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Die Plackerei vom Glück des Nichtstuns

Begriffe wie Runterkommen und Entspannen stehen in Zeiten von steigendem Arbeitspensum, Beschleunigung und Burn-out hoch im Kurs. Und da kommt für viele auch immer wieder die Sehnsucht nach dem Nichtstun auf. Zwei Neuerscheinungen zum Konzepte der Faulheit und dem Phänomen des Nichtstuns.

Von Cordula Echterhoff | 30.07.2012
    Was wäre das schön: Den ganzen Tag nichts tun. Faul sein für immer, sich der Muße hingeben. Es ist ein Traum, den die Menschheit träumt, seitdem sie aus dem Paradies vertrieben wurde. Doch eines übersieht sie dabei gerne: Gott setzte den Menschen in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte, wie es in der Bibel heißt. Auch im Paradies musste gearbeitet werden, betont der Germanist Manfred Koch:

    Adam und Eva waren nicht faul, sie leisteten – modern ausgedrückt – unentfremdete Arbeit. Und da sie von keiner Anstrengung wussten, auch in Sachen Arbeit noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, verfügten sie über keinen Begriff von Entspannung. Sie lebten schlicht, eins mit sich und ihrer Tätigkeit. Der Fluch der Arbeit, das lehrt diese alte Geschichte, liegt wesentlich auch in der durch den Sündenfall erworbenen Fähigkeit zu "unterscheiden", und damit in Phasen der Plackerei vom Glück des Nichtstun zu träumen.

    Manfred Koch hat der Faulheit, dieser "schwierigen Disziplin", wie es im Untertitel heißt, ein Buch gewidmet und durchstreift die Geistesgeschichte nach Mythen und Konzepten vom Nichtstun. Es sind genussvolle Träume, die er zusammengesammelt hat; fast alles Gegenentwürfe zu den Normen der jeweiligen Zeit. Da gibt es das Arkadien des römischen Dichters Vergil, in dem die Hirten ein musisch-kreatives Künstlerleben führen oder das Motiv des Schlaraffenlandes, in dem manchmal sogar Möbel vom Himmel regnen. Da gibt es Diogenes, den Philosophen in der Tonne, der sich der allgemeinen Geschäftigkeit verweigert und damit Sozialkritik übt oder Julius, den Helden in Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang, der Fleiß und Nutzen anprangert, und mit seinem Lobgesang auf die "gottähnliche Kunst der Faulheit" doch höchst produktiv ist. Entscheidend aber für unseren negativ-konnotierten Begriff von Faulheit ist die Erfindung des "fleißigen Menschen", wie der Autor herausstellt:

    Bis in die Neuzeit hinein war Nichtarbeit kulturell höher angesehen als Arbeit. Historiker sprechen von einer jahrtausendelang bestehenden Mußepräferenz. Sie verschwand mit der Durchsetzung jener neuen, kapitalistischen Wirtschaftsethik, in der, erstmals in der Geschichte die ständige Steigerung der Erträge als das wichtigste ökonomische Ziel gilt.

    Es beginnt ein großer Umerziehungsprozess, an deren Ende die "totale Verinnerlichung der Arbeitsmoral" steht. Ist die Arbeit erst einmal das Maß aller Dinge, so wird Faulheit zur unverzeihlichen Leistungsverweigerung, die nur dann gestattet ist, wenn sie als kleine Zwischeneinheit im Arbeitsrhythmus auftritt. Was in den Klöstern mit einem klar geregelten "Ora et labora" – bete und arbeite – begann, setzte sich im industrialisierten Zeitalter fort, schreibt der Autor:

    Das Leben des erwachsenen, leistungsfähigen Menschen besteht seitdem aus Arbeitszeit und Freizeit. Freizeit ist dabei der Arbeit funktional zugeordnet, sie ist der Jungbrunnen für die erschöpfte Arbeitskraft. In diesem Zusammenhang ist Faulheit erlaubt, ja sogar empfehlenswert – freilich nur für eine begrenzte Anzahl von Stunden. Ist die Arbeit anstrengend, besteht oft geradezu eine Nötigung zum intensiven Faulsein, zum Versinken in einer, wie man meint, erholsamen Apathie.

    Eine erholsam anmutende Form der Apathie beschreiben die beiden schwedischen Ethnologen Billy Ehn und Orvar Löfgren in ihrem Buch über das "Nichtstun". Darin schildern sie einen alten schwedischen Brauch: das "halla skymning", was so viel heißt, wie "die Dämmerung abhalten". Früher war es in Schweden üblich, dass sich in der Stunde des Zwielichts die ganze Familie in der Küche versammelte und schweigend zusammensaß, bis das Licht schwand und sich die Dunkelheit gelegt hatte. Ein wunderbar kontemplatives Ritual. Solche Passagen sind es, die das Buch anrührend machen, das die Schweden dem Ereignislosen und Flüchtigen gewidmet haben, wie sie schreiben.

    Wir wollen verstehen, was sich abspielt, wenn Menschen sich von der Aussicht, nichts zu tun, angezogen oder abgestoßen fühlen, wenn sie geduldig oder wütend warten, wenn sie alltägliche Routinen geistesabwesend erledigen und in mehr oder weniger abstrusen Tagträumen die Realität fliehen. Uns interessiert ebenfalls, wie diese Tätigkeiten miteinander zusammenhängen könnten und wie sie sich in verschiedenen kulturellen Kontexten entwickelt und verändert haben.

    Die Wissenschaftler liefern eine Ethnografie des Nichtstuns. Sie haben Feldforschung betrieben, haben beobachtet und befragt und Literatur hinzugezogen. Es ist als, ob man Menschen wie Ameisen unter einem Brennglas betrachtet. Mit Distanz blickt man auf die, die sich eben nicht bewegen und entdeckt dabei kulturelle Verhaltensmuster. Die Weisen des Nichtstuns verraten etwas über unsere Zeitkonzepte und Leistungsvorstellungen, spiegeln Hierarchien und Geschlechterverhältnisse. Das gelungenste Kapitel ist das über den Tagtraum. Hier zeigt sich das ganze Potenzial des Nichtstuns. Denn selbst wenn der Körper immobil ist, kann der Geist doch alles tun. Reisen, Grenzen sprengen, sich alternative Welten ausmalen und Revolutionen vorbereiten. Das Buch der Schweden ist ein Sommerbuch. Man kann darin herumflanieren und charmante Momente sammeln. Auch wenn es oft sehr deskriptiv ist und man sich immer wieder Abstecher in eine vertiefende Ideengeschichte wünscht. Die tiefere Frage hinter der Faulheit stellt dafür der Germanist Manfred Koch in seinem Buch "Faulheit" zusammen mit Immanuel Kant. Wie wird man glücklich im Leben? Nicht, wenn man ausschließlich nichts tut, sagen beide. Erst in der Tätigkeit fühlen wir unser Leben, sagt Kant, und kommt zu dem Schluss: Wir brauchen einen Rhythmus von Arbeit und Nichtstun. Und auch wenn Kants Lehre von einer strengen Arbeitsmoral geprägt ist, ist seine Schlussfolgerung doch hoch-aktuell meint Manfred Koch.

    Dass wir durch eine grundlegende Änderung der westlichen Lebensweise in naher Zukunft der Beschleunigungsfalle entkommen, ist keine realistische Aussicht. Umso wichtiger bleibt es, das Unbehagen an der modernen Zivilisation der Ungeduld Ernst zu nehmen und wenigsten die individuelle Vor-Sorge um sich zu betreiben. Ein "regime de paresse", eine Faulheitsdiät tut mehr denn je not. Ihre Zusammenstellung ist Sache jedes Einzelnen. Verbindliche Rezepte und Heilsgarantien gibt es nicht. Insofern verlangt eine solche Faulheits-Diätetik auch ein gerütteltes Maß an experimenteller Lust und Selbst-Disziplin. Aber die Anstrengung lohnt sich.

    Das Buch von Manfred Koch ist wunderbar erhellend. Es wirft einen umfassenden Blick auf die Faulheit und fächert wie beiläufig Zeitkontext und Mentalitätsgeschichte auf; spannt einen Bogen vom Paradies bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen. Schade, dass er die Verantwortung für die richtige Taktung von Arbeit und Muße nur dem Individuum zuschreibt. Und schade, dass er ein so genussvolles Buch so didaktisch beendet. Deshalb soll das letzte Wort hier "dem faulen Heinrich" aus Grimms Märchen gehören. Als er einmal die Ziegen aufs Feld führte, sagte er lakonisch und ganz undidaktisch:

    Es geschieht bloß, damit mir die Ruhe hernach desto besser schmeckt; man verliert sonst alles Gefühl dafür.

    Manfred Koch:
    Faulheit. Eine schwierige Disziplin, zu Klampen Verlag, 157 Seiten, 19,80 Euro
    ISBN-13: 978-3-866-74169-0

    Billy Ehn/Orvar Löfgren:
    Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen, Verlag Hamburger Edition, 300 Seiten, 24,00 Euro
    ISBN-13: 978-3-868-54240-0