Freitag, 29. März 2024

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"Die Parlamente sind der große Verlierer der Europäisierung"

Selbst juristische Laien kennen sein Sondervotum zum "Reiten im Walde"; die "Süddeutsche Zeitung" schrieb dem ehemaligen Verfassungsrichter brillante Kompetenz und stille Leidenschaft zu: Professor Dr. Dieter Grimm hat die deutsche Rechtslandschaft maßgeblich geprägt.

Die Fragen stellte Stephan Detjen | 29.08.2013
    Mit brillanter Kompetenz und stiller Leidenschaft übte er nach Meinung der "Süddeutschen Zeitung" sein Amt als Berichterstatter des Ersten Senats im Karlsruher Bundesverfassungsgericht aus. Er machte wiederholt durch juristisch breit beachtete Sondervoten auf sich aufmerksam, zum Beispiel zur Entscheidung über Reiten im Walde. Die Rede ist von Professor Dr. Dieter Grimm, 1937 in Kassel in geboren, deutscher Rechtswissenschaftler und von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts.

    Sein Politik- und Jurastudium absolvierte er an den Universitäten Frankfurt am Main und Freiburg im Breisgau sowie an der FU Berlin, der Pariser Sorbonne und der Harvard-Universität. 1979 nahm Grimm einen Ruf auf eine Professur für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld an, wo er bis 1987 lehrte und von 1984 bis 1990 auch als Direktor des dortigen Zentrums für interdisziplinäre Forschung tätig war. Seit 1999 war er ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde 2005 emeritiert, blieb aber bis 2007 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin.


    Dieter Grimm: "Es ist immer einfacher, wenn man autokratischer entscheiden kann, als wenn man kooperativ entscheiden muss."

    Stabiler Rechtsstaat, stabile Demokratie. Deutschland im Zentrum Europas.
    Stephan Detjen: Herr Professor Grimm, Frage an den Verfassungsjuristen und Beobachter des Zeitgeschehens: Wir befinden uns wenige Wochen vor einer Bundestagswahl, in welcher Verfassung ist das Land?

    Grimm: Das Land ist eigentlich in einer ganz ordentlichen Verfassung, wenn man es vergleicht mit vielen unserer Nachbarländer. Wenn man nach Italien schaut, wenn man nach Griechenland schaut, wenn man in einige der früher sozialistischen Länder schaut, dann muss ich doch sagen, es gibt viel auszusetzen an unserer Politik, aber sozusagen in ihren Grundlagen ist sie relativ gut gefestigt und stabil.

    Detjen: Wenn man diesen Vergleich anstrebt, dann sieht man ja auch in allen Nachbarländern, auch im Zuge der europäischen Diskussionen und des europäischen Krisenmanagements, das Entstehen von Protestbewegungen, den Zerfall vom Parteisystem. Wir wissen noch nicht genau, wie die Bundestagswahl ausgeht, aber so wie es aussieht, wird diese Bundesrepublik sich auch in der Stabilität ihres Parteiensystems fortsetzen!

    Grimm: Das ist zu erwarten. Die erste starke Veränderung des Parteiensystems, eigentlich die beinahe einzige wirklich erfolgreiche Neugründung unter Hunderten von Neugründungen, die es gegeben hat, waren ja die Grünen vor vielen Jahren, die gehören nun mittlerweile dazu. Aber anfangs ist das mit viel Irritation beobachtet worden, dass da nun ein neuer Faktor kommt. Jetzt haben wir immer noch als eine Folgeerscheinung der Wiedervereinigung die Linke; die Piraten werden ein Wort mitreden, ob sie in den Bundestag kommen, ist fraglich; die Alternative für Europa, bei der wird es ähnlich sein, zum ersten Mal eine Partei, die den großen europarechtlichen oder europapolitischen Konsens, der in der Bundesrepublik herrscht, durchbricht. Das ist ja auch ein erstaunliches Faktum, man sieht immer nur die großen Differenzen und Kontroversen, aber es gibt ja ein sehr, sehr breites Spektrum an Übereinstimmung.

    Detjen: Man kann es auch anders beobachten und sagen, die Übereinstimmung überwältigt eigentlich, wir vermissen die Polarisierung im Wahlkampf.

    Grimm: Die Übereinstimmung bringt manchmal erhebliche Probleme mit sich, in demokratischer Hinsicht. Wenn man wählt, will man ja gerne Alternativen haben zum Wählen. Und wenn die Alternativen nur scheinbare sind und nicht echte, dann bleibt nicht viel zu Wählen übrig.

    Detjen: Herr Professor, lassen Sie uns über das Parlament sprechen, das da gewählt werden muss! Der Bundestag ist in den letzten Jahren, besonders in der letzten Legislaturperiode ganz besonders durch die Euro-Krise herausgefordert worden. Er war mit Entscheidungen konfrontiert, in denen auch immer wieder die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Parlamentariern deutlich wurden, manchmal hatte man den Eindruck, die Abgeordneten hinkten eigentlich nur noch hinter dem galoppierenden Krisenmanagement der Staats- und Regierungschefs in Brüssel hinterher. Kann ein solches Parlament wie der Bundestag eigentlich im vereinten Europa, im Angesicht der Aufgaben, die ihm auch weiter bevorstehen werden, noch dem Anspruch gerecht werden, den ihm das Grundgesetz und auch das Bundesverfassungsgericht zuweist?

    Grimm: Ich glaube, dass die Parlamente – nicht nur das deutsche, nicht nur der Bundestag, sondern die Parlamente – der große Verlierer der Europäisierung und der Internationalisierung sind. Denn das, was auf außerstaatlicher Ebene, überstaatlicher Ebene geschieht, ist im Wesentlichen ein Geschäft für die Exekutive. Und das Parlament kommt ins Spiel zu einem Zeitpunkt, an dem es schwer ist, noch inhaltlichen Einfluss zu nehmen. Also, es kommt im Wesentlichen in die Situation eines Ja- oder Nein-Sagers und dann ist es unwahrscheinlich, dass ein Parlament – wenn es Nein sagt, würde es ja immer heißen, dass es die eigene Regierung desavouiert –, dann ist es unwahrscheinlich, dass ein Parlament dort eine starke Stellung entwickeln kann. Wichtig ist deswegen – dafür hat das Bundesverfassungsgericht in seinen europarechtlichen Entscheidungen in der letzten Zeit gesorgt –, dass das Parlament jedenfalls informiert und befasst wird mit den Dingen, ehe sich die eigene Regierung endgültig festgelegt hat. Jetzt kommt natürlich die zweite Frage, das ist die Frage, verfügt das Parlament über genügend Expertise, über genügend Zeit, um sich so zu informieren, dass es eine vernünftige Entscheidung treffen kann? Was ich von unseren Parlamentariern, soweit ich Gelegenheit habe, mit ihnen zu sprechen, höre, ist, dass die Papierflut aus Brüssel immens ist und kaum zu bewältigen ist. Es wird da so gehen, wie es immer im Parlamentarismus geht unter den heutigen Bedingungen, es wird einige Experten geben und die anderen müssen sich darauf verlassen. Das ist nicht weiter schlimm, das ist in allen Bereichen so, überall ist irgendjemand Experte und überall ist irgendjemand nicht Experte und verlässt sich auf andere, so wird es auch mit Europa-Fragen gehen. Aber ich glaube nicht, dass das Parlament den Vorsprung, den die Regierung allein aufgrund der Handlungsbedingungen in internationalen Räumen hat, den Verlust an Bedeutung jemals wettmachen können wird.

    Detjen: Sie sagen, das ist ein Vorsprung, die Regierung ist da im Vorteil, und sagen, das Parlament ist ein Verlierer dieser Entwicklung, dieses Wettlaufs, wenn wir in dem Bild bleiben wollen. Der Präsident des Bundestages Norbert Lammert zum Beispiel wird das ganz anders sehen, wird gerade mit Verweis auf das Bundesverfassungsgericht sagen, das Parlament ist doch eigentlich der Gewinner, wir bekommen immer wieder Verantwortung und auch mehr Verantwortung zugewiesen. Aber die Frage ist doch auch, werden da nicht Erwartungen geweckt, die überzogen sind, die einfach nicht erfüllt werden können?

    Grimm: Es ist sicherlich richtig und vernünftig, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Weg gewählt hat, das Parlament in dieser Hinsicht zu stärken. Aber das Verfassungsgericht kann ja das Parlament auch immer nur institutionell stärken, es kann ihm ein Recht geben, eine Befugnis geben. Was es daraus macht, ist eine andere Frage. Ich nehme an, dass die Möglichkeiten des Parlaments, von den Befugnissen, die es durch Rechtsprechung bekommen hat oder die es hatte und die ihm bestätigt worden sind, ihm zur Pflicht, zur Auflage gemacht worden sind, dass es dadurch seine Möglichkeiten vergrößert. Und der Effekt wird wahrscheinlich sein, dass die Regierung, um nicht nachher eine Überraschung zu erleben, sich frühzeitiger als ohne diese Befugnisse des Parlaments mit ihm in Verbindung setzt und dafür sorgt, dass es dort Konsenssicherheit hat. Dann hängt sehr viel von den Parlamentariern, die sich für Europa-Fragen interessieren und engagieren, ab, wie viel Zeit sie aufbringen können, wie viel Wissen sie aufbringen können, um das Amt wahrzunehmen.

    Detjen: Haben präsidiale Demokratien, wie etwa Frankreich, in einer solchen Situation einen politischen Wettbewerbsvorteil, in denen der Präsident, die Exekutive sich auch auf unmittelbare Legitimation durch Wahlen berufen kann und nicht die komplizierten Mitspracherechte mit dem Parlament beachten muss, wie sie gerade in Deutschland gelten?

    Grimm: Es ist immer einfacher, wenn man autokratischer entscheiden kann, als wenn man kooperativ entscheiden muss. Und es macht sich ja auch häufiger bei Verhandlungen, Regierungsverhandlungen in Brüssel bemerkbar, bei Abstimmungen etwa im Europäischen Rat, also dem Organ, wo das europäische Recht beschlossen wird, spricht man ja häufiger schon von the German Boat. The German Boat ist ganz häufig eine Enthaltung, weil die Bundesregierung sich bei vielen Entscheidungen, die zu fällen sind, sowohl mit dem Parlament wie auch mit den Ländern, wenn die Länderfragen betreffen, ins Benehmen setzen muss und häufig keine Einigkeit erzielt wird, sodass dann nur die Enthaltung übrig bleibt. Damit entmachtet sich Deutschland selbst. Auf der anderen Seite – das ist jetzt aber nur die eine Seite –, auf der anderen Seite denke ich, dass durch die vielen Mitspracherechte und Kooperationspflichten, die es bei uns gibt, auch die Chancen für einen Konsens höher werden und nicht eine Seite des politischen Spektrums die Erfahrung macht, dass sie immer überfahren wird.

    Grimm: "Das Grundgesetz, so steht es jedenfalls in der Lissabon-Entscheidung drin, ermächtigt die Organe der Bundesrepublik nicht dazu, die Staatlichkeit der Bundesrepublik aufzugeben und die Europäische Union in einen Bundesstaat zu verwandeln."

    Die europapolitischen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Gestaltungschancen und Grenzen.
    Detjen: Hat sich möglicherweise auch das Bundesverfassungsgericht durch seine Rechtsprechung, die ja immer wieder interpretiert wurde als sozusagen ein immer neues Aufstellen, aber dann auch Verrücken von Stoppschildern – bis hierhin und nicht weiter, in der Euro-Entscheidung, in der Lissabon-Entscheidung –, hat sich da nicht auch das Bundesverfassungsgericht in eine schwierige Lage gebracht, indem sie so viele Erwartungen auf sich ziehen, sozusagen das letzte Bollwerk nationalstaatlicher Souveränität zu sein, die dann aber doch nicht erfüllt werden kann und immer wieder auch Enttäuschungen hervorruft?

