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"Die polnisch-deutschen Beziehungen gehören zur Welt der Wunder"

Der Staatssekretär für deutsch-polnische Beziehungen, Wladyslaw Bartoszewski, begrüßt die Entscheidung des "ZDF", nach dem in Polen heftig kritisierten Film "Unsere Mütter, unsere Väter" einen weiteren Film über die polnische Untergrundarmee zu produzieren. Keineswegs hätten Antisemiten in der Heimatarmee das Sagen gehabt.

Wladyslaw Bartoszewski im Gespräch mit Sabine Adler | 14.04.2013
    Sabine Adler: Herr Bartoszewski, dass Geschichte das Zeug hat, Nationen zu entzweien, das haben wir in dieser Woche wieder erlebt. In dieser Woche ist die Kanzlerin Angela Merkel auf dem Titelblatt einer polnischen Zeitung in KZ-Kleidung abgebildet hinter Stacheldraht mit dem Vorwurf, dass Deutschland Geschichte fälschen würde, dass Deutschland die Absicht hat, aus Tätern Opfer zu machen. Sind die deutsch-polnischen Beziehungen schon wieder so schlecht, dass solche Angriffe tatsächlich am Platze sind?

    Wladyslaw Bartoszewski: Nein, sie wären so bei der Regierung, die in Polen Gott sei Dank abgewählt wurde 2007.

    Adler: Sie sprechen über die Kaczynski-Regierung?

    Bartoszewski: Ja, ja. Deswegen hat auch der neue Ministerpräsident ein spezielles Büro geschaffen für internationalen Dialog, für den polnisch-deutschen und polnisch-jüdischen, und mit beauftragt, das zu tun. Ich habe einmal gesagt, damals als er regiert hat, wenn die Regierung länger dauert, würde ich politisch emigrieren aus Polen – emigrieren, einfach ausreisen, irgendwo anders leben. Denn hier möchte ich nicht leben in dem Staat, wo man demokratisch solche Leute wählt.

    Adler: Sie spielen an auf die Regierung Kaczynski, Sie meinen die Regierung Kaczynski?

    Bartoszewski: Ich rede über die Regierung, die in Polen Gott sei Dank demokratisch abgewählt wurde und deren Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski war.

    Adler: Noch mal zurück zu meiner Eingangsfrage. Sind die deutsch-polnischen Beziehungen tatsächlich so schlecht, wie man jetzt den Eindruck haben kann, wenn Angela Merkel in KZ-Kleidung auf einer Zeitschrift abgebildet ist? Haben Sie das Titelbild von "Uwazam Rze" selbst gesehen?

    Bartoszewski: Ich studiere sie selber sehr genau, weil – das sind gerade die Vertreter des ewig gestrigen Denkens, mit uns mit allen verfeinden, um im Endeffekt allein zu bleiben. Wir haben dies schon erlebt.

    Adler: Finden Sie, dass diese Vorwürfe also nicht berechtigt sind, also dass Deutschland Geschichte fälscht, dass Deutschland sich zum Opfer stilisiert?

    Bartoszewski: Deutschland hat 80 Millionen Bürger. Ich bin Gegner von Verallgemeinerungen jeder Art. Ich war in polnischen kommunistischen Gefängnissen – sechseinhalb Jahre unterdrückt und schlecht behandelt durch die Polen, nicht durch die Russen, nicht durch die Deutschen, sondern durch die verrückten polnischen Kommunisten. So wie viele gute deutsche Bürger ganz zufällig zwischen der Oder und der Elbe misshandelt wurden in Bautzen oder woanders in der Deutschen Demokratischen Republik. Also die hatten Honecker gehabt und wir hatten, sagen wir Bierut gehabt. Ob Honecker ein guter Deutscher war, kann man diskutieren. Ob Bierut polnischer Patriot war, diskutieren wir nicht. Wir wissen, er war kein polnischer Patriot.

    Adler: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Ereignisse in dieser Woche. Es hat in Polen sehr viel Kritik gegeben, und zwar Kritik an einem Film, der im ZDF ausgestrahlt worden ist. Und dieser Film hat polnische Protagonisten dargestellt als Antisemiten. Darf man das? Dürfen deutsche Filmemacher so etwas machen, ist die Kritik, wenn sie so was machen, berechtigt?

    Bartoszewski: Sie können alles machen, weil sie frei sind. Aber Freiheit bedeutet auch Verantwortung, und mehr Freiheit mehr Verantwortung. Die deutschen Medien sind hundertprozentig frei, Gott sei Dank. Die polnischen auch, leider. Von Zeit zu Zeit sage ich "leider", denn ich bin als Pole sehr empfindlich, wenn die Polen Unfug tun. Ich bin als Pole weniger empfindlich, wenn die Fremden Unfug tun. Ich war im deutschen nationalsozialistischen KZ, ich war in polnischen Gefängnissen. Es war für mich psychologisch viel schlimmer in polnischen Gefängnissen. Ich war unterrückt durch die eigenen Bürger. Nun, ich glaube, im ZDF hat man erstens die Möglichkeit, sich zu bedienen an Professoren oder Fachleuten, die an Ort und Stelle zugänglich sind. Deutschland ist ein großes Land mit Dutzenden Hochschulen. Ich möchte keine Namen nennen, weil das nicht meine Aufgaben ist. Wäre ich gefragt worden, hätte ich einige Namen von profilierten deutschen Professoren genannt, die objektiv gewesen wären.

    Adler: Herr Bartoszewski, Herr Minister, Sie haben während des Krieges dem Judenreferat der Londoner Exilregierung angehört, Sie haben selbst Juden gerettet. Wenn jetzt Polen in einem Film dargestellt werden als Antisemiten: Fühlen Sie sich da als Nation auch falsch dargestellt?

    Bartoszewski: Als 20-jähriger war ich in der Heimatarmee Armija Krajowa beigetreten, und das ist für mich nicht ertragbar, gerade aus dem Anlass des Jubiläumsjahres, wo man am 22. Januar dieses Jahres unter Regie von Martin Schulz – eines deutschen Politikers in Brüssel – eine Veranstaltung organisiert hat, wo ich Referent war – Pole, aus der Heimatarmee. Kein Idiot hat sich dort bei mir gemeldet wegen Angriffen gegen die Heimatarmee. Die Heimatarmee hat 350.000 Leute als Mitglieder gehabt. Bedeutet das, es gab darunter keine Halunken, kann es sein, keine Übeltäter – bei 350.000 Leuten? Das wäre so, als wenn man denken würde, in einer Stadt von 350.000 Leuten stehen alle vor der Seligsprechung. Es ist auch nicht möglich, dass unter der moralischen Krise in der Kriegszeit die Leute, die bewaffnet waren und sich im Wald versteckten, dass die alle sich immer tadellos benommen haben. Aber wenn man das verkürzt auf ein paar Minuten und nur solche Leute vorstellt, dann ist das falsch. Und die jetzige Entscheidung, wie ich gehört habe und gelesen habe – ich lese täglich die deutsche Presse –: Ich bin erfreut, dass die entschieden haben, einen kurzen Film zu machen, einen deutsch-polnischen Film über die Heimatarmee. Nach dieser Serie – es waren drei Teile – weiß kein deutscher Zuschauer, was die Israelis wissen: 7.000 polnische Namen sind als Heilige verehrt. Chassid Umot ha-Olam – das sind – hebräisch – Gerechte unter Völkern der Welt. Und Chassid ist gleichzeitig der Kluge.

    Adler: Herr Bartoszewski, Sie haben während des Krieges an einer Rettungsaktion für Juden teilgenommen. Sie haben selbst Juden gerettet. Gehören Sie zu den Gerechten der Völker?

    Bartoszewski: Nicht nur, ich bin sogar Ehrenbürger des Staates Israel – als einziger Politiker in der Welt. Und ich bin der Meinung, das bringt auch den anderen Menschen in meinem Lande vielleicht nicht Grund zur moralischen Ruhe, denn jeder soll sich für eigene Taten verantwortlich fühlen.

    Adler: Können Sie uns erzählen von den Umständen, wie Sie Juden gerettet haben? Sie selbst? Was ist damals geschehen?

    Bartoszewski: Eine katholische Schriftstellerin, Gertrud Lefort, (Anmerkung der Redaktion: gemeint ist Zofia Kossak-Szczucka, Herr Bartoszewski hat irrtümlich einen falschen Namen genannt) eine ältere Dame. Konservativ, liberal. Sie hat mich gefragt, ob ich bereit wäre – ich war damals 20, sie war älter als meine Mutter – ob ich bereit wäre ihr zu helfen bei der Flucht von Menschen aus dem Ghetto. Da hab ich gesagt: Ja, im Grunde genommen ja. Aber was kann ich tun? Sie antwortete: Das will ich dir sagen. Du wirst mir helfen, ich bin schon zu alt, um alles persönlich zu tun. Du warst schon inzwischen in Auschwitz – ich war in Auschwitz, war schon entlassen – und du kennst das Unglück der Menschen, die leiden unter dem Druck der wilden Doktrin. Das weißt du doch. Ja, ich weiß. Also, man muss helfen. Ich habe "ja" gesagt. Und was kann ein junger Mensch von 20 oder 21, der sich verpflichtet gegenüber einer bekannten, damals sehr bekannten Schriftstellerin, weiter tun? Ich habe Quartiere gesucht, ich habe geregelt, wie jemand übernachtet, ich habe mich spezialisiert in Papierfälschungen – also ich habe bis heute zusätzliche Möglichkeiten noch als Nebenberuf sozusagen. Ich habe Beziehungen zu katholischen Kreisen, zur katholischen Schule gehabt, relativ viele gute private Kontakte mit Pfarrern, mit Priestern. Diese Bekanntschaften habe ich genutzt, um Papiere zu bekommen aus Pfarrgemeinden – mit wahren Stempeln. Das der und der schon 30 Jahre vor dem Krieg Katholik war, kein Jude. Bei Frauen war das möglich, bei Kindern nicht. Bei nicht beschnittenen Herren. Oder bei Herren nach der Operationen. Solche Sachen wurden gemacht mit Hilfe der polnischer Chirurgen. Also die "Wiederbelebung" der Gestalt des Penis. Das kann man tun, auch beim damaligen Stand der Chirurgie.

    Adler: Herr Bartoszewski, wenn Sie jetzt sich erinnern, was Sie selbst getan haben, dass Sie selbst Juden gerettet haben: Wie wirkt es dann auf Sie, wenn in Deutschland, aber auch in Polen, vom Antisemitismus der Polen die Rede ist?

    Bartoszewski: Also, Antisemitismus wirkt auf mich abscheulich. Ich schlage Alarm immer dann, wenn ich sehe, wenn in meinem Lande die Auswüchse in dieser Richtung vorkommen. Die gibt es, prozentual sind sie jedoch nicht so bedeutend. Als Beispiel kann ich sagen: In keiner anderen Regierung als in der polnischen Regierung hat man so viele Leute jüdischer Herkunft, Abstammung, also mit jüdischem Bewusstsein. Zwischen Gründung der neuen Republik ab 1990 bis heute: Vier Außenminister – Juden. Und einer Ehrenbürger des Staates Israel, ich bin kein Jude. Aber bitte, zeigen Sie mir so etwas Vergleichbares in einem demokratischen Staat. In England: Malcolm Rifkind, der einstige Außenminister, in Frankreich selten, in Deutschland überhaupt nicht. Wir reden über große Demokratien. Also, es gibt Fortschritte. Die Hochschulen waren bei uns sehr anfällig vor dem Kriege für Antisemitismus und Nationalismus. Die Hochschulen jetzt sind besonders unempfindlich gegen solche Handlungen. Ebenso wie in Deutschland sind die Hochschulen - was brennend aktuell geworden ist ab 1968 in Deutschland – gegen alle extreme autoritäre Tendenzen, das sind bei uns in der neuen Republik auch so, Gott sei Dank. Deutschland muss doppelt aufpassen. Und wir auch.

