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Die Poetik des Sinnlichen

Vier Jahre saß der Autor Liao Yiwu als politischer Gefangener in einem chinesischen Gefängnis. In seinem Bericht schildert der Dichter Folter und drastische Einzelheiten des Lebens in drangvoller Enge - und findet zu einer Poetik des Sinnlichen.

Von Martin Zähringer | 25.07.2011
    Als Liao Yiwu jetzt zur Premiere seines neuen Buches nach Deutschland reiste, war für ihn zunächst einmal eine Zeit der Existenz bedrohenden Bevormundung beendet. Als Schriftsteller darf er in China offiziell nicht arbeiten, seine Bücher sind verboten. Aber in Deutschland, den USA, in Australien und Taiwan herrscht derzeit eine große Nachfrage nach seinen Werken. Und deshalb hat sich Liao Yiwu entschlossen, sein deutsches Visum zu einem Ticketkauf zu nutzen und zu den Buchpremieren auszureisen. Das hört sich einfach an, und auch ein erstes Statement von Liao Yiwu in Berlin hört sich ganz einfach an:

    "Ich bin kein politischer Flüchtling und ich bin auch kein Exilant. Ich bin legal ausgereist, und dadurch wird meiner Rückreise nichts im Wege stehen, rechtlich gesehen. Ich habe das jetzt so gemacht, weil ich - als Schriftsteller - meine Freiheit als Autor und die Freiheit zu publizieren verteidigen will. Wie gesagt, der Rückreise steht eigentlich nichts im Wege."

    Es wird wohl so schnell nichts damit. Die Behörden hatten dem Autor strikt untersagt, sein Gefängnisbuch in Deutschland zu publizieren. Offensichtlich gilt das auch für einen im Herbst in den USA erwarteten Reportageband über Christen in China. Für Liao Yiwu beginnt jetzt also eher eine Reise in eine ungewisse Zukunft. Auch als er im Jahr 1990 inhaftiert wurde, war das der Anfang einer ungewissen Reise.

    Sie führte ihn für vier Jahre in die Gefängniswelt Chinas und hat ihn am Ende zu einem anderen gemacht. Er wurde jedoch nicht gebrochen, weder in der brutalen Untersuchungshaft noch mit dem Programm der Umerziehung durch Arbeit. Der sensible Dichter hat sich zäh und mit eisernem Willen in einem unmenschlichen Strafsystem geschlagen und seine vier Jahre abgesessen, ohne um Gnade zu betteln. Aber seinen künstlerischen Weg konnte er danach nicht mehr fortsetzen.

    Das lag durchaus an den Umständen, an der plötzlich erzwungenen und ununterbrochenen Nähe zu den Menschen. In diesem Fall zu gewöhnlichen Dieben und Räubern, Vergewaltigern und Mördern. Diese und vor allem ihre Geschichten haben den elitären Dichter zu einem Erzähler des Volkes gemacht, zu einem Chronisten der Zeitgeschichte von unten und Reporter der einfachen Sprache. In einem Interview nach seiner Ankunft in Berlin sagte Liao Yiwu:

    "Die Jahre im Gefängnis waren enorm wichtig für mich persönlich. Es gibt eine Tradition von Konfuzius bis zum großen Historiker Sima Qian, die haben damals auch ihre Rolle als Chronisten gesehen. Deshalb haben wir heute zahlreiche Überlieferungen von ganz normalen Menschen unserer Vergangenheit. Und was ich vom Gefängnis bezeugen kann, was ich gesehen und gehört habe, das sind auch Geschichten ganz einfacher, kleiner Menschen. Wenn ich sie nicht aufzeichne, sind sie in Ewigkeit vergessen."

    Liao Yiwu begann nach dem Gefängnis und seiner fortdauernden gesellschaftlichen Isolierung ein Leben als Vagabund und Boheme. Er ernährte sich vom Flötenspiel, das er im Knast erlernt hatte und war immer auf der Suche nach Geschichten. Über 300 Literarische Reportagen kamen so zustande, zum Teil von überragender Qualität, wie in deutscher Sprache in dem Band "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" nachzulesen ist. Im Untertitel heißt es dort "Chinas Gesellschaft von unten".

    Liao Yiwu hat aber auch ein Erinnerungsbuch über seine Gefängnisjahre geschrieben, und dieses könnte heißen: Chinas Gesellschaft von ganz unten. Der tiefste Punkt ist die Untersuchungshaft. Wer in der Megacity Chongqing in das Untersuchungsgefängnis kommt, dem wird zunächst einmal eine ganz besondere Speisekarte vorgesetzt. Die Tageskarte von Chongqin bietet folgendes:

    Muschel-Ellenbogen: Mit dem Ellbogen wird dem zu Bestrafenden heftig nach unten auf den Rücken geschlagen, das ist das erste Gericht für einen Neuankömmling, es gehört zu den "Aufnahmeformalitäten" im Knast.
    Bärentatzen-Tofu: Mit der flachen Hand wird dem zu Bestrafenden fortgesetzt heftig gegen die Brust geschlagen.
    Beidseitig in Öl bräunen: Zwei Killer schlagen dem zu Bestrafenden gleichzeitig mit der flachen Hand gegen Brust und Rücken (Strafe Nr.2 und Nr. 3 haben oft zum Tod geführt)