    Grimm: Das Verfassungsgericht hat in europapolitischen Entscheidungen der letzten Jahre, die sich ja häufen – in der Zeit, als ich noch in Karlsruhe war, ist vielleicht alle drei Jahre mal eine europapolitische Entscheidung angefallen, heute fällt …

    Detjen: … im Monatstakt fast!

    Grimm: Ich wollte sagen, alle drei Wochen, das wäre übertrieben gewesen, aber alle drei Monate wird man sicherlich sagen können, fällt etwas dieser Art an. Daraus sieht man schon, wie sehr sich die Gewichte verschoben haben. Also, das Verfassungsgericht hat bisher einen Weg gewählt in dieser Rechtsprechung, dass es Kompetenzgewinne der Europäischen Union, Aufgabenübertragungen an die Europäische Union stets gebilligt hat, wenn auch mit Zögern und manchmal mit Schmerzen, und dann auf der nationalen Ebene versucht hat, eine Kompensation zu finden. Und diese Kompensation war üblicherweise die Stärkung der Rolle des Parlaments. Ich nehme an, dass dieser Weg in Karlsruhe allmählich an sein Ende gerät, weil ich nicht sehe, wie man die Rechte des Parlaments auf diesem Sektor noch weiter stärken könnte. Und dann ergibt sich natürlich die Lage, dass das Bundesverfassungsgericht sich neu positionieren muss und überlegen muss, wie es sich verhält, wenn dieser Weg – Ja zu Europa, aber unter der Bedingung, dass innenpolitisch das Parlament gestärkt wird und mehr Mitspracherechte bekommt –, dass es sich positionieren muss, wenn dieser Weg nicht weiter zu entwickeln ist. Wie das gemacht werden kann oder soll, ist nicht leicht. Das Bundesverfassungsgericht kann in die Rolle kommen, dass es irgendwann sagen muss, nein, diese Erweiterung europäischer Kompetenzen ist nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar, die Kriterien dazu sind in der Rechtsprechung aufgestellt. Bisher ist der Punkt nie erreicht worden nach Ansicht des Gerichts, mag sein, dass er irgendwann erreicht wird, und sonst muss man überlegen, Ja-Aber-Entscheidungen sind es ja gewesen bisher, wenn das Aber wegfällt, das heißt also, wenn das Parlament nicht weiter gestärkt werden kann, bleibt dann wirklich nur noch das Ja übrig. Das ist die Situation, vor der man in Karlsruhe jetzt, glaube ich, steht.

    Detjen: Einen sozusagen ultimativen Ausweg hat das Bundesverfassungsgericht ja am Ende der Lissabon-Entscheidung zum Lissabon-Vertrag gewiesen, nämlich auf die Möglichkeit, im Grundgesetz selbst festgeschrieben, verwiesen, zu sagen, das Volk kann sich in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung geben. Wann ist ein solcher Punkt erreicht, wo das geschehen muss, und was muss eine Gesellschaft eigentlich an Voraussetzungen mitbringen, um an den Punkt zu kommen, sich wirklich dann grundlegend, so grundlegend Gedanken über die eigene Verfassung und eine neue Verfassung zu machen?

    Grimm: Das Verfassungsgericht hat zwei Schwellen formuliert: Die eine Schwelle erreicht diesen Punkt, den Sie jetzt anschneiden, noch nicht, das ist die Schwelle bei der Abgabe von Kompetenzen, die Schwelle ist, das nationale Parlament muss weiterhin über genügend Politiksubstanz verfügen, damit die Wahlentscheidung des Bürgers überhaupt noch einen Sinn hat. Wenn ich für ein Organ stimme, das nichts mehr zu sagen hat, dann wird auch das Wahlrecht entleert. Also, das ist die Schwelle. Es dürfen nicht so viele Kompetenzen oder so wichtige Kompetenzen abgetreten werden, dass das deutsche Parlament von Aufgaben und Funktionen entleert ist. Die führt uns aber noch nicht an den Punkt, sondern an den Punkt, den Sie erwähnt haben, führt uns die zweite Schwelle. Das ist die Schwelle Verstaatlichung der Europäischen Union. Das Grundgesetz – so steht es jedenfalls in der Lissabon-Entscheidung drin – ermächtigt die Organe der Bundesrepublik nicht dazu, die Staatlichkeit der Bundesrepublik aufzugeben und die Europäische Union in einen Bundesstaat zu verwandeln. Wenn das gewollt ist, dann geht es nur – Lissabon-Urteil –, dann geht es nur durch eine neue Verfassung, in der das Volk den Organen der Bundesrepublik ausdrücklich die Ermächtigung erteilt, die Staatlichkeit der Bundesrepublik aufzugeben. Also, es geht auch nicht im Wege der Verfassungsänderung, sondern es geht nur mit neuer Verfassung.

    Detjen: Das greift alles zurück auf eine Begrifflichkeit, die auch aus der Tradition nationalstaatlicher Verfassungsgebung kommt, institutioneller Verfassung, Staat und Staatlichkeit. Die Frage, mit der Sie sich ja auch als Wissenschaftler, also nach dem Ausscheiden aus dem Bundesverfassungsgericht viel beschäftigt haben, ist: Reicht diese Begrifflichkeit eigentlich aus, was ist Verfassung eigentlich noch, in der sich Nationalstaaten immer mehr integrieren in transnationale, überstaatliche Ordnungen? Braucht man da ganz neue Begriffe, neue Verfassungsrahmen, andere Verfassungsinstitutionen als die, die wir kennen?

    Grimm: Man braucht sicher auf der überstaatlichen Ebene Prozeduren und Organisationsstrukturen, die nicht vom Staat entliehen sind. Deswegen habe ich auch immer Vorbehalte, wenn die meisten Reformvorschläge für die Europäische Union im Grunde auf eine Kopie des staatlichen Systems hinauslaufen. Also, was wird in der Regel vorgeschlagen: Es wird vorgeschlagen, das Europäische Parlament muss die Befugnisse bekommen, die ein nationales Parlament hat, der Europäische Rat – also das Organ, wo die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind – wird eine Zweite Kammer des Parlaments, die Kommission wird die Regierung und dann wählen wir einen Präsidenten. Das ist also exakt das staatliche Schema, von dem ich nicht glaube, dass es für die internationale Ebene passt. Die ursprüngliche Konstruktion der Europäischen Union ist ganz ingeniös gewesen, keineswegs schlecht gewesen. Sie ist jetzt reformbedürftig, weil die Befugnisse größer geworden sind, die Rolle, internationale Rolle Europas sich geändert hat, weil die Europäische Union viel größer ist, 28 Mitgliedsstaaten sind wir inzwischen. Ich bin aber auf der anderen Seite der Überzeugung, dass selbst eine reformierte Europäische Union im Grunde die Staaten nicht ersetzen kann. Was auf der europäischen Ebene fehlt und auch nicht einfach, leicht zu beschaffen ist, ist ein intensiver politischer Diskurs über die Nationengrenzen hinweg. Wir haben 28 europapolitische Diskurse, die aber völlig anders verlaufen.

    Detjen: Das betrifft die Frage einer europäischen Öffentlichkeit.

    Grimm: Das betrifft die Frage einer europäischen Öffentlichkeit, die nicht da ist – auf Expertenebene, auf Elitenebene ja, aber nicht auf Volks-, Bevölkerungsebene –, und die aber für die Demokratie ganz zentral ist, und man kann die auch nicht kurzfristig schaffen. Denn das würde ja europäische Medien- und Sprachfertigkeiten voraussetzen, die nicht einfach zu gewinnen sind. Deswegen denke ich, dass die Europäische Union demokratisch durchaus Fortschritte gemacht hat, aber sie wird nie das Demokratie-Niveau von Staaten, ihrer Mitgliedsstaaten erreichen können. Auch das Niveau ist ja verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig, darüber darf man sich ja keiner Irritation, keiner Täuschung hingeben. Und es ist bei uns in Deutschland noch viel besser als in manchen anderen Staaten, gerade auch neueren Mitgliedsstaaten. Aber in jedem Fall, in jedem Fall ist die Bindung, dieser Diskurs und die Rückbindung der nationalen Politiker an ihre eigene Öffentlichkeit, an ihr eigenes Volk ungleich intensiver, als das in Europa in den nächsten Jahren je der Fall sein wird. Also, deswegen bin ich selber auch der Meinung – jetzt gar nicht verfassungsrechtlich, sondern politisch gesprochen, dass es ein Fehler wäre, die Europäische Union in einen Staat zu verwandeln. Ich hoffe, dass der Zeitpunkt, wo wir das Grundgesetz in den Papierkorb werfen müssen und eine neue Verfassung machen, gar nicht kommt.

    Grimm: "Wenn alles grundrechtlich geschützt ist, ist Grundrecht nichts Besonderes mehr."

    Innenansichten des höchsten Gerichts, umstrittene Urteil und das Richterwahlverfahren.
    Detjen: Herr Professor Grimm, lassen Sie uns über das Bundesverfassungsgericht sprechen! Sie sind 1987 als Nachfolger des großen Staatsrechtlers Konrad Hesse nach Karlsruhe gekommen. Was haben Sie damals für ein Gericht kennengelernt?

    Grimm: Ich habe erstens mal ein äußerst arbeitsintensives Gericht kennengelernt. Ich habe festgestellt, dass die Auseinandersetzung im Gericht, die Arbeit an Entscheidungen außerordentlich intensiv ist. Das weiß man ja von außen nicht, selbst wenn man Verfassungsrechtler ist, weiß man trotzdem nicht, wie die Verfassungsrichter intern arbeiten. Die Arbeit am Fall, die Diskussion von gerichtlichen Entscheidungen war außerordentlich intensiv, wohl vorbereitet, häufig nicht kontrovers, sehr häufig kontrovers, manchmal erheblich kontrovers, ohne dass es je ausgeartet wäre in, sagen wir mal, Formen, die die Zivilität verletzten, das habe ich nicht erlebt. Insofern habe ich diese Arbeit gern getan. Ich bin eigentlich auch jedes Mal mit Freude in die Beratung gegangen, weil die Beratung immer eine Bereicherung war. Man ging klüger raus, als man hineingekommen war. Es waren auch manchmal Enttäuschungen, natürlich, jeder erlebt seine Enttäuschungen dort, aber es war durchaus an der Tagesordnung, dass sich Richter aufgrund der Diskussion in ihrer Auffassung geändert haben und bewegt haben. Also, insofern war das eine Diskussion, wie sie im politischen Raum eher selten anzutreffen ist.

    Detjen: Eine der ersten großen, bis heute sehr fundamentalen Entscheidungen, an denen Sie im Ersten Senat beteiligt waren, hat sich mit dem Thema Reiten im Wald beschäftigt. Sie haben da ein Sondervotum geschrieben damals, das in der Fachwelt jedenfalls sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und mit dem Satz begann: Reiten im Wald genießt keinen Grundrechtsschutz. Warum?

    Grimm: Die Grundrechte haben wir ja, weil es ganz besonders empfindliche Stellen für Freiheit gibt. Mit empfindlich meine ich Stellen, bei denen Politik, Regierung, Staat in dauernder Versuchung ist, sich einzumischen. Wir haben Hunderte und Tausende von Rechten und wir haben ungefähr 20 Grundrechte. Und das heißt, die Grundrechte in dem Meer von Rechten, die wir haben, schützen besonders sensible Stellen oder besonders wichtige Aspekte der Freiheit: Meinungsfreiheit, Redefreiheit, sie schützen mein Eigentum, sie schützen, dass ich mich versammeln darf et cetera. Sie schützen nicht die Banalitäten des alltäglichen Lebens, dafür reichen die normalen Rechte aus. Wenn man alles, was jemand tun möchte und wo ihm der Staat eventuell sagt, das darfst du jetzt aber nicht aus irgendeinem Grund, in die Grundrechtssphäre heben würde, dann wären Grundrechte bald nichts Besonderes mehr. Wenn alles grundrechtlich geschützt ist, ist Grundrecht nichts Besonderes mehr, das ist mein Gedanke gewesen. Reiten im Walde, Tauben füttern war ein Beispielsfall, bevor ich ans Gericht kam, Tauben füttern, das Verbot des Tauben-Fütterns im Park als Grundrechtsverstoß. Dann banalisiert man die Grundrechte und trivialisiert die Grundrechte, das ist mein Hauptaugenmerk gewesen. Ich finde, die Grundrechte sind ein ungeheuer kostbares Gut und man kann sie dadurch bedrohen und um ihren Wert bringen, dass man sie verletzt, aber man kann sie auch dadurch bedrohen, dass man sie zu Alltagsdingen macht. Darum ging es.

    Detjen: Zugleich ist dieses Urteil, in dem Sie sich ja in der Minderheit befanden, die Mehrheit Ihrer Kolleginnen und Kollegen hat das damals anders gesehen und das Reiten im Walde unter den Schutz von Artikel zwei, der allgemeinen Handlungsfreiheit gestellt … Die Kritik daran war auch von der Sorge getragen, wenn man alles und jede Handlung unter den Schutz des Grundgerechtes stellt, dann öffnet man auch den Richtern das Tor, sich überall einzumischen. Ist das eine Sorge, die für Sie nach wie vor gilt, ist da ein Tor dazu geöffnet worden, dass sich das Gericht in zu viele Dinge des Lebens eingemischt hat?

    Grimm: Zunächst mal mischt es sich ja nur ein, wenn es gefragt wird und wenn Anträge kommen. Also, es kann sich nicht von sich aus einmischen, es ist immer auf das angewiesen, was ihm zugeliefert wird.

    Detjen: Aber durch die Möglichkeit der allgemeinen Verfassungsbeschwerde werden ja fast alle Lebenssachverhalte an dieses Gericht herangetragen.

    Grimm: Ja, es ist in der Tat so. Also, jedenfalls kann man sagen, es wird kein Problem, das die Gesellschaft oder Einzelne in ihr auch nur einigermaßen bewegt, am Bundesverfassungsgericht vorbeigehen. Nun haben wir im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern, zu USA etwa, haben wir ein spezielles Verfassungsgericht. Das heißt, wir haben ein Gericht, das ist nicht für alles zuständig, während in der angelsächsischen Welt ein Gericht für alles, was rechtlicher Natur ist, zuständig ist. Deswegen muss man versuchen, eine Grenzlinie zu ziehen zwischen dem, was Verfassungsproblematik ist und was nicht Verfassungsproblematik ist. Und diese Grenze hat das Bundesverfassungsgericht immer weiter ausgedehnt, was auch dazu führt, dass sein Arbeitsanfall größer wird. Ich glaube, es ist aus guten Gründen geschehen, dass der Einflussbereich der Verfassung ausgedehnt worden ist, im Großen und Ganzen ist das segensreich gewesen; aber es tritt natürlich auch immer die Versuchung ein, dass man Dinge, deren verfassungsrechtlicher Gehalt, sagen wir mal, minimal ist, auch noch mit an sich heranzieht. Dagegen wollte auch mein Sondervotum eine gewisse Grenze errichten. Nun, allein die große Zahl der Verfahren … Als ich ausschied aus dem Gericht Ende 1999, waren wir bei etwa 5000 Fällen pro Jahr, jetzt ist man über 6000 Fälle pro Jahr. Allein die Fülle trägt natürlich schon dazu bei, dass eine gewisse Bremse am Werk ist.

    Detjen: Die Zeit, in der Sie am Gericht waren, von 1987 bis 1999, war von teilweise sehr heftigen Kontroversen um Urteile und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geprägt, auch Urteile, an denen Sie mitgewirkt haben, die Sie vertreten haben auch in öffentlichen Diskussionen, Beispiel die Urteile, die Entscheidungen zur Kritik an Soldaten – Soldaten sind Mörder –, das hat heftige Reaktionen ausgelöst damals. War das auch im Rückblick eine Zeit, wo in der Tat ganz besonders über dieses Gericht gestritten wurde, oder bettet sich das im Nachhinein doch in eine Geschichte eines Gerichtes, das immer wieder Kontroversen ausgelöst hat und immer wieder auch in der Kritik stand?

    Grimm: Man bildet sein Urteil häufig aus den gerade zurückliegenden Jahren. Und das ist damals – das war die Zeit so um 1995 herum – sicherlich so gewesen, dass man gesagt hat, plötzlich nimmt die Zahl von anstößigen, empörenden, hoch kontroversen Entscheidungen erheblich zu.

    Detjen: Kruzifix-Entscheidung war eine andere …

    Grimm: Kruzifix-Entscheidung und Soldaten sind Mörder gehörten sicherlich dazu, die Fragen des Versammlungsrechts gehörten dazu. Es gab aber auch von dem anderen Senat Entscheidungen dieser Art, Vermögenssteuer etwa. Also, es war schon eine Fülle von wichtigen und kontroversen Themen und es war auch eine gewisse Häufung von Entscheidungen, die bei großen Teilen des Publikums wenig auf Verständnis gestoßen sind oder auf Ablehnung gestoßen sind. Aber wenn man die Geschichte des Gerichts überblickt – 1951 hat es begonnen –, dann hat es immer Wellenbewegungen gegeben. Es hat immer Wellenbewegungen von hoch kontroversen Zeiten gegeben, auch gerade zu Anfang, die Anfangszeiten, wenn man das heute liest, sind ungeheuer schwierig gewesen, auch die Politik war noch nicht gewöhnt daran, dass es einen neuen Akteur gab, der ihr sagen konnte, nein, das durftest du nicht. Adenauer wird ja der Satz zugeschrieben, "So haben wir uns das nicht vorgestellt!", und der war der Präsident des Parlamentarischen Rates.

    Detjen: Auf das erste Rundfunkurteil war das damals.

    Grimm: Rundfunkurteil, auch immerhin zehn Jahre danach …

    Detjen: Betrifft uns in dem Medium, in dem wir heute sitzen. Da sprechen wir vielleicht gleich noch drüber.

    Grimm: Auch von großer Wichtigkeit, ja. Der erste große Dämpfer für eine Bundesregierung, denke ich, ist das gewesen. Nun gab es aber auch immer wieder Zeiten von großer Ruhe, wo auch in der Politik die Entscheidungen, die gefällt wurden, weniger kontrovers waren. Also, eine große Ruhephase war die Phase vor der ersten sozialliberalen Koalition, und die erste sozialliberale Koalition sah in der Bundesrepublik einen gewaltigen Reformstau, gerade auch auf dem rechtspolitischen Gebiet, den sie beheben wollte. Und da war das Gericht dauernd in Aktion. Das war auch die Zeit, wo die öffentliche Meinung dachte, nun wird ein Gericht wild. Das ging um den Schwangerschaftsabbruch, das ging um die dritte Parität in den Hochschulen und andere Fragen, die damals eine große Rolle spielten. Also, das ist schon ein Auf und Ab und nichts Einmaliges.

    Detjen: Wie weit wird das von Richterpersönlichkeiten getrieben? Das ist ja auch ein Anknüpfungspunkt für Kritik immer wieder, dass da doch politische Köpfe auch an das Gericht kommen, befördert auch noch durch einen von Politik mit geprägtes Wahlsystem, und dann dort Menschen sind, die über ihre richterlichen Kompetenzen hinaus Politik mit gestalten wollen?

    Grimm: Ich will zwei Sachen dazu sagen. Das eine ist, ich fand es immer förderlich, wenn auch Richter im Gericht waren, die selber in der Politik gewesen waren und politische Erfahrungen gemacht haben. Es durften nicht zu viele sein, aber einige sind von erheblichem Nutzen. Denn was man in dem Gericht tut, ist ja dauernd, zu entscheiden über Produkte der Politik gewissermaßen, über das, was politisch entschieden worden ist. Und man sollte auch eine Vorstellung davon haben, unter welchen Bedingungen in einer Parteiendemokratie und in einem föderalistischen Land Entscheidungen getroffen werden müssen. Also, dass Politiker in das Gericht hineinkommen, finde ich überhaupt nicht vorwerfbar, es muss nur gesichert sein, dass sie den Rollenwechsel vollziehen. Es ist eben eine andere Ebene, es gelten andere Argumente, es ist ein anderes Verfahren. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass uns das System der Richterwahl, das ja Zweidrittelmehrheit erfordert für die Wahl jedes Richters, im Grunde davor bewahrt – das ist der große Unterschied zu Amerika –, das System bewahrt uns davor, dass, wie soll ich das nennen, entweder politische Aktivisten oder politische Flügelmänner und -frauen ins Gericht kommen. Also, die Zweidrittelmehrheit sorgt eigentlich dafür, dass jeder Extremismus im Gericht ausgeklammert wird.

    Detjen: Sie führt aber auch dazu, dass sozusagen die Tür in die Hinterzimmer geöffnet wird. Und das ist ja auch immer wieder ein Anlass für Kritik an diesem Wahlverfahren, zuletzt auch geäußert vom Präsidenten des Deutschen Bundestages, von Norbert Lammert, der gesagt hat, das muss und sollte doch in einer geläuterten Demokratie transparenter ablaufen, das Plenum des Bundestages etwa sollte da stärker einbezogen werden. Gäbe es für Sie hinreichend Gründe, an dem Wahlverfahren etwas zu ändern, die Öffentlichkeit etwas stärker mit einzubeziehen?

    Grimm: Ich finde das Bedürfnis, über die Position von so wichtigen Positionen mehr zu erfahren, und nicht erst, wenn die Entscheidung gefallen ist, völlig legitim. Und ein Weg wäre zum Beispiel, dass man nicht mehr den Ausschuss des Bundestages, den Richterwahlausschuss entscheiden lässt, sondern das Plenum entscheiden lässt. Dagegen hätte ich überhaupt keinen Einwand und es würde dann endlich auch klargestellt der Vorwurf, der ja dauernd in der Welt ist, eigentlich sei das ganze Verfahren verfassungswidrig, weil es heißt, der Bundestag wählt, und in Wirklichkeit wählt nur ein Ausschuss. Auf der anderen Seite sehe ich das Verfahren großer Öffentlichkeit in Amerika, wo praktisch jedes Wort, das ein Kandidat je gesprochen hat, jeder Satz, den er geschrieben hat, jede Steuererklärung, die er abgibt, jede Reisekostenabrechnung, die er gemacht hat, umgedreht wird, ob sich irgendetwas findet, mit dem man diesen Kandidaten aus dem Spiel schießen kann, und wo die Anhörungen, die oft tagelang dauern im Parlament, eigentlich Anhörungen sind, in denen es nur darauf ankommt, dass der Kandidat zwar den Mund öffnet und eine Antwort gibt, aber nichts sagt, was ihm nachher schaden kann, das heißt also, inhaltlich nach Möglichkeit nichts sagt. Und darauf wird trainiert. So etwas würde ich mir in Deutschland nicht wünschen.

    Detjen: Nun wird in Amerika, wenn wir bei dem Vergleichsbeispiel bleiben, immer sehr genau geschaut, auch vorhergesagt, wofür steht ein einzelner Richter. Auch in Deutschland erleben wir das immer wieder, dass einzelne bestimmte Entscheidungen, Richtungsentscheidungen mit einzelnen Richterpersönlichkeiten in Verbindung gebracht werden, etwa mit den Berichterstattern, die dann im Senat für die Vorbereitung der Urteile zuständig sind. Wie groß ist da eigentlich der Einfluss eines einzelnen Richters in diesem Senat mit acht Kolleginnen und Kollegen? Wie haben Sie das erlebt?

    Grimm: Ich habe immer empfunden – und das war gerade das, was mich so angenehm überrascht hat –, dass es kein Durchwinken gab. Der Berichterstatter legt den Kolleginnen und Kollegen ein Votum vor, in dem der Fall geschildert wird, in dem gesagt wird, was in der wissenschaftlichen Literatur dazu bisher geschrieben ist, indem eventuell gesagt wird, wie solche Fälle im Ausland entschieden werden, und er macht einen Entscheidungsvorschlag. Aber jedes Mitglied des Gerichts hat das gesamte Material. Also, die anderen Richter sind nicht auf dieses Votum des Berichterstatters angewiesen und sie haben in der Regel das ganze Material gelesen. Das heißt, sie bilden sich bei der Vorbereitung auf den Tag, wo man verhandelt, über einen Fall eine Meinung und kommen mit einer Meinung. Es gibt nicht die Situation, wo dem Berichterstatter einfach nur, wenn er noch mal kurz sein Votum erläutert hat, ein Nicken begegnet im Beratungssaal. Das fand ich gut und befriedigend und notwendig, und das Gericht würde seine Aufgabe nicht erfüllen – das wäre ja praktisch ein Ein-Mann-Gericht –, wenn der Berichterstatter sich immer durchsetzen könnte. Ich habe sogar erlebt – ich weiß nicht, ob das unter das Beratungsgeheimnis fällt oder nicht, aber wenn ich keinen Namen nenne, fällt es vielleicht nicht darunter –, ich habe sogar erlebt, dass Berichterstatter aufgrund der Diskussion gesagt haben, ich halte meinen Vorschlag nicht aufrecht und schließe mich den Überzeugungen von X und Y an. Ich denke, dass das zu der Gewähr für die Qualität des Gerichts gehört, dass diese Diskussion möglich ist.

    Grimm: "Was bleibt, ist die Notwendigkeit für eine demokratische Gesellschaft, dass es Medien gibt, die einen in die Lage versetzen, seine Lage zu erkennen und sich eine Meinung dazu zu bilden. Das, denke ich, ist nach wie vor unerlässlich."

    Medienwandel, Meinungsfreiheit und die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
    Detjen: Wir sprechen, Herr Professor Grimm, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, im Deutschlandfunk miteinander. Das Rundfunkrecht gehörte zu Ihrem Zuständigkeitsbereich, Artikel fünf des Grundgesetzes. Das ist einer der Bereiche unserer Verfassung, der ganz besonders durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt worden ist, unser Verständnis vom staatsfernen, öffentlich-rechtlichen Rundfunk, das duale System, das Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern, das alles beruht ganz wesentlich auf richterlichen Vorstellungen und Maßgaben. Heute leben wir in Zeiten eines enormen Medienwandels, taugt dieser alte Rundfunkbegriff, mit dem Sie noch operiert haben im Bundesverfassungsgericht, eigentlich noch heute, um Rundfunk, um Medien zu gestalten richterlich?

    Grimm: Vielleicht hält er noch ein paar Jährchen und hilft uns, mehr oder weniger gut mit der neuen Lage zurechtzukommen. Aber ich finde, dass die Veränderungen dramatisch sind. Die alten Grenzen, die wir alle hatten und unter denen auch die Maßstäbe für die bisherige Gestaltung des Mediensystems entfaltet worden sind, diese alten Grenzen lösen sich immer mehr auf. Es löst sich die Grenze zwischen Printmedien und elektronischen Medien auf, es löst sich die Grenze zwischen Rundfunk und Internet auf, es lösen sich auf der Geräteebene die Grenzen auf, es ist möglich, mit einem Gerät außerordentlich viel Kommunikationsweisen zu beherrschen. Das alles wird weitergehen, wir sind ja damit keineswegs am Ende. Was bleibt, ist die Notwendigkeit für eine demokratische Gesellschaft, dass sie hinreichende Möglichkeiten hat, sich über ihre Situation zu informieren, dass es Medien gibt, in denen die Argumente ausgetauscht werden, die zur Verfügung stehen, die Gesichtspunkte, dass es Medien gibt, in denen man nicht immer nur von seiner Lage abgelenkt wird und in Rosa gehüllt wird, sondern dass es Medien gibt, die einen in die Lage versetzen, seine Lage zu erkennen und sich eine Meinung dazu zu bilden. Das, denke ich, ist nach wie vor unerlässlich. Das ist das Ziel des Artikel fünf und an dem Ziel können alle Veränderungen im Medienbereich nichts ändern. Was sich ändern muss, ist die Frage, wie man dieses Ziel unter veränderten Bedingungen umsetzt. Das ist für mich schwer absehbar, wie das geschehen soll. Es ist schwer absehbar, ob es, sagen wir mal, in zehn Jahren noch ein öffentlich-rechtliches Vollprogramm gibt, und das Vollprogramm ist natürlich schon ein wichtiger Ansatzpunkt gewesen. In diesem Programm musste der Rundfunkauftrag erfüllt werden. Das heißt, in dem Programm durfte es nicht nur Unterhaltung geben, sondern da musste es eben auch Bildung und Information und Auseinandersetzung geben. Wenn wir es – das ist eines der möglichen Szenarien – überhaupt nur noch mit Spartenprogrammen, 300, 400 Spartenprogrammen zu tun haben, dann kann man das Ziel von Artikel fünf nicht mehr über ein Vollprogramm erfüllen. Das sind Fragen, die sich stellen werden. Aber ich sehe nicht genau ab, wie das Mediensystem künftig aussehen wird. Ich glaube auch, die meisten anderen sehen es ebenfalls nicht.

    Detjen: Sie haben den Rundfunk als Richter am Bundesverfassungsgericht beurteilt, Wegweisungen getroffen. Sie haben das System dann auch aus einer ganz anderen Perspektive kennengelernt, nämlich nach Ihrer Zeit am Bundesverfassungsgericht, als Mitglied des ZDF-Verwaltungsrats. Der steht jetzt selber wiederum auf dem Prüfstand Ihrer Nachfolgerinnen und Nachfolger in Karlsruhe, wir erwarten eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit der Zusammensetzung, mit der Staatsferne, mit der Politikferne der Gremien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschäftigt. Wie haben Sie das aus Ihrer eigenen Perspektive, aus Ihren Erfahrungen erlebt, gibt es da Korrekturbedarf?