    Adler: Herr Bartoszewski , in der nächsten Woche wird des 70. Jahrestages des Ghettoaufstandes gedacht. Es gibt jetzt hier im Vorfeld dieser Gedenkfeier eine Auseinandersetzung, ein Streit würde ich fast sagen, wo ein Denkmal hinzukommen soll, nämlich das Denkmal für die Polen, die Juden gerettet haben.

    Bartoszewski: Ein Denkmal für Juden haben wir aufgestellt – und das war richtig, trotz Kommunismus in Polen 1948. In dieser Stadt, die damals zu 80 Prozent vernichtet wurde, am Anfang des Wiederaufbaus. Aber das Denkmal entstand auf Ruinen. Ich war bei der Eröffnung, persönlich. Also wir haben das anfänglich gemacht, nicht ein Denkmal für andere, nur für Opfer des Ghettos, obwohl nicht wir diese Leute getötet haben. 1991 in der freien Republik haben wir uns für den Aufbau des Museums der polnischen Juden entschieden, welches jetzt im rohen Zustand fertig ist. Das Museum steht gegenüber dem Denkmal. Wenn man in Richtung Museum schaut, steht rechts ein kleines Denkmal von Willy Brandt. Was hat Willy Brandt zu tun mit dem Ghetto? Dass er dort auf die Knie gefallen ist. Es war ein Beitrag, natürlich politisch, moralisch. 1970 war das ein Beitrag von Bedeutung. Aber was war mit den Polen? War überhaupt kein Pole bedroht? Oder waren nicht Hunderttausende Leute früher umgebracht oder deportiert worden? Wurde Auschwitz gegründet für die Türken? Wer waren die ersten Opfer in Auschwitz? Polen! Wer waren in Auschwitz die ersten Zwanzigtausend?? Polen, Christen, polnische Oberschicht. Also es ist folgerichtig, wenn man dort etwas macht. Etwas, was in der Form bescheiden ist. Ich bin kein Fachmann, aber ich schätze zum Beispiel sehr die Art und Weise, wie die Amerikaner die Toten in einem sehr unglücklichen Krieg in Vietnam geehrt haben. In Washington. Schwarzer Stein, nur die Steine und die Namen der Opfer. Und nur die Namen der in Israel anerkannten Retter. Laut israelischer Forschung, nicht polnischer. Nicht irgendwelche symbolische Denkmäler, wo man sagen: Millionen. kann ja oder nein, wer waren die Leute. Und dazu gibt es auch natürlich in Polen Kreise, die möchten gerne unterschiedliche Denkmäler aufstellen. Für Millionen. Aus der rechten Ecke. Ich habe nicht die Millionen gesehen, als ich Angst gehabt habe.

    Adler: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Staatsminister Wladyslaw Bartoszewski. Herr Bartoszewski, Sie haben im Vorfeld der letzten deutsch-polnischen Regierungskonsultationen ein Denkmal gefordert in Deutschland für die polnischen Opfer.

    Bartoszewski: Ich bin dieser Meinung, weil der Krieg angefangen hat formell mit dem Vorfall von Danzig in Polen. Und ich habe damals Hass an Polen erlebt, nicht an Juden. Von den Juden war noch keine Rede, über die Polen wurde geredet. Also, das hat so angefangen, man hat die Leute verhetzt. Wenn man die unschuldigen Opfer des Homosexualismus - richtig - ehrt, dann sind die Proportionen wie ein Tropfen Kaffee und eine Kaffeeplantage. Polen und die Gruppen der Menschen, die unwürdig misshandelt und getötet wurden. Ich bin der Meinung, es wäre gut, ohne hektischen Druck, aber ruhig zu überlegen. Einige Tausende, zweieinhalb Tausend polnische, römisch-katholische Priester wurden umgebracht durch die Nazis. Die Listen sind vollständig. Im Museum Dachau gibt es verschiedene Listen mit polnischen Priestern, die in Dachau gestorben sind. Polnische Bischöfe sind gestorben von NS-Hand. Also, um Gottes Willen waren das Antifaschisten! Nein, normale Konservative, zumeist Priester, Pfarrer, Vikare, Professoren aus der Oberschicht, Ärzte, Professoren. Die Geschichte mit der Krakauer Universität, wo der italienische König sich eingesetzt hat für die Befreiung der verhafteten polnischen Professoren aus Krakau. Das sind historische Fakten. Also ich glaube: polnisches Signal, polnisches Zeichen, polnische Geschichte sollte gewürdigt werden, aber ohne solche aktuelle Jubiläumshektik. Jubiläen gibt es überall.

    Adler: Also Sie begründen dieses Denkmal mit der großen Zahl der polnischen Opfer. Verstehe ich Sie richtig?

    Bartoszewski: Mit dem großen Teil der polnischen Opfer. Polen hat im Krieg über sechs Millionen Bürger verloren. Über drei Millionen waren polnische Juden. Ich bin dieser Meinung. Wir haben von Anfang an die Juden geehrt. Das Beispiel, das ich Ihnen genannt habe in einem verwüsteten Staat.

    Adler: Es gab bei dem Marsch der Lebenden nach Auschwitz vor einigen Jahren den großen Streit in Polen, als ein Wald von Kreuzen aufgestellt wurde auf dem Territorium des Vernichtungslagers und es fing ein großer Streit an. Halten Sie es für richtig, dass die Opfergruppen sich gegenseitig Konkurrenz machen?

    Bartoszewski: Ich halte es nicht für richtig und der Meinung war auch Johannes Paul II. Er hat die Entfernung dieser Kreuze in Auschwitz veranlasst. Er, ein katholischer Papst, kein liberaler Politiker, kein Linker. Ein eher konservativer Papst. Aber ein empfindlicher Mensch und ein Zeuge der Zeit, der solche Sachen als Zeuge gesehen hat. Es gab nämlich bei uns natürlich Leute, die extrem katholische Parolen ausnutzen gegen Andersdenkende, gegen Andersdenkende in sittlicher Problematik, gegen Agnostiker, gegen Juden, gegen Deutsche sehr gerne, auch gegen christliche Deutsche. Es sind Leute, die so gesinnt sind. Ich glaube, das ist keine Eigenschaft der Menschen einer Sprache, einer Religion oder in einem Lande. Wir sehen schreckliche Erscheinungen des Bürgerkrieges in Syrien, wo zwei Strömungen innerhalb des Islam sich so bekämpfen und zwei Clans. Für uns alle, egal ob Deutsche oder Polen, sind das unbegreifliche Probleme. Warum töten die Araber die Araber in einem Lande? Für uns unbegreiflich. Aber es soll begreiflich sein, die Spannungen und die Kluft und die Züchtung des Hasses unter den eigenen Bürgern zu tolerieren? Für mich ist das unbegreiflich. Aber das ist das Dilemma der Demokratie. Als Demokrat bin ich der Meinung, die Freiheit ist von Bedeutung, man kann die Freiheit nicht begrenzen. Aber wenn wir unter keinen Bedingungen Freiheit begrenzen werden, werden wir das Menschenfressen bald dulden.

    Adler: Herr Bartoszewski, Sie sind der Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung. In welchem Zustand sind denn die deutsch-polnischen Beziehungen? Es gibt den Streit mit Erika Steinbach nicht mehr. Jetzt gibt es gerade wieder die Abbildung der Kanzlerin auf einem polnischen Titelblatt. In welchem Zustand sind unsere Beziehungen?

    Bartoszewski: Ich glaube, die polnisch-deutschen Beziehungen gehören zur Welt der Wunder, positive Wunder der Europäisierung der Menschen nach 1990. Die deutsch-polnische Beziehungen haben so große Fortschritte gemacht wie keine anderen in Europa. Ich kenne keine zwei Länder, die so weit aus der weiten Entfernung bei Überwindung der Kluft, der bestehenden psychologischen Kluft, nicht unbegründeten, so weit aufeinanderzugegangen sind. Ich bin seit über 50 Jahren aktiv tätig zugunsten der polnisch-deutschen Annäherung, Versöhnung und Überwindung der Kluft und ich bin sehr zufrieden. Die Rechnung meines Lebens ist nicht umsonst gewesen, das sage ich heute als 91-jähriger aktiver Politiker, der älteste aktive Politiker in der europäisch-amerikanischen Welt, denn mein nahestehender Freund Shimon Perez, Präsident des Staates Israel, auch ehemaliger polnische Bürger, ist ein Jahr jünger.

    Adler: Ist es an der Zeit, dass die Kanzlerin und der Premierminister, dass Deutschland und Polen in Europa gemeinsame Initiativen starten?

    Bartoszewski: Angenommen, dass beide Mütter in Zoppot geboren wurden und dass unser Ministerpräsident, mein Freund im Alter meines Sohnes, also eine andere Generation, ein Kaschube ist, wäre das ein Zeichen der Geschichte. Das muss nicht sein. Natürlich, die Politik geht weiter. Frau Merkel und Herr Tusk – ich wünsche beiden alles Gute – sind auch nicht unsterblich, politisch und menschlich. Und in 20, 30, 40 Jahren werden die Leute sich mehr oder weniger erinnern an diese Zeit. Aber man muss die Normalität vorbereiten, die vielseitige Normalität. Ich bin der Meinung, dass zum Beispiel solche Zeichen der Geschichte, als Pöttering gestern in Warschau sehr hoch ausgezeichnet wurde von dem polnischen Präsidenten mit einem hohen polnischen Orden, mein Freund. Sein Nachfolger Buzek: Schlesier, Pole. Pöttering: bekennender Katholik. Buzek: aktiver Lutheraner polnischer Nationalität, jetzt Martin Schulz, aktiver deutscher Sozialdemokrat. Das sie alle auf demselben Posten sind. Und das ist keine erstaunliche Erscheinung. Die Leute akzeptieren das, die Engländer, die Franzosen, die Belgier, die Österreicher, die Niederländer. Mit gesundem Verstand nähern wir uns der Normalität. Denn normal soll man die Aktivitäten der Menschen behandeln und bewerten, nicht laut Nationalität, sondern laut Taten. Außerdem: alle Probleme deutsch-polnischer, gemischter Gesinnung unter Heimatvertriebenen, Spätaussiedlern, Extra-Spätaussiedlern – mit keinem anderen Volk haben die Deutschen so viele gemischte Familien gehabt. Und schauen Sie in die Statistik aus Wiesbaden. Alljährlich stehen an erster Position der gemischten Ehen deutsch-polnische. Bis 2011 weiß ich Bescheid, für 2012 habe ich noch keine Angaben. Das heißt, die Leute entscheiden anders, die Politiker anders. Die Leute wählen mit den Füßen, wie man sagt. Und das ist Normalität. Ich bin der Meinung, das ist erwünscht. Erwünscht oder unerwünscht, das Leben ist halt so.

    Adler: Herr Bartoszewski, ich danke Ihnen sehr für das Interview.

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