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Die Parallele zu den Sex Pistols

Der Religionswissenschaftler Joachim Willems hat ein sehr reflektiertes Buch über den Fall Pussy Riot geschrieben. Seine Sympathie für die Künstlerinnen macht er deutlich - kritische Sympathie, die er ebenso für die orthodoxe Kirche aufbringt. Sehr erhellend ist zudem die Parallele, die er zwischen Pussy Riot und den Sex Pistols zieht.

Von Uli Hufen | 29.08.2013
    Noch ein paar Monate, dann werden Nadezhda Tolokonnikowa und Marija Aljochina wieder frei sein. Im März 2014 ist es zwei Jahre und zwei Wochen her, seit Tolokonnikowa, Aljochina und zwei andere, unbekannte junge Frauen in neonbunten Sturmmasken, Kleidern und Strumpfhosen vor der Ikonenwand in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau ihren inzwischen weltberühmten Punk-Bittgesang aufführten. Wobei nur schwer zu rekonstruieren ist, was genau in der Kathedrale zur Aufführung kam und was später am Schneidetisch hinzugemischt wurde. Klar ist nur eins: Das Video der Performance reihte allerlei unflätige Beschimpfungen gegen Staat und Kirche aneinander und gipfelte in der Bitte, die Gottesmutter Maria möge doch bitte Vladimir Putin verjagen. Maria hatte kein Einsehen, aber Putin war beleidigt. Nach landläufiger Einschätzung sitzen Pussy Riot genau deshalb im Gefängnis.

    Dass es mit den landläufigen Einschätzungen im Fall Pussy Riot nicht allzu weit her ist, zeigt der Berliner Religionswissenschaftler Joachim Willems jetzt in seinem vorbildlichen Buch "Pussy Riots Punk-Gebet". Wobei der Untertitel des Buches entscheidend ist: Er lautet nicht: "Putins böses Regime und seine Handlanger aus der orthodoxen Kirche", sondern: "Religion, Recht und Politik in Russland."

    Das Grundprinzip von Willems Buch ist ein einfaches: Alles ernst nehmen. Die russischen Gerichte und Gesetze, die orthodoxe Kirche, den Staat und die Opposition, Putin und Pussy Riot. Vor allem Pussy Riot. Genau das unterscheidet Willems und sein Buch von 98 Prozent aller Kommentatoren und Fans, die sich in den vergangenen knapp zwei Jahren berufen fühlten, über Pussy Riot zu reden. Die meisten haben bis heute noch nicht einmal begriffen, dass Pussy Riot keine Band, sondern ein radikales politisches Performance-Kollektiv sind. Willems weiß das und noch viel mehr. Er kann erklären, was Ikonen sind. Er kann erklären, warum der Altarraum für orthodoxe Christen nicht nur heilig ist, sondern sehr viel heiliger als selbst für katholische und protestantische Christen in Deutschland. Er kann das Verhältnis von Staat und Kirche in Russland differenziert beschreiben. Und er zeigt, dass man Pussy Riot im Westen aus bestenfalls zweifelhaften Gründen liebt.

    "Im Bild der angeklagten Frauen erkennen westliche Beobachter Kämpferinnen für westliche, also moderne und zugleich universale Werte, die von einem repressiven Regime unterdrückt werden. Wer sich mit ihnen solidarisch erklärt, weiß sich auf der richtigen Seite und partizipiert im besten Falle an der internationalen Prominenz von Pussy Riot, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Im Gegenteil, der Flirt mit der Subversion in der Fremde bewegt sich im Mainstream der eigenen Gesellschaften und verspricht so sogar noch besondere Anerkennung für menschenrechtliches Engagement einzubringen. Ob man damit dem radikalen Selbstverständnis von Pussy Riot gerecht wird, oder ob man die Frauen nicht instrumentalisiert und vereinnahmt zur Bekräftigung eigener individueller wie kollektiver Selbstbilder, die mit Pussy Riot oft wenig zu tun haben, steht auf einem anderen Blatt."

    Die Logik der Medien und die Gefängnisstrafe für Pussy Riot verlangten klare Positionierungen. Schwarz oder Weiß. Gut gegen Böse. Joachim Willems entzieht sich dieser Falle. Er lehnt die Verurteilung zu Gefängnisstrafen ab und hat erkennbar Sympathie für Pussy Riot. Kritische Sympathie. Doch anders als fast alle westlichen Kommentatoren bringt er ebenso viel kritische Sympathie für die orthodoxe Kirche auf. Willems analysiert Pussy Riots Performance und kann zeigen, dass, wie und warum hier bewusst und absichtlich die Gefühle gläubiger Menschen verletzt wurden. Erhellend ist dabei die Parallele zu den Sex Pistols und ihrem Song "God save the Queen, this fascist regime" von 1977.

    "Beide legen es darauf an, zu schockieren und zu beleidigen. Die Sex Pistols bezeichnen die britische Regierung als "the fascist regime" und sagen von der Königin: 'She ain‘t no human being'. Pussy Riot nennen den Patriarchen 'suka' (bitch), bezeichnen die politischen Führer als ‚verfault‘ und schockieren mit dem mehrmals wiederholten trinitarisch-dreifachen Ausruf ‚Scheiße des Herrn‘. --- In beiden Fällen gibt es kein klares politisches Programm, das innerhalb des Systems durchgesetzt werden sollte und könnte, sondern es geht um radikalen Protest gegen Politik und Gesellschaft."


    Die große Stärke von Joachim Willems Buch - das Ernstnehmen - ist gleichzeitig seine einzige kleine Schwäche. Indem er Pussy Riot, Recht, Politik und Religion etwas zu ernst nimmt, entgehen Willems zwei entscheidende Momente: das kühl Kalkulierte und das irrsinnig Unverantwortliche. Genau wie der genialische Manager der Sex Pistols Malcolm McLaren wussten auch Pussy Riot, dass auf dem Weg zu Ruhm und Ehre für junge Künstler dreierlei unabdingbar ist: ein einprägsamer Name als Marke, ein unverwechselbarer Look und vor allem: Skandale. Berühmt wird man nur durch die Medien. Die Medien sind Vampire, die statt Blut Skandale trinken. Nichts sorgt so sicher für einen Skandal wie ein guter alter Tabubruch. Die Sex Pistols griffen die königliche Familie an, Jonathan Meese übt den Hitlergruß, in Russland arbeitet sich mit Pussy Riot nun schon die dritte Generation radikaler Aktionskünstler an den dankbaren Gegnern Staat und Kirche ab.

    Pussy Riot waren wie die Sex Pistols neben vielem anderen auch der clever geplante und mit aller Rigorosität ausgeführte Versuch künstlerisch mäßig talentierter und politisch naiver junger Menschen, möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Natürlich wollten Pussy Riot mit aller Macht berühmt werden, natürlich wollten sie so krass wie möglich schockieren, natürlich hassen sie das System, den Staat, Putin, die Kirche, die Banken und jeden Mann im Anzug mit der ganzen sportlichen Ignoranz und rohen Radikalität der Jugend. Natürlich. Genau das war gut an ihnen, nur das.

    Der Prozess, die Verurteilung und der internationale Medienrummel haben aus den herrlich irrsinnigen, unverantwortlichen, rabiaten und rücksichtslosen Punks, die Pussy Riot waren, zuweilen pompöse Menschenrechtler, Gesellschaftskritiker und Opfer eines repressiven Systems gemacht. Willems entgeht dieser Moment, vielleicht fehlt dem seriösen Religionswissenschaftler einfach der Sinn für die wilde, unverantwortliche Schönheit von Pussy Riot. Aber abgesehen davon: Ein klügeres, reflektierteres Buch über Pussy Riot als das von Joachim Willems lässt sich kaum denken.


    Literaturhinweis: Joachim Willems: Pussy Riots Punk-Gebet: Religion, Recht und Politik in Russland, Berlin University Press, EUR 19,90