    Grimm: Es geht hier bei dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf der einen Seite darum, dass er nicht vom Staat kontrolliert werden darf, denn der Staat ist sozusagen das Objekt der Berichterstattung des Rundfunks und auch der Kritik durch den Rundfunk. Das heißt, der Staat darf nicht dominant werden. Auf der anderen Seite kann der Rundfunk nicht unkontrolliert bleiben. Und deswegen die Idee, die als Idee eigentlich wunderbar ist: Dann lässt man die Gesellschaft selber, vertreten durch ihre relevanten Kräfte, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kontrollieren. Und zu relevanten Kräften gehört natürlich auch die Politik und gehören die politischen Parteien, deswegen kann man sie nicht von vornherein ausschließen. Ob es Rundfunkanstalten gibt, in denen das politische Gewicht übermäßig vertreten ist, das wird das Verfassungsgericht sagen. Das ZDF ist sicherlich ein Kandidat dafür und sein Verwaltungsrat ist auch ein Kandidat dafür, dass da das Gewicht zu groß sein könnte. Aber das eigentliche Problem sehe ich darin, dass sich diese sogenannten relevanten gesellschaftlichen Kräfte in aller Regel freiwillig hinter den politischen Parteien zusammenfinden. Der Einfluss, der unmittelbare Einfluss der Parteien ist gering, weil ihre Vertreter in einer – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen –, in einer verschwindenden Minderheit sind. Die könnten dauernd überstimmt werden. Also, der Fehler des Systems ist, dass die Vertreter der gesellschaftlichen Kräfte sich hinter Parteien verschanzen, weil sie sich offenbar von den politischen Parteien mehr Gewicht für ihr jeweiliges Interesse versprechen. Dann sind also die Gewerkschaften tendenziell hinter den Medienrats-, Rundfunkratsvertretern der SPD, dann sind vielleicht die Unternehmer traditionell und ihre Vertreter hinter denen der CDU. Und dadurch wird das an sich gut ausgedachte System unterlaufen. Wie man das ändert, ist eine Frage, die ich mir lieber nicht stelle, weil ich keine Antwort darauf habe.

    Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, vom Verblassen eines großen Vorbildes.


    Detjen: Ich würde, Herr Professor Grimm, schon gegen Ende unseres Gesprächs noch mal auf die USA zurückkommen, das ist immer ein wichtiger Bezugspunkt Ihrer Arbeit gewesen, Sie waren Mitte der 60er-Jahre als Student in den USA in Harvard, waren als Wissenschaftler viel in Princeton, sind es auch heute noch. Wir haben über den Supreme Court in den USA gesprochen, das amerikanische Verfassungsrecht war immer ein ganz wichtiger Bezugspunkt, auch ein Vorbild für deutsches Verfassungsrecht. Die stehen aber jetzt selber sehr stark in der Kritik, viele von Ihren Kollegen sagen, das hat einen enormen Qualitätsverlust erlitten auch durch die Politisierung des Supreme Court in den Vereinigten Staaten. Beurteilen Sie das ähnlich?

    Grimm: Da ist schon was dran. Also, zunächst mal, denke ich, wird man sagen müssen, dass Amerika lange Zeit das große Vorbild war. Es war ja auch fast 150 Jahre lang das einzige Land mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit, wir hatten ja keine, und kein europäisches Land hatte das. Sodass die Verfassung dort allein aufgrund dieser Tatsache eine ganz andere Rolle spielte als in Ländern ohne Verfassungsgerichtsbarkeit. Das hat sich jetzt bei uns geändert und nun kommt die Frage, ist es immer noch ein großes Vorbild? Interessant war für mich zu erleben, was sich abgespielt hat in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt, nachdem sich viele Länder, viele Völker von ihren diktatorischen oder rassistischen Systemen, autoritären Systemen befreit haben. Das begann um 1975 mit Spanien und Portugal und hat dann ja einen Höhepunkt erreicht beim Zusammenbruch des Kommunismus. All diese Länder haben sich neue Verfassungen gegeben, fast alle, fast alle haben Verfassungsgerichte eingerichtet. Und wo haben sie hingeblickt: nicht nach USA, sondern zum großen Teil nach Deutschland. Das ist die Zeit, als ich in Karlsruhe war, wo sich eine Delegation nach der anderen die Türen in die Hand gegeben haben, um zu gucken, wie macht man das in Deutschland. Und das hat etwas damit zu tun, dass das amerikanische System schon sehr amerikanisch ist, das heißt, für die Erfahrungen und die Befindlichkeiten und die Zustände dieses Landes ein gutes System sein mag, aber nicht für ein Land, das gerade den Kommunismus hinter sich hat und in einer Transformationsphase sowohl zur Marktwirtschaft wie zur Demokratie ist. Also, deswegen, denke ich, muss man das differenziert sehen. Und dann kommt der Punkt, den Sie erwähnen: Durch das Wahlsystem der Verfassungsrichter in Amerika – der Präsident ernennt und der Senat darf Nein sagen, aber er hat keine Möglichkeit, Personen auszuwählen –, das System hat dazu geführt, dass der amerikanische Supreme Court hochgradig politisiert ist. Das amerikanische Gericht ist ein weniger aktivistisches Gericht als das Bundesverfassungsgericht, aber es ist ein höher politisiertes Gericht. Und nun gibt es auch da viele Entscheidungen, die unkontrovers fallen, das sind dann eben Entscheidungen, die wenig politisches Gewicht haben. Bei Entscheidungen von politischem Gewicht erleben wir routinemäßig Fünf-zu-vier-Entscheidungen. Und jeder schreibt dann, jeder der vier schreibt dann eine abweichende Meinung. Und das ist nicht bekömmlich. Und in Amerika wächst die Sorge, dass das Gericht seinen Ruf und aber auch seinen befriedenden Einfluss auf die Politik verlieren könnte, wenn es doch eigentlich nur noch eine Fortsetzung der Politik ist. Und das, finde ich, ist das Allerwichtigste für den Erfolg eines Verfassungsgerichts, es darf nicht eine Fortsetzung der Politik sein, sondern es muss nach Maßstäben und nach Diskussionsstil und nach Argumenten, die verwendet werden, etwas anderes sein. Das heißt gleichzeitig, dass es nie die Politik ersetzen kann, aber kontrollieren auf verfassungsrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit, das schon!

    Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Dieter Grimm im Gespräch mit Stephan Detjen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.