Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Die planen die Wiedereinsetzung eines Wiener Kongresses in Brüssel"

Der sozialdemokratische Europapolitiker Martin Schulz kritisiert die Pläne zur Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung, die "hinter verschlossenen Türen" Entscheidungen treffe. Man könne mit dem Druck der Märkte vieles begründen, nicht aber die Abschaffung des Parlamentarismus in Europa.

Martin Schulz im Gespräch mit Peter Kapern | 13.10.2011
    Peter Kapern: Am Montag hat EU-Ratspräsident Herman van Rompuy wissen lassen, dass der EU-Gipfel, auf dem ein umfassender Vorschlag zur Lösung der Schulden- und Bankenkrise präsentiert werden soll, um eine Woche auf den 23. Oktober verschoben wird. So lange brauchen die Regierungen der Mitgliedsstaaten wohl noch, um das Maßnahmenpaket zu bündeln, und da soll ja eine ganze Menge drin stecken: eine Vereinbarung darüber, wie genau der erweiterte Euro-Rettungsschirm funktionieren soll, vielleicht sogar Absprachen über eine Umschuldung Griechenlands, die immer mehr Politiker für unausweichlich halten. Und schließlich sollen in dem Paket auch Vorschläge für eine Reform der EU-Verträge stecken, in denen gewissermaßen die gesamte Funktionsweise der Europäischen Union und ihrer Institutionen festgelegt sind. Wie genau diese Vorschläge für eine Vertragsänderung aussehen werden, das weiß noch niemand so genau, aber immerhin: Es gibt einige Hinweise, zum Beispiel die Verabredung von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Sarkozy, so etwas wie eine Wirtschaftsregierung der Euro-Staaten einzurichten, mit eigenen Gipfeltreffen und Ratspräsident van Rompuy an der Spitze der Euro-Gruppe. Frankreichs Außenminister Juppé hat diese Vorschläge gerade noch einmal untermauert. Zwei Europaabgeordnete der CDU, Elmar Brok und Werner Langen, scheinen durch die Pläne alarmiert zu sein. Sie haben gewissermaßen ein Gegenkonzept vorgelegt, mit dem sie sicherstellen wollen, dass das Europaparlament und die Kommission nicht im Zuge der Vertragsänderung an Einfluss verlieren.
    Bei uns am Telefon ist nun Martin Schulz, der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament. Guten Morgen!

    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Kapern.

    Kapern: Herr Schulz, beginnen wir mit Alain Juppé, den wir da gerade gehört haben. Stimmen Sie ihm zu, dass die EU mit ihren Institutionen, so wie sie derzeit aufgestellt sind, für Krisen wie die Finanzkrise einfach zu langsam ist?

    Schulz: Ich stimme zu, dass die EU schlecht aufgestellt ist, unter anderem, weil Frankreich eine katastrophal schlechte Regierung hat, zu der Herr Juppé ja gehört, und Europa wäre gut aufgestellt, wenn die Europäische Union nicht irre werden müsste an den Regierungen der Euro-Staaten. Das ist ein Zitat, das ich Ihnen gerade genannt habe, von Jean-Claude Juncker gestern als Titel über einem Interview im Handelsblatt, die Menschen werden irre an ihren Regierungen. Ich habe mir den Beitrag Ihrer Kollegin gerade angehört, ich habe mir die Zitate von Herrn Juppé angehört. Was die von uns verlangen, ist zu akzeptieren, weil die Märkte so schnelles Handeln verlangen, schaffen wir die Demokratie ab in Europa, und da kann ich Ihnen eines zu sagen: nicht mit uns, sicher auch nicht mit mir. Sollte ich Präsident des Europaparlaments werden – dafür kandidiere ich im Januar -, stößt das auf meinen energischen Widerstand. Und was Herrn Juppé angeht, der ist, glaube ich, ab Mai nächsten Jahres nicht mehr Außenminister.

    Kapern: Das heißt also, wenn jetzt Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, der französische Staatspräsident, Vertragsänderungen ankündigen, dann klingt das in Ihren Ohren eher wie eine Drohung?

    Schulz: Eben das klingt wie eine Bedrohung für die Parlamente, und zwar für den Deutschen Bundestag wie für das Europäische Parlament. Ich versuche, das mal vereinfacht auszudrücken, was die planen. Die planen die Wiedereinsetzung eines Wiener Kongresses in Brüssel. Alle halbe Jahre kommen 17 Regierungschefs hier zusammen, tagen hinter verschlossenen Türen, teilen anschließend ihren erstaunten Untertanen mit, worauf sie sich meistens nicht verständigt haben, und das nennen sie Wirtschaftsregierung. Ich meine, wir leben nicht in Zeiten des Feudalismus. Menschen sollen, Steuerzahlerinnen und Steuerzahler - über Milliarden, Hunderte Milliarden sollen die Banken zum Beispiel bekommen, nachdem sie sich verspekuliert und verzockt haben -, in ihre Taschen greifen, das zur Verfügung stellen, und das unter Ausschluss des Parlamentarismus auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene. Also das wird auf keinen Fall gehen. Aber das ist das, was Nicolas Sarkozy insbesondere, aber offensichtlich auch Angela Merkel billigend in Kauf nehmen will. Ich habe gesehen, dass das ja auch selbst in den eigenen Reihen in der CDU auf massiven Widerstand stößt, bei uns Sozialdemokraten in jedem Fall.

    Kapern: Das heißt, wir brauchen überhaupt keine Vertragsänderungen?

    Schulz: Wir haben eine Wirtschaftsregierung in Europa, das ist die Kommission. Für alle im EU-Vertrag vorgesehenen exekutiven Maßnahmen ist die Kommission zuständig. Und der Euro ist ein Teil des europäischen Vertragswerkes. Es wird ja immer so getan, als hätte der Euro mit der Europäischen Union gar nichts zu tun, als könne man da so eine Parallelstruktur schaffen. Der Euro und die Stabilitätskriterien um den Euro, dem sogenannten Maastricht-Kriterium – die sind ja im Maastrichter Vertrag über die EU festgeschrieben worden, der Grundlage aller weiteren Verträge war -, dafür gibt es eine exekutive Institution, das ist die Kommission. Die ist auch nicht hundertprozentig parlamentarisiert, aber immerhin hat sie den Vorteil, dass ihr Präsident und die einzelnen Kommissare durch das Europaparlament gewählt und übrigens auch abgewählt werden können. Herr Barroso hat ja gestern als Kommissionspräsident hier noch mal klar gemacht, dass er unter keinen Umständen bereit ist, da einen Millimeter zurückzuweichen. Da hat er auch das Parlament auf seiner Seite. Und was den Herrn van Rompuy, der da immer vorgeschoben wird, angeht: Herr van Rompuy ist selbst gar kein Regierungschef, das ist der Vorsitzende einer 17-köpfigen Runde von Regierungschefs, die sich anmaßen, alleine hinter verschlossenen Türen über das Schicksal von 320 Millionen Europäerinnen und Europäern in der Euro-Zone zu entscheiden, unter Vorsitz eines Sitzungspräsidenten, der dann als EU-Präsident verkauft wird. Ich meine, man kann unter dem Druck der Märkte vieles begründen, aber nicht die Abschaffung des Parlamentarismus in Europa.

    Kapern: Aber noch mal nachgefragt, Herr Schulz. Sie sind gegen jegliche Vertragsänderungen, oder?

    Schulz: Nein, nein! Ich bin für Vertragsänderungen. Aber ich bin dafür, dass das Gewaltenteilungsmodell, das Grundlage unserer modernen Demokratie ist, dass es eine mächtige Exekutive gibt, die eingesetzt wird durch ein Parlament und auch durch ein Parlament abgesetzt werden kann, dass dieses Modell nicht mit der Begründung, die Märkte verlangen schnelles Handeln, abgeschafft wird. Also wir brauchen Vertragsänderungen, ja, aber wir brauchen sie unter Wahrung der demokratischen Mindeststandards, und da habe ich den Verdacht, das geschieht nicht.

    Kapern: Sie haben eben gesagt, die Kommission sei ja im Prinzip schon die Wirtschaftsregierung Europas. Aber wie steht es denn um die demokratische Legitimation dieser Kommission, die sich ja auch keinen direkten Wahlen stellen muss?

    Schulz: Die Kommission ist durch das Europäische Parlament eingesetzt. Da bin ich jetzt erstaunt über Ihre Frage. Ich kann mich, glaube ich, daran erinnern, Herr Kapern, dass wir beide ...

    Kapern: Ich habe von direkten Wahlen gesprochen, Herr Schulz.

    Schulz: Ja, die Bundesregierung wird auch nicht über Direktwahlen eingesetzt, sondern durch ein Votum des Deutschen Bundestages.

    Kapern: Das ist richtig. Aber ich habe das eingeworfen, weil Elmar Brok und Werner Langen in ihrem Papier vorschlagen, zukünftig den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen, spätestens ab dem Jahr 2020.