    Rachengeschnetzeltes weich, gewölbtes Schweinemaul, rot gebratene Rindernase, Mühlentofu, Sägefleisch, Lammfleischspieße scharf gewürzt – 45 solcher Rezepte hat sich Liao Yiwu gemerkt. Es sind uralte Methoden, die keiner komplizierten Instrumente bedürfen. Sie werden von den Gefangenen gegen andere Gefangene angewandt, es ist also keine Folter seitens der Gefängnisangestellten. Aber es hat Tradition und wurde geduldet, um die Gefangenenhierarchie im Gefängnis aufrechtzuerhalten, ohne die der routinierte Tagesablauf nicht zu gewährleisten wäre. Liao Yiwu sagt dazu:

    "Es gibt eine Tradition, ein ungeschriebenes Gesetz im chinesischen Gefängniswesen: Die Gefangenen durch die Gefangenen selbst unter Kontrolle halten! Es gibt in jeder Zelle einen Zellenboss, und das wird vom Wachpersonal oder den Behörden geduldet. Wenn die nicht dahinterstehen, kann das alles gar nicht geschehen. Nach diesem ungeschriebenen Gesetz wird in der Untersuchungshaft regiert."
    Liao Yiwu gehörte als politischer Gefangener, als Konterrevolutionär, weder zu der Sklaven- noch zur Herrenschicht in diesem System. Und wenn er Glück hatte, nahm ihm sogar ein Verbrecher mit Respekt vor der Dichtung das Latrinenputzen ab. Aber den elektrischen Schlagstock der Wachen, die nach hinten gefesselten Arme, die systematische Entwürdigung und Demütigung und die Rechtsbeugung der Staatsanwälte, das alles bekam auch er zu spüren.

    Liao Yiwu schildert in drastischen Einzelheiten das Leben in drangvoller Enge: Bis zu 30 Gefangene auf 20 Quadratmetern, dabei immer Todeskandidaten, die von den anderen bewacht werden müssen, um Selbstmorde zu verhindern, und ein korruptes Zellenregime mit feinsten Rangunterschieden, das systematische sexuelle Ausbeutung ebenso praktiziert wie grausame Willkür und Sadismus. Liao Yiwu beobachtet genau, hört genau zu und findet zu einer ganz eigenen Poetik des Sinnlichen:

    Der Magen eines Augenzeugen nimmt den Geschmack der Menschen um sich herum nicht durch Gedanken auf, er leckt ihn auf und kaut ihn, das geht über die Zähne, das Blut, die Knochen, aus der Erinnerung an den Zeitgeschmack gärt der verdorbene Geschmack der Erinnerung an die vergangenen Zeiten heraus. ... Motto meiner Schreiberei ist: "Auf einem Schwein wachsen Borsten."

    Es versteht sich von selbst, dass die Schweineborsten nicht gut schmecken. Die Zustände in den regulären Gefängnissen Chinas, wie sie dieser Autor hier ungeschminkt in seinem Kassiber an die Welt öffentlich macht, sind jenseits aller Humanität. Die Menschenrechte sind offensichtlich auch in Haft. Was aber die eigentliche Qualität dieses Berichtes ausmacht, ist die Darstellung einer ganz besonderen menschlichen und künstlerischen Reifung, eine persönliche Beweisführung der Menschlichkeit gegen die Willkür des politischen Systems. In Zelle 10 des Gerichtsgefängnisses räsoniert Liao Yiwu über seine Strafe:

    Die Gesellschaft schuf sich selbst ihre Feinde, um sich dann selbst wieder zu festigen, indem sie ihre Feinde bestrafte und damit die schweigende Mehrheit in Schach hielt.
    Fatalismus?
    Hass?
    Oder irgendwelche surrealistischen Zustände, um sich allem gegenüber auch in ungewöhnlichen Situationen eine gesunde Urteilskraft zu bewahren?
    Diese Frage habe ich mir oft gestellt, aber ich glaube, diese drei Möglichkeiten stehen einem Dichter nicht zur Verfügung.


    Fatalismus und Hass kommen - bei aller Härte und Unmenschlichkeit der Erfahrung im Gefängnis - in diesem Prosatext nicht als prägende Stimmung vor. Aber auch die surrealistischen Zustände, jene der obskuren und post-obskuren Dichter Chinas vermutlich, hat sich Liao Yiwu abgeschminkt. Sein Schreiben ist jetzt nur noch auf der Spur der menschlichen Wirklichkeit, und wenn diese so widerlich ist wie das hier geschilderte Gefängnissystem in China, dann ist auch der Text dazu widerlich, abstoßend, klaustrophobisch – aber unwahrscheinlich wahr.

    Liao Yiwu: Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen
    Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
    S. Fischer 2011
    582 Seiten 24,95 Euro
    Cover: "Für ein Lied und hundert Lieder" von Liao Yiwu
    Cover: "Für ein Lied und hundert Lieder" (S. Fischer)