin wurden am 18., am 24.und am 29. Oktober über 3000 Juden deportiert, aus Frankfurt am Main am 20. Oktober, aus Köln am 22. und am 30. Oktober, aus Düsseldorf am 27. Oktober jeweils über 1000 Menschen.

    Inzwischen war, etwa in Minsk, durch Erschießungsaktionen Platz für die deutschen Juden geschaffen worden. Im November 1941 gingen Großtransporte in das Getto von Minsk. Ab jetzt wurden deportierte Juden auch gleich bei ihrer Ankunft ermordet, so am 30.11.1941 über 1000 Juden aus Berlin. Bis Ende 1941 verzeichneten die vier Einsatzgruppen fast 500.000 ermordete Juden.

    Erschießungen blieben hinter den technischen Möglichkeiten zurück. Bei den Vergasungen von Geisteskranken war dagegen eine Möglichkeit der Industrialisierung des Massenmords erprobt worden. Die Experten dieser T4-Aktion boten ihr Wissen im eroberten Osten an, zunächst mit Vergasungswagen im Herbst 1941.

    Der Bau der Vernichtungslager und die Erprobungen der Gaskammern begannen.
    Der Minister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, informierte im November 1941 die deutsche Presse:

    "Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa. Wir haben vorzubeugen, dass nicht ein romantisches Geschlecht in Europa die Juden wieder aufnimmt und dazu ist es nötig, sie über den Ural zu drängen oder sonst irgendwie zur Ausmerzung zu bringen."

    Das "Mitteilungsblatt für die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei" fasste die neuen Möglichkeiten einer Endlösung zum Jahresende 1941 zusammen:

    "Die gewaltigen Räume des Ostens, die Deutschland und Europa nun zur Kolonisation zur Verfügung stehen, ermöglichen in naher Zukunft auch die endgültige Lösung des jüdischen Problems. Was noch vor zwei Jahren unmöglich erschien, wird nun Schritt für Schritt Wirklichkeit: Am Ende des Krieges steht das judenfreie Europa."

    Heydrich hatte bereits für das Jahresende 1941 eine Konferenz einberufen, auf der die weiteren Schritte der Endlösung koordiniert werden sollten. Eingeladen waren Vertreter der Ministerialbürokratie und des Sicherheitsapparates. Das Auswärtige Amt verfasste für die geplante Sitzung einen Vorschlag: Die anderen europäischen Länder sollten veranlasst werden, die dort lebenden Juden zu deportieren.

    Die Gegenoffensive der Roten Armee vor Moskau und der Kriegseintritt der USA führten zur Verschiebung der Konferenz auf den 20. Januar 1942.

    Die jetzt veränderte Kriegslage radikalisierte die Forderungen nach einer Endlösung. Ein schneller Kriegserfolg war nicht mehr zu erwarten. Eine Abschiebung der Juden über den Ural war vorerst auch nicht möglich. Gleichzeitig stieg die Zahl der deutschen Gefallenen. Der schon immer Schuldige, der Jude, musste nun endgültig in ganz Europa vernichtet werden. Joseph Goebbels berichtet in seinem Tagebuch über einen Empfang Hitlers in seiner Privatwohnung für die Gauleiter und anderen Spitzen der Partei am 12. Dezember 1941:

    "Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. Wir sind nicht dazu da, Mitleid mit den Juden, sondern nur Mitleid mit unserem deutschen Volk zu haben. Wenn das deutsche Volk jetzt wieder im Ostfeldzug 160.000 Tote geopfert hat, so werden die Urheber dieses blutigen Konflikts dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen."

    Vier Tage später hielt Hans Frank, Chef des Generalgouvernements, eine Rede vor seinen Abteilungsleitern und bezieht sich auf dieses Treffen bei Hitler:

    "Wir haben im Generalgouvernement schätzungsweise 3,5 Millionen Juden. Diese 3,5 Millionen können wir nicht erschießen, wir können sie nicht vergiften, werden aber trotzdem Eingriffe vornehmen können, die irgendwie zu einem Vernichtungserfolg führen."

    Frank kündigt in dieser Rede auch die Berliner Konferenz unter der Leitung von Heydrich an, zu der er einen Vertreter entsenden würde.

    Die Einladungen zur Konferenz wurden von Heydrich am 8. Januar 1942 verschickt. Sie gingen an Vertreter des Innenministeriums, des Auswärtigen Amts, des Generalgouvernements, des Ministeriums für die besetzten Ostgebiete, des "Beauftragten für den Vierjahresplan", des Justizministeriums, der Reichskanzlei und an SS-Führer, die bereits praktische Erfahrungen mit der Endlösung gesammelt hatten. Adolf Eichmann, der Judenreferent bei Heydrich, führte Protokoll. Stenotypistinnen und Ordonnanzen waren anwesend.

    Heydrich eröffnete die Konferenz mit einer Ansprache. Er verwies zu Beginn, auf die Anordnung Görings vom Juli 1941 "eine "Endlösung der europäischen Judenfrage" zu organisieren. An die Stelle der bisherigen Auswanderung träte nun die Evakuierung in den Osten Europas. In einer Tabelle waren die Länder Europas mit der Anzahl der dort lebenden Juden vermerkt, auch Länder, die noch zu besetzen waren:

    So England mit 330.000 Juden, Irland mit 4000, Schweden mit 8000, die Schweiz mit 18.000, Spanien mit 6000, der europäische Teil der Türkei mit 55.000 und die Sowjetunion bis zum Ural mit fünf Millionen Juden. Bei Estland stand in der Tabelle "judenfrei", hier war die "Endlösung" bereits erfolgreich gewesen. Vermerkt wird im Protokoll:

    "Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund elf Millionen in Betracht."

    Diese Zahl sei aber eher zu niedrig angesetzt:

    "Bei den angegebenen Judenzahlen der verschiedenen ausländischen Staaten handelt es sich jedoch nur um Glaubensjuden, da die Begriffsbestimmungen nach rassischen Grundsätzen teilweise dort noch fehlen."

    Die Ministerialbeamten und Heydrich sahen in der Durchführung keine größeren Schwierigkeiten:

    "In der Slowakei und Kroatien ist die Angelegenheit nicht mehr allzu schwer. In Rumänien hat die dortige Regierung inzwischen ebenfalls einen Judenbeauftragten eingesetzt. Im besetzten und unbesetzten Frankreich wird die Erfassung der Juden zur Evakuierung aller Wahrscheinlichkeit nach ohne große Schwierigkeiten vor sich gehen können."

    Probleme wurden in Ungarn gesehen, aber hier soll Gewalt der deutschen Besatzung helfen:

    "Zur Regelung der Frage in Ungarn ist erforderlich, in Zeitkürze Judenfragen der ungarischen Regierung aufzuoktroyieren."

    Die nordischen Staaten, so der Vertreter des Auswärtigen Amtes, könnten Schwierigkeiten machen, das bedeute aber wegen der geringen Judenzahlen keine wesentliche Einschränkung.

    Insgesamt sollen europaweit die Nürnberger Gesetze bei der Definition der Rassenzugehörigkeit gelten. Diskutiert wurden auf der Konferenz die Behandlung der sogenannten "Mischlinge" ersten und zweiten Grades und der sogenannten "Volljuden", die mit einem "Deutschblütigen" verheiratet waren. Die Konferenzteilnehmer sprachen über Sterilisierung und über die "Auswirkungen einer solchen Maßnahme auf die deutschen Verwandten".

    Interessen der deutschen Bevölkerung an frei werdendem Wohnraum wurden erwähnt:

    "Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa vom Westen nach Osten durchgekämmt. Das Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren wird, allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten, vorweggenommen werden müssen."

    Angesichts der Kriegslage, der Erfordernisse der Rüstung und der deutschen Unternehmen gab es einen Einwand des Vertreters Görings, des "Beauftragten des Vierjahresplans":

    "Bezüglich der Frage der Auswirkung der Judenevakuierung auf das Wirtschaftsleben, erklärte Staatssekretär Neumann, dass die in kriegswichtigen Betrieben im Arbeitseinsatz stehenden Juden derzeit, solange noch kein Ersatz zur Verfügung steht, nicht evakuiert werden könnten."

    Heydrich konnte ihn beruhigen. Im Westen wie im Osten würden die arbeitsfähigen Juden zum Arbeitseinsatz kommen. Diese Zwangarbeit blieb aber ein Teil der Endlösung, ein "Großteil würde durch natürliche Verminderung ausfallen".

    Es blieben die Juden, die auch diese Strapazen überstünden. Hier sah Heydrich eine Gefahr:

    "Der endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist."

    Bei seinen Verhören in Jerusalem wird Eichmann berichten, dass Heydrich vor der Konferenz Schwierigkeiten mit den Beamten befürchtet hatte. Das wäre unnötig gewesen. Eichmann:

    "Es herrschte nicht nur freudige Zustimmung allseits, sondern darüber hinaus ein gänzlich Unerwartetes, ich möchte sagen, sie Übertreffendes und Überbietendes im Hinblick auf die Forderung zur Endlösung der Judenfrage ... ich weiß, dass die Herren beisammengesessen sind und da haben sie eben in sehr unverblümten Worten die Sache genannt. Es wurde von Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen."

    Auf Arbeitstreffen und Folgekonferenzen im Ostministerium und am Dienstsitz Adolf Eichmanns wurde im Laufe des Jahres die sogenannte Mischlingsfrage verhandelt. Es ging um befürchtete Widerstände "deutschblütiger" Ehepartner, für den Osten kein Problem, Halb- und Volljuden wurden hier gleichgesetzt.

    Die Konferenzen beseitigten die letzten Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Staats- und Wirtschaftsapparates bei der "Endlösung der Judenfrage".

    Auch die "Volksgemeinschaft" war einbezogen: Die Deportationen weckten die Begehrlichkeit der Deutschen. Finanzbeamte versteigerten das Eigentum, vom Barockgemälde, dem Spielzeug der deportierten Kinder bis zum Sack Zwiebeln. Möbel der deportierten Juden aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden wurden nach Deutschland transportiert und hier verteilt. Augenzeugen sprechen von "Volksfesten" bei den Versteigerungen. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass es sich um jüdischen Besitz handelte. Die Wohnungen und Häuser der deportierten Juden konnten jetzt deutsche "Volksgenossen" beziehen.

    Die Vernichtungslager und Vergasungsanlagen waren in Betrieb oder im Bau. Die Firma Topf & Söhne aus Erfurt entwickelte für den gesteigerten Bedarf einen "kontinuierlich arbeitenden Leichenverbrennungsofen", so die Überschrift des im September 1942 angemeldeten Patents.

    Auschwitz wurde zugleich ein Vernichtungszentrum und ein Arbeitslager vor allem für die IG Farben. Auschwitz, das bedeutete Vernichtung, Kriegsproduktion, aber auch völkische Utopie.

    Ende 1941 war in der unmittelbaren Nachbarschaft des KZ Auschwitz die "Geburt der neuen deutschen Stadt Auschwitz" begrüßt worden. Bisher hatten in der Stadt überwiegend Juden gelebt. In der umgebauten Stadt werden jetzt SS-Angehörige und deutsche Facharbeiter vor allem der IG Farben mit ihren Familien wohnen. In dieser sogenannten "Musterstadt", einer Utopie auf der Basis der Endlösung, unterstützte der Staat die Bewohner mit Steuererleichterungen, Ausbildungsbeihilfen und Familienprogrammen. Auszubildende der IG Farben siedelten in Auschwitz und galten als Garanten der Zukunft.

    Der Architekt pries den, so wörtlich, "anheimelnden" Charakter des neuen Stadtplans mit verkehrsstillen Wohnstraßen und Gartenanlagen. Auf Wunsch Himmlers wurden Methoden der rationellen Müllverwertung und einer biologisch-dynamischen Klärweise getestet. Eine "Stadtlandschaft" sollte entstehen. Der Stadtplaner fasste die Ziele zusammen:

    " ... ein Stück versteppter Erdoberfläche zu einer wirklichen Kulturlandschaft gestalten und das geschändete Angesicht dieses Landes wieder der Gesundung zuzuführen, um das Ziel allen Planens zu erreichen: deutschen Menschen einen Boden bereiten, der ihnen und ihren Kindern ein neues Stück Heimaterde werden soll."

    1943 war dann in der örtlichen Presse zu lesen:

    "Auschwitz wird wieder deutsch und schön."

    Die Endlösung wird in den Lagern fortgesetzt bis kurz vor der Befreiung. Am 25. Januar 1945, 48 Stunden vor dem Eintreffen der Roten Armee, wurden in Auschwitz noch 300 kranke jüdische Häftlinge ermordet, die nicht evakuiert werden konnten.

    Das Ende von Auschwitz bedeutete aber nicht das Ende des Massenmords.
    Die Vernichtungsexperten aus Auschwitz konnten im Februar 1945 im KZ Ravensbrück noch eine Gaskammer bauen. Unmittelbar bis zur Räumung des KZ wurden mehr als 2000 Menschen ermordet. Genaue Unterschiede zwischen jüdischen und nicht jüdischen Häftlingen fielen fort.

    Die Firma Topf & Söhne entwarf noch im Februar 1945 für das KZ Mauthausen Pläne für den Wiederaufbau der Krematorien, die sie schon in Auschwitz errichtet hatte. Diese Pläne konnten nicht mehr verwirklicht werden.

    Die Todesmärsche der völlig entkräfteten Häftlinge von Lager zu Lager entwickelten sich zur wilden Endlösung durch SS-Einheiten, Volkssturmmänner und Angehörigen der Hitlerjugend

    Der Führer einer Volkssturmkompagnie am Abend des 6. April 1945 zu seinen Männern:

    "Die Alarmkompagnie wurde angewiesen, morgen einen Judentransport zu übernehmen. Diese Hunde und Schweine verdienen alle, erschossen zu werden."

    Noch am 8. März 1945 erreichte ein Deportationszug aus Wien mit über 1000 Menschen das KZ Theresienstadt. Der letzte Deportationszug brachte am 15. April 1945 weitere 77 Menschen nach Theresienstadt.

    Der Krieg war vorbei.

    Die Distanzierung begann sofort im Sommer 1945, nicht eine Distanzierung vom Massenmord, sondern von angeblich wenigen Nazitätern, die in einem unbegreiflichen Jenseits des Bösen verschwanden. Niemand war es gewesen. Die Alliierten zwangen die Deutschen, genau hinzusehen, sie wurden vor die Leichen geführt. Nationale Integration erschien nur noch möglich in einer kollektiven Selbstentlastung. Das Grauen war von angeblichen Nichtmenschen verursacht worden, die alle Deutschen terrorisiert hätten. Diese Entlastung fiel umso leichter, als die Muster dieser Nazisadisten direkt aus der Charakterisierung des "jüdischen Untermenschen" stammten. In der Presse war über diese Nazitäter zu lesen:

    "Fratze des Tiermenschen … ekelhaftes Häuflein von Henkersknechten … verkrachte Gestalten."

    Die Volksgemeinschaft sollte intakt bleiben, die angeblich nur wenigen nazistischen Täter kamen von außen, aus einem Untergrund des Bösen jenseits der deutschen Zivilisation.

    Die wenigen zurückkehrenden Juden erlebten eine andere Wirklichkeit. Sie trafen oft auf Feindschaft, Unverständnis und Ausgrenzung. Sie wurden als unangenehme Zeugen wahrgenommen, die auch noch ihr enteignetes Hab und Gut von den ehemaligen "Volksgenossen" zurückforderten.

    Die Endlösung blieb unbegriffen, weil die Normalität nicht infrage gestellt werden sollte. Thematisiert wurde diese Verdrängung zunächst von Menschen, die vor der Endlösung aus Deutschland geflohen waren.

    Bereits 1944 erschien in den USA die Dialektik der Aufklärung von Theoder W. Adorno und Max Horkheimer. Sie analysierten die "Grenzen der Aufklärung", die sich radikal im Vernichtungsantisemitismus gezeigt hätten:

    "Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert."

    Mit den Juden wurde eine Gruppe erfunden, die für jedes Leid verantwortlich gemacht werden sollte. Die reale Aufklärung über die Bedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit wird ersetzt durch die Projektion allen Unglücks auf die Juden. Eine Aufklärung, die das Gegebene bloß widerspiegelt und nicht verändert, bleibt anfällig für Projektionen und Verschwörungstheorien. Diese sollen aufdecken, warum das Gegebene, in dem doch jeder glücklich sein sollte, das Glück verhindert. Diese scheinbare Entlarvung verdeckt nur die weiter bestehenden Gründe für Unglück und Herrschaft. Der faschistische Antisemit kennzeichnet die Juden und verwandelt sie in bloße Objekte seiner Wut. Er versucht, seine Verschwörungstheorien in der Verfolgung und Ermordung real werden zu lassen. Adorno und Horkheimer:

    "Gleichgültig, wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muss: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein."

    Genau diese Sehnsucht wird in die Juden projiziert, die angeblich so lebten, wie es allen verboten war. In der Endlösung sollte diese Sehnsucht vernichtet werden. Die Nazis hatten bereits angekündigt, nach dem erfolgreichen Mord an den Juden würden auch die Menschen einbezogen, die immer noch fühlten und dächten wie Juden. Die Projektionen finden keine Grenze, weil die Wirklichkeit nicht verändert wird.

    Die Philosophin Margherita von Brentano hat 1965 die Funktion der Endlösung im Faschismus analysiert. Ihr Essay erschien in einem Sammelband zum Antisemitismus, mit dem Untertitel Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Erst aus der Kritik der Gegenwart wurde in den 60er-Jahren in einer breiteren Öffentlichkeit die Kritik einer Vergangenheit möglich, die immer noch nicht begriffen wurde.

    Margherita von Brentano verdeutlicht, dass der Antisemit dem projizierten Juden jede Wirklichkeit zuschreibt, Kapitalismus wie Sozialismus, Regierungen und Revolutionen, Reichtum und extreme Armut. Der Jude, das sei die Wirklichkeit, aus der die Endlösung befreien soll. Margherita von Brentano:

    "Das Nichtjüdische, Gute, die postulierte eigene Welt, ist nicht, nicht mehr, weil die Juden sie zerstört haben, noch nicht, weil die Juden sie am Sein gehindert haben. Da das Jüdische schlechthin für alles steht, ist Herstellung des Guten Judenvernichtung und totale Destruktion in einem die 'Endlösung der Judenfrage' war die Wiederholung dessen, was ohnehin geschah: die Vernichtung der im Ganzen schlecht gesehenen Welt und Wirklichkeit. Und an die Durchführung der totalen Vernichtung am das Ganze symbolisierenden Opfer, den Juden, knüpfte sich die magische Hoffnung, dass auch der Krieg, ungeachtet dessen, dass er bereits verloren war und man es wusste, in Wahrheit, auf der höheren Ebene, auf der er den Endkampf gegen das Übel darstellte, zum Sieg führen müsse – zum Sieg, der als totale Vernichtung, einschließlich der immer schon mitgedachten Selbstvernichtung konzipiert war."

    Die Gründe eines solchen Vernichtungswahns sah von Brentano darin, dass die Versprechen der Aufklärung und der Revolutionen des 19. und 20 Jahrhunderts nicht eingelöst worden waren. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen wurden nicht verwirklicht.

    In der Wut über das ausbleibende Glück trotz aller Arbeit und Anstrengungen muss ein Schuldiger, der Jude, gefunden und ermordet werden, im vor sich selbst versteckten Wissen, dass auch das nichts nützen wird. Deshalb schlägt die "spätliberale Gesellschaft", so von Brentano, in die totale Gewaltherrschaft und die Endlösung des Faschismus um. Endlösung bedeute in letzter Konsequenz Selbstvernichtung.

    Heutige Neonazis berufen sich offen auf die Hitlerrede von 1939, in der den Juden wegen ihrer angeblichen Kriegshetze die Ausrottung angekündigt wurde. In ihren Demonstrationen behaupten sie, Deutschland sei 1939 angegriffen worden. In einigen Staaten Europas haben inzwischen Parteien der äußersten Rechten strategische Machtpositionen besetzt.

    Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat das Fortleben der Vernichtungsutopie bis in die Gegenwart untersucht und die Erfahrung der Endlösung einbezogen. Er schreibt vom "Wahnsinn der Normalität"; Wenn wir uns zwingen lassen, uns selbst fremd zu sein, projizieren wir unser Leiden in ein Außen, das wir vernichten müssen. Nur so kann die Normalität des Gegebenen gerettet werden. Arno Gruen bezeichnet diesen mörderischen Realismus als die Krankheit der angepassten Menschen. Arno Gruen:

    "Gefühle, die keine Gefühle sind, erkennt man an der Gewalttätigkeit. Darin liegt auch der Grund, warum es der Welt der Angepassten nicht möglich ist, die Gewalt einzudämmen. Um zu ihren Wurzeln zu gelangen, muss man erkennen, dass die offene Gewalt und die bestehende konformistische Gewalt von gleicher Herkunft sind."