    Schulz: Tut mir leid, da muss ich Sie korrigieren. Die haben verlangt, dass das Amt des Herrn van Rompuy und des Herrn Barroso zusammengelegt werden soll in ein neues, zu schaffendes Amt, und das soll dann durch Direktwahlen in Europa gewählt werden. Das ist eine Zukunftsvision. Ich hatte bisher unser Gespräch so verstanden, dass wir über die aktuellen Vorschläge, die auf dem Tisch liegen sollen, von den Staats- und Regierungschefs reden. Noch mal: Die Kommission – und das war ja Ihre Frage – ist ein durch das Europäische Parlament eingesetztes Exekutivorgan, ich wiederhole, das auch durch das Europaparlament abgewählt werden kann. Wenn es in diesem ganzen Konzept hier in Brüssel überhaupt, Herr Kapern, eine einigermaßen, ich betone nicht vollständig, sondern einigermaßen demokratisch legitimierte Handlungsebene für die EU-Angelegenheiten gibt, also nicht für die nationalen Angelegenheiten – jede nationale Regierung ist voll parlamentarisiert -, aber für die EU-Angelegenheiten, dann ist es die Kommission und das Europäische Parlament. Und ich glaube, jeder wird verstehen können, dass zur Sicherung von Transparenz, zur Sicherung auch von demokratischer Legitimiertheit wir bei den Institutionen der EU eines vorabstellen müssen, allem voran: eine Stärkung der parlamentarischen Ebene in Europa, also des Europaparlaments. Und was ich sehe ist das Bemühen von Regierungschefs, das nicht zu tun!

    Kapern: Kann das Parlament dies verhindern?

    Schulz: Wir werden alles mobilisieren, ich persönlich in jedem Fall, um vor allen Dingen auch unsere Kolleginnen und Kollegen in den nationalen Parlamenten als Partner zu gewinnen. Wir ratifizieren die Verträge im Europaparlament nicht, aber die nationalen Parlamente ratifizieren sie, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Abgeordnete nationaler Parlamente zulassen, dass es Globalermächtigungen für ihre Regierungen in Brüssel gibt, ohne dass sie sich dafür in Brüssel parlamentarisch verantworten müssen. Dazu, glaube ich, sind zwischenzeitlich auch die Kollegen in den nationalen Parlamenten zu sensibilisiert.

    Kapern: Der Generalsekretär der CDU, Hermann Gröhe, hat gestern in einem Interview gesagt, er sei der Meinung, dass die notwendigen Vertragsänderungen binnen eines Jahres umgesetzt werden könnten. Ist das nicht angesichts der Erfahrungen mit dem Lissabon-Vertrag zu optimistisch?

    Schulz: Ja da war ich auch erstaunt, was der Herr Gröhe da gesagt hat. Da würde ich ihm auch empfehlen, mit ein paar konservativen Regierungschefs in Europa zu reden, zum Beispiel mit dem Ministerpräsidenten der Niederlande, Herrn Rutte, dessen Minderheitsregierung von einem offenen Antieuropäer namens Wilders abhängt, oder er soll mal mit David Cameron reden, ob die da so schnell die EU-Verträge ändern. Wenn Herr Gröhe da einen Optimismus verbreitet, der von Frau Merkel über ihn verbreitet wird, dann wäre das ein gutes Signal, denn wir brauchen diese Vertragsänderung und wir brauchen sie schnell. Ich habe aber den Eindruck, dass das eher der Wunsch des Herrn Gröhe ist. Ich will auch noch mal eines sagen, Herr Kapern: Es geht einfach auch nicht an, dass man mit dem Argument, die Märkte, wer auch immer das sein mag, verlangen schnelles Handeln und deshalb müssen wir jetzt die Verträge im Schnelldurchgang ändern, man kann so mit den demokratischen Institutionen nicht umgehen. Vertragsänderungen in Europa könnten zum Beispiel auch Änderungen des Grundgesetzes nach sich ziehen. Glauben wir denn, dass man dann im Bundestag und im Bundesrat sagt, ja passt mal auf, Leute, die Märkte wollen das, jetzt beeilt euch mal, setzt hier mal alle Verfahren außer Kraft. So wird das nicht gehen. Deshalb schnelles Handeln in der Reaktion auf wirtschaftliche Entwicklungen ja, aber wenn es darum geht, das demokratische Konstrukt in Europa zu verändern, muss man sich Zeit nehmen für Sorgfalt.

    Kapern: Martin Schulz war das, der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament. Herr Schulz, danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schulz: Danke Ihnen, Herr Kapern.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.