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Die Panik der absteigenden Mittelklasse

Budapest, 25. August 2007. Hunderte von Ungarn, darunter viele Jugendliche mit kahlgeschorenen Schädeln, haben sich auf dem Budaer Burghügel zu einem seltsamen militärischen Spektakel versammelt. Im Takt der Trommelschläge marschieren schwarz und dunkelgrün Uniformierte auf, allenthalben sieht man tausendjährige ungarische Symbole wie die rot-weiße Árpád-Flagge. Die rechtsextreme Partei "Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn", kurz Jobbik, gründet an diesem Tag die "Ungarische Garde", eine Art paramilitärische Truppe der Partei. Gábor Vona, der 29-jährige Jobbik-Parteivorsitzende und zugleich Chef der neugegründeten Garde, hält eine Rede. Die Schlagworte: Gott, die Heimat, das Ungarntum. Weder er noch andere Redner sprechen darüber, welche Funktion genau die "Ungarische Garde" haben soll. Das zeigt sich erst im Laufe der Zeit.

Von Keno Verseck | 10.03.2008
    Die "Ungarische Garde" marschiert auf, so wie beispielsweise Ende Januar im 8. Budapester Bezirk, in dem viele Roma wohnen. Es ist einer von Dutzenden martialischer Aufzüge der letzten Monate, und sie verlaufen meistens nach demselben Muster: Ein Anführer gibt schreiend den Takt vor, hundert, zweihundert Männer mit starren Gesichtern ziehen im Gleichschritt durch die Straßen. Am Ende gibt es eine Kundgebung, auf der Redner gegen die so genannte "Zigeunerkriminalität" wettern, die Regierung und Behörden verdammen, nach Recht und Ordnung rufen. Gelegentlich erklärt der Garde-Chef Gábor Vona den Anwesenden den Sinn dieses paramilitärischen Theaters.

    "Wir werden allen klar machen, auch den Zigeunern: Ja, wenn es sein muss, dann organisieren wir eben unsere Selbstverteidigung! Noch sind wir zahlenmäßig nicht in der Lage, allen Menschen im Land Sicherheit zu gewährleisten. Aber wir sind bereits in der Lage, ein Vorbild zu sein und Hoffnung zu geben, damit wir alle eine aufrechtere Haltung einnehmen!"
    Ungarns Rechtsextremisten sind in der Offensive. In den letzten Monaten verging fast kein Tag, an dem sie nicht irgendwo im Land aufmarschierten, Denkmäler einweihten, Kränze niederlegten oder öffentliche Vorträge hielten. Doch nicht nur das. Ungarn erlebt seit einigen Monaten auch eine Welle bisher nicht aufgeklärter, mutmaßlich rechtsextremer Gewalttaten: Anschläge mit Molotow-Cocktails und Schusswaffen auf Büros von Parteien und Wohnhäuser von Politikern, Überfälle auf Journalisten und prominente Linksliberale. Der Budapester Philosoph und Publizist Gáspár Miklós Tamás, 59, beobachtet die Situation mit wachsender Sorge:

    "An den Fachschulen und den Universitäten ist eine sehr ernste, geradezu paranoide rechtsextreme Subkultur entstanden. Dabei geht es nicht um drei, vier Prozent, sondern um eine Mehrheit. Sie sieht die Ursache aller Übel in den Ausländern, den Juden und der EU, sie ist gleichermaßen rassistisch und chauvinistisch wie antikapitalistisch. So denken aber nicht nur viele Jugendliche, sondern auch Ältere, zum Beispiel Beamte, die mit der Perspektive konfrontiert sind, dass ihre Kinder vielleicht eine Schaufel in die Hand nehmen oder in eine Fabrik gehen müssen. Die Ungarische Garde ist das Symptom dieser Situation. Wir haben es mit bestimmten Reaktionen auf die neoliberale Globalisierung zu tun, zum Beispiel mit der Panik der absteigenden Mittelklasse."
    Was Tamás beschreibt, passt auch auf Gábor Vona, den Chef der Jobbik-Partei und der Ungarischen Garde. Der 29-Jährige stammt aus einer traditionellen Bauernfamilie in Ostungarn und hat Geschichte studiert. In seinem Beruf als Lehrer arbeitet er nicht, wegen der schlechten Bezahlung, wie er sagt. Er ist - passend zu seiner politischen Rolle - Produktmanager einer Firma für Sicherheitstechnik und macht einen geradezu biederen Eindruck. Ruhig, in gewählten Worten, erklärt er, warum die Garde gegründet wurde:

    "Die ungarische Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht krank. Die Menschen haben ihr Sicherheitsgefühl verloren. Einer der wichtigsten Faktoren dabei ist das Problem des Zusammenlebens zwischen Ungarn und Zigeunern. Die Zigeuner werden immer krimineller, die Zigeunerkinder wachsen in einem Umfeld auf, in dem es kein Verbrechen ist, Ungarn zu bestehlen und zu misshandeln. Wenn wir uns versammeln, dann machen wir auf dieses Problem aufmerksam. Wir wollen unsere Entschlossenheit, unsere Kraft zeigen und die Mauer des Schweigens durchbrechen. Die Ungarische Garde ist die Gemeinschaft derjenigen, die noch Kraft haben und daran glauben, dass man die kranke Gesellschaft verändern kann."
    Natürlich bestreitet Gábor Vona, dass die "Ungarische Garde" eine neofaschistische oder auch nur rechtsextreme Organisation sei. Es gebe keinerlei Parallelen zu nazistischen Organisationen von einst, etwa zu den ungarischen Pfeilkreuzlern. Mehr noch:

    "Ich wehre mich dagegen, dass wir als paramilitärischer Verband bezeichnet werden. Wir schüren keine Gewalt und keine Aggressivität. Wir tragen Uniformen als Ausdruck dafür, dass bei uns ein gewisser soldatischer Geist und ein Geist der Ordnung herrscht. Wir sind ein Verein, der Kultur und Traditionen pflegt, genau wie die Husaren und Tscherkessen, die ja auch Uniformen haben und marschieren. Daher ist der Vorwurf, die Ungarische Garde sei ein paramilitärischer Verein eine verlogene Scheindebatte."
    Natürlich ist es auch keine Hetze, wenn der stellvertretende Vorsitzende der Jobbik-Partei, der 46-jährige József Biber, das Problem der so genannten "Zigeunerkriminalität" und seine Lösung beschreibt:

    "Ein bedeutender Teil der Zigeunerethnie lebt von Straftaten. Die Zigeuner bedrohen ganze Landesteile, terrorisieren sie. Seit Jahrhunderten haben sie Probleme mit dem Arbeiten und mit Privateigentum, das liegt in ihrer Kultur. Dieses Problem bedarf schneller Behandlung. Man muss die Bevorzugung der Zigeuner, die positive Diskriminierung abschaffen, und sie müssen an gemeinnütziger Arbeit teilnehmen. Außerdem möchten wir das Alter für Strafmündigkeit auf zehn Jahre herabsetzen. Denn bisher ist es so, dass die Zigeunereltern ihre Kinder straffrei zum Stehlen und Rauben schicken können. Auch das gehört zur typischen Zigeunerkriminalität."
    Rückblick auf die Vorgeschichte der rechtsextremen Offensive in Ungarn: Budapest im Herbst 2006, vor dem Parlament fordern tausende Menschen über Wochen hinweg den Rücktritt der sozialistisch-liberalen Regierung. Anlass: Der Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hat in einer internen Rede vor seiner Partei, den Sozialisten, zugegeben, dass man die Wahlen vom Frühjahr 2006 mit "Lügen, Lügen und abermals Lügen" gewonnen habe. Eine geheime Aufnahme der Rede ist an die Öffentlichkeit gedrungen und hat die Proteste ausgelöst. Unter den Demonstranten vor dem Parlament sind Rechtsextreme und Vertreter der national-konservativen Parlamentsopposition, aber auch viele einfache, von der wirtschaftlichen Lage enttäuschte Menschen. Der Hass auf die "antinationale Lügen- und Verräterregierung" verbindet sich mit der Unzufriedenheit zu einer explosiven Mischung, zeitweise kommt es zu schweren Ausschreitungen.
    Der Sturz der sozialistisch-liberalen Regierung misslingt, die ohnehin starke politische Spaltung Ungarns in Rechts und Links vertieft sich noch mehr. Für die Rechtsextremen ist der Budapester Herbst 2006 ein Erweckungserlebnis - von nun an gehen sie in die Offensive. Immer wieder kommt es zu schweren Krawallen in Budapest, immer neue rechtsextreme Organisationen entstehen. An diesem Erstarken der Rechtsextremen, sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, trügen alle etablierten politischen Kräften eine Mitschuld:

    "Die Konservativen sind schuld, weil sie den Rechtsextremismus in ihrer Umgebung geduldet haben und nicht gegen ihn vorgegangen sind. Schuld sind aber auch die Liberalen, denn zuweilen entsprechen sie genau den Stereotypen, die über sie kursieren: der einseitige Kult für den Westen, die ausschließliche Solidarität mit den Minderheiten, während sie für die Probleme der großen Mehrheit des Volkes unempfindlich sind. Schuld sind schließlich auch die Linken. Die Sozialisten machen eigentlich eine neoliberale Politik, und sie nennen sich nur deshalb links, weil es mit Blick auf ihre Vergangenheit komisch wäre, wenn sie etwas anderes über sich sagen würden. "
    Ungarns Rechtsextreme halten freilich nicht nur paramilitärische Aufmärsche ab. Immer wieder organisieren sie in Budapest Straßenblockaden oder liefern sich an den nationalen Feiertagen Straßenschlachten mit der Polizei, zum Beispiel am 15. März, dem Tag, an dem der antihabsburgischen Revolution von 1848 gedacht wird. Mehr noch: In den letzten Monaten erlebte Ungarn eine Reihe gezielter, mutmaßlich rechtsextremer Anschläge gegen Einrichtungen und Personen.

    12. Dezember 2007, Nachrichten im Budapester Fernsehsender HírTV. Sándor Csintalan, ein ehemaliger Spitzenpolitiker der regierenden Sozialistischen Partei und inzwischen Moderator einer Polit-Talkshow bei HírTV, ist am Abend zuvor in der Tiefgarage seines Wohnblocks von Unbekannten krankenhausreif geschlagen worden. Zu der Tat bekennt sich später eine ominöse rechtsextreme Organisation namens "Pfeile der Ungarn - Nationale Befreiungsarmee".

    "Von der Garagentür her kamen vier schwarz gekleidete Gestalten mit Eisenstangen auf mich zu gerannt, ich bekam einen schweren Schlag auf den Kopf und fiel hin. Dann schrieen sie, ich sei ein "Judenknecht", ich solle mich besser vorsehen. Schande oder nicht, ich fing an, um mein Leben zu flehen. Ich sagte, bringt mich nicht um, ich habe Kinder und gerade eine Herzoperation gehabt, ihr könnt mich leichter töten, als ihr denkt."
    Der Anschlag auf den 53jährigen Csintalan ist nur der schlimmste mit mutmaßlich rechtsextremem Hintergrund, nicht der einzige. Ebenfalls im Dezember 2007 wurde auf das Haus eines Ministers geschossen, auf das eines anderen Ministers wurden Molotow-Cocktails geworfen. Die vorerst letzte Anschlagsserie verübten Unbekannte in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar: Sie warfen Molotow-Cocktails auf die Häuser von vier sozialistischen Parlamentsabgeordneten. Verletzt wurde niemand, es entstand jedoch erheblicher Sachschaden. Immer wieder kommt es auch zu Tätlichkeiten gegen Journalisten, die kritisch über die rechtsextreme Szene berichten, im Internet kursieren zahlreiche Lynchaufrufe gegen sie.
    Hakenkreuzschmierereien und Sachbeschädigungen in Büros linker Parteien und Organisationen sind fast alltäglich. Auch Psychoterror per Post ist in Mode gekommen: Seit Ende vergangenen Jahres bekamen Dutzende Politiker und ihre Familien anonyme Briefe, die weißes Pulver enthielten. Das erwies sich zwar jedes Mal als harmlos, doch immerhin rückten zu jedem Adressaten Einheiten der Polizei und des Katastrophenschutzes an, um die Substanzen aus den Briefen auf ihre Gefährlichkeit zu überprüfen. Beim Nationalen Ermittlungsamt NNI, eine Art ungarisches BKA, betrachtet man diese Entwicklung mit großer Sorge. Dazu Zoltán Mayer, der beim NNI die Abteilung Terrorismus und Extremismus leitet:

    "Der Verdacht taucht auf, dass wir gerade erleben, wie in Ungarn die Basis einer einheimischen Terrororganisation gelegt wird. Unsere Abteilung und auch die Polizeiführung nimmt die Gewaltakte sehr ernst. Wir wollen herausfinden, ob es eine reale, organisierte Kraft hinter diesen Taten gibt, oder ob es nur um isolierte Taten von Leuten mit rechtsextremen ideologischen Auffassungen geht."
    Die bisherigen Ermittlungserfolge der Behörden sind dürftig. Erst einen einzigen Fall rechtsextremer Gewalt konnten Polizei und NNI aufklären, wie Zoltán Mayer berichtet.

    "Im Zusammenhang mit den Molotow-Cocktail-Anschlägen auf die Parteibüros der Sozialisten haben wir einige Täter gefunden. Es scheint so, als ob sie in diesem speziellen Fall im Dezember 2007 in Budapest spontan und allein gehandelt haben. Die Täter sind zwei junge Männer Anfang zwanzig, die aus gut situierten Familien kommen und keine materiellen Probleme haben. Beide haben rechtsextreme Ansichten und sind auf allen regierungsfeindlichen Kundgebungen anwesend. Weitere Details möchte ich zu dem Fall aber nicht nennen."
    Nach den Gewaltakten der letzten Monate und den zahlreichen rechtsextremen Aufmärschen hat die Budapester Staatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die "Ungarische Garde" eingeleitet. Auch gibt es inzwischen einen Minimalkonsens unter allen parlamentarischen Parteien: Man ist sich einig, dass rechtsextreme Organisationen wie die Garde die Demokratie bedrohen. Doch es hat gedauert, bis dieser Minimalkonsens zustande kam. Und er scheint sehr zerbrechlich. Noch immer zeigen die beiden dominierenden politischen Lager der Sozialisten und National-Konservativen am liebsten mit dem Finger aufeinander. Attila Mesterházy, der 35-jährige stellvertretende Fraktionschef der Sozialisten, wirft der Opposition ein Doppelspiel vor:

    "Die national-konservative Oppositionspartei Fidesz ist gezwungen, ständig mit gespaltener Zunge zu sprechen, weil sie die 200.000 Wählerstimmen von ganz rechts nicht verlieren will. Als der Fidesz-Vorsitzende Viktor Orbán gefragt wurde, ob er sich von der "Ungarischen Garde" distanziere, antwortete er, er verstehe nicht, warum er sich "distanzieren" solle. Einer der Fidesz-Stellvertreter hat dann zwar ein paar politisch korrekte Sachen zur Garde gesagt, aber der Parteichef, den die rechten Wähler als Führungsfigur sehen, war dazu nicht bereit."
    Der 49-jährige Fidesz-Politiker Zoltán Balog, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im ungarischen Parlament, kontert:

    "Ich bin natürlich gegen die "Ungarische Garde". Aber ich denke, die Regierung benutzt sie, um von den wirklichen Problemen des Landes abzulenken, auch von den Problemen der Roma. Statt uns als große Antirassisten auszugeben, sollten wir lieber die Probleme der Roma lösen, damit man die sozialen Spannungen nicht ausnutzen kann. Denn genau das macht ja die Garde - soziale Spannungen ausnutzen."
    Ebenso wie im Fall der politischen Elite hat der erstarkte Rechtsextremismus auch einen großen Teil der liberalen intellektuellen Elite Ungarns entzweit. Es gebe tatsächlich ein Roma-Problem in Ungarn, sagen die einen, und fordern, sich damit - wie es heißt - "vorurteilslos" auseinanderzusetzen. Zum Beispiel der 38-jährige Budapester Historiker Krisztián Ungváry:

    "Ich halte es für richtig, Organisationen wie die Garde zu verbieten, wenn sie verfassungsfeindlich agieren. Aber: Man muss einsehen, dass diese Verrückten nicht aufmarschieren würden, wenn es nicht um ein gesellschaftliches Problem mit rationalem Kern ginge, ein Problem, das keine politische Kraft in Ungarn bisher gelöst hat. Es muss eine bessere Roma-Politik geben. Die finanzielle Hilfe wie zum Beispiel das Kindergeld, das für viele Roma die einzige Einkommensquelle ist und keinerlei Verpflichtungen beinhaltet, müsste gekürzt werden. Dafür müsste man neue Arten von Sozialhilfe einführen, die zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten."
    Der 43-jährige Budapester Roma-Politiker Aladár Horváth plädiert zwar auch dafür, dass Roma weitaus gezielter geholfen wird, als das gegenwärtig der Fall ist. Aber zugleich sieht er in der Diskussion um die mögliche Neuordnung des Sozialsystems eine Tendenz zur "Armutsfeindlichkeit".

    "In den letzten Jahren ist rund ein Drittel der Roma völlig abgerutscht. Zwei Drittel konnten im Kreislauf der Wirtschaft und Gesellschaft bleiben, wenn auch nur auf dem untersten Niveau. Der Hass gegen die Zigeuner ist auch ein Hass gegen das abgerutschte Drittel, er ist auch Armutsfeindlichkeit. Die Gesellschaft hat entschieden: Wir wollen mit diesen Leuten nicht zusammen leben, unsere Kinder nicht mit ihnen in die Schule schicken, nicht gemeinsam arbeiten."