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"Die Primarschule, Klasse eins bis sechs, ist europäischer Standard"

Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust hat Bedenken gegen die geplante neue Schulstruktur in seinem Bundesland zurückgewiesen. Die Reform bedeute keine Zerschlagung, sondern ein Bekenntnis zum Gymnasium, sagte er.

Ole von Beust im Gespräch mit Jochen Spengler | 04.03.2010
    Jochen Spengler: So etwas hat schon Seltenheitswert. Einstimmig, ohne Gegenstimmen, hat die Hamburger Bürgerschaft gestern die Nachbesserung der umstrittenen Schulreform beschlossen, also die regierenden Christdemokraten und Grünen, vereint mit der Opposition aus SPD und Linken. Mit dem veränderten Reformpaket wollen alle vier Parteien nun gemeinsam in die Auseinandersetzung mit der Bürgerinitiative "Wir wollen lernen" gehen. Diese Initiative will das dreigliedrige Schulsystem behalten und lehnt die Einführung einer sechsjährigen Grundschule ab, was sie in einem Volksentscheid im Sommer durchsetzen will. Jetzt um Viertel nach acht am Deutschlandfunk-Telefon begrüße ich den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Ole von Beust (CDU). Guten Morgen, Herr von Beust.

    Ole von Beust: Hallo! Guten Morgen.

    Spengler: Worauf kann sich ein CDU-Wähler in Hamburg noch verlassen, wenn nicht einmal darauf, dass die Union das acht- oder neunjährige Gymnasium garantiert?

    von Beust: Ein CDU-Wähler, nebenbei natürlich alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt können sich auf mein Wort und auf das meiner Partei verlassen. Und wenn es konkret um Bildung geht: Wir haben im letzten Wahlkampf gesagt, mit uns, der Union, und mit mir persönlich gibt es kein Ende des Gymnasiums, keine Zerschlagung des Gymnasiums, was alle anderen Parteien wollten. Die Grünen, die SPD, die Linkspartei wollten eine neunjährige Einheitsschule und wir haben gesagt, das ist mit uns nicht zu machen, dann ist das Gymnasium tot. Nun muss man in einer Koalition Kompromisse schließen, aber das Gymnasium lebt auch nach dieser Reform sehr munter, ich glaube sogar besser als vorher weiter, und darauf können sich die Menschen verlassen.

    Spengler: Aber ein Gymnasium, das nur noch sechs Jahre dauert, ist das nicht doch etwas kastriert?

    von Beust: Glaube ich nicht, schon deshalb nicht, weil diese Reform, die wir wollen, ja keine reine sechsjährige Grundschule ist. In den drei ersten Jahren ist es die klassische Grundschule, in den zweiten drei Jahren, also Klasse vier bis Klasse sechs, werden in sehr großem Umfang Gymnasiallehrer mit an der Primarschule unterrichten, sodass sowohl Gymnasiallehrer als auch Elemente des Unterrichtsinhalts von Gymnasien bereits in den Klassen vier, fünf, sechs den Kindern vermittelt werden. Das ist neu und das ist, glaube ich, eine gute Vorbereitung auf eine dann etwas kürzere Gymnasialzeit, aber noch mal: Ohne uns hätte es – und dafür gäbe es im Parlament sogar eine Mehrheit, wenn man das zusammenzählt – eine Zerschlagung des Gymnasiums und eine neunjährige Einheitsschule gegeben. Das wollen wir und das will ich verhindern.

    Spengler: Den Elternwillen zu berücksichtigen, oder eine bessere Ausstattung der Schulen, oder kleinere Klassen, das ginge doch alles, auch ohne das Schulsystem so grundsätzlich zu ändern und das Gymnasium eben auf sechs Jahre zu beschränken, oder nicht?

    von Beust: Ja. Das eine hängt mit dem anderen nur bedingt zusammen. Da haben Sie völlig recht. Der Elternwille ist ja jetzt so, dass nach Klasse vier die Eltern entscheiden, auf welche weiterführenden Schulen ihre Kinder gehen, und nach Klasse sechs entscheiden dann die Lehrer, ob das Kind auf dieser Schule bleibt oder nicht. Das hat nebenbei zur Folge, dass nach der sechsten Klasse es sehr viele Umschulungen wieder gibt, weil Kinder entweder unter- oder meist überbewertet waren, mit ziemlichen auch Brüchen in der schulischen Laufbahn, auch mit psychologischen Problemen für die Kinder. Ich glaube, das wird verhindert, wenn später entschieden wird, eben nicht im Alter von zehn, sondern dann zwei Jahre später, wo man eine bessere Prognose treffen kann, aber auch hier das Elternwahlrecht wie jetzt. Aber natürlich: mehr Lehrer, kleinere Klassen kann man in jedem System machen. Das Entscheidende ist, dass in der Primarschule – das ist ein wesentlicher Kern – in den Klassen drei bis sechs vor allem anders unterrichtet wird. Da gibt es einmal den herkömmlichen Klassenunterricht mit niedrigen Klassenfrequenzen, aber darüber hinaus auch sehr viel individuelle Förderung je nach Leistungsstand des Kindes, mehr Gruppenarbeit, mehr leistungsorientierte Arbeit, also für die besonders guten, hochbegabten genauso wie für die nicht so gut begabten, und das ist ein besonderes Element der Primarschule in Klasse vier bis sechs, was es bisher nicht gibt.

    Spengler: Also es ging Ihnen vor allen Dingen um das längere gemeinsame Lernen auf dieser Primarschule und weniger um, sage ich mal, die Verkürzung des Gymnasiums?

    von Beust: Genau so ist es. Nebenbei, man muss eines sehen: die Primarschule, Klasse eins bis sechs, ist europäischer Standard. Wir sind in Deutschland und Teilen von Österreich das einzige europäische Land, das in der OECD ist – das ist diese Organisation, die soziale und Bildungsdinge auch vertraglich vereinbart haben, worin die meisten europäischen Länder Mitglied sind -, das einzige Land in Europa, wo die Kinder noch nach vier Jahren, nach vier Schuljahren im Alter von zehn, also in ihrer Kindheit, die entscheidende Entscheidung über sich ergehen lassen müssen, wie ihre Schullaufbahn ist. Das halte ich für ungerecht und das war der wesentliche Ansatz, aber verbunden mit vielen konkreten Verbesserungen.

    Spengler: Das heißt auch, dass Ihre Parteifreunde in Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen oder Baden-Württemberg, die das dreigliedrige Schulsystem verteidigen, auf dem Holzweg sind?

    von Beust: Jeder mag da seine Meinung haben. Ich kann nur für eine norddeutsche Großstadt sprechen, die zweitgrößte Stadt Deutschlands, wo es zwei Riesen Probleme gibt. Das eine ist, dass wir in den nächsten Jahren einen ziemlich massiven Arbeitskräftemangel von gut qualifizierten jungen Leuten haben werden. Das gilt sowohl für den akademischen Bereich, das gilt aber auch für den Bereich Industrie, Gewerbe, Handwerk. Darum sagen wir, junge Leute müssen so gut wie möglich ausgebildet werden, auch die, die vielleicht aus Schichten kommen, wo sie zu Hause nicht alles mitkriegen, was sie mitkriegen müssten. Das ist ein ökonomischer Aspekt, der für uns hier sehr wichtig ist. Und das Zweite ist der Aspekt der Integration. Etwa 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die jetzt eingeschult werden, sind welche, wo die Eltern einen ausländischen Kulturhintergrund haben, oder, wie es im Politdeutsch so schön heißt, Migrationshintergrund haben. Da gibt es riesige Integrationsschwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten, und die werden durch längeres gemeinsames Lernen, glaube ich, sinnvoll genutzt.

    Spengler: Jetzt sagen viele Eltern, gerade auch Ihre Wähler, die bei dem Volksbegehren mitgemacht haben, 184.000 Menschen waren das insgesamt, wir fürchten Gleichmacherei, wir fürchten eine Abkehr vom Leistungsgedanken. Ist das alles Quatsch?

    von Beust: Ich kann jede Sorge verstehen. Natürlich wollen Eltern, Mütter, Väter, dass ihre Kinder besonders gut gefördert werden, und die meisten Eltern halten auch jeweils ihr Kind für das schönste und klügste von allen. Das ist völlig normal und normales Denken, das ich nachvollziehen kann. Nur alle Untersuchungen zeigen, auch im Ausland, wir machen doch nichts revolutionär Neues, sondern etwas, was europäischer Standard ist, was auf der ganzen Welt überall üblich ist, dass Kinder nicht im Alter von zehn Jahren getrennt werden, sondern länger gemeinsam lernen. Die Erfahrungen zeigen, dass auch die hochbegabten Kinder in einem System, wo es individuellen Unterricht gibt, wo es auch Gruppenunterricht gibt, nicht nur die Klassen zusammensitzen, dann aber durch das insgesamt gemeinsame Lernen nicht benachteiligt werden. Das zeigen Untersuchungen, die es in Deutschland, in Berlin/Brandenburg gibt, dass Kinder nach der Klasse sechs, die auf einer Gemeinsamlern-Institution waren, genauso gute, teilweise sogar bessere Lernfortschritte gemacht haben als die Kinder, die auf dem Gymnasium sind. Und noch mal: In den Klassen fünf und sechs sind jetzt viele Kinder auch auf dem Gymnasium, die da gar nicht hingehören, weil sie eigentlich überfordert werden. Auch um die muss man sich kümmern.

    Spengler: Wir sprechen mit dem Ersten Bürgermeister von Hamburg, Ole von Beust. – Herr von Beust, es gibt natürlich auch Studien wie die vom Berliner Bildungsforscher Lehmann, die behaupten, leistungsstarke Schüler werden durch Klassen fünf und sechs in einer Primarschule eher gebremst, sie lernen mehr an einem Gymnasium.

    Von Beust: Immerhin ist, bei allem Respekt, Herr Lehmann der Einzige, der diese These vertritt. Alle anderen vertreten auch wissenschaftlich nachgewiesene andere Thesen. Aber ich gebe zu, es ist irgendwo auch ein bisschen eine Glaubensfrage. Sie werden vermutlich für jedes pädagogische Konzept Pro- und Kontraargumente hören. Ich möchte mal eines zu bedenken geben: Der alte Gedanke des dreigliedrigen Schulsystems, wie wir es alle kennen, geht doch davon aus, dass es drei Menschentypen gibt: einmal die besonders intellektuellen, der dann eine akademische Ausbildung macht und vielleicht auch führen soll, dann gibt es diejenigen, die so eine mittlere Begabung haben, die machen Realschule und können dann Handwerker werden, und die dritten, die die Hauptschule machen, sollen dann diejenigen sein, die im industriellen, gewerblichen Bereich niedrig qualifiziertere Arbeiten machen. Dieses Menschenbild ist doch schlichtweg nicht mehr die Wirklichkeit. Wir brauchen heute viel mehr Akademiker als früher. Zum Zweiten brauchen wir aber auch im niedrig qualifizierten Bereich inzwischen gut ausgebildete junge Leute. Den klassischen Industriearbeiter, der angelernt, ohne schulische Vorbildung sein Leben lang einen Job bekommt, den gibt es gar nicht mehr, oder nur noch ganz wenig. Darum muss in der heutigen Wirtschaftswelt die Schule alles tun, um möglichst viele Begabungen zu heben, wie es so schön heißt, auch Begabten, die aus schwierigen Elternhäusern kommen, ihre Chance zu geben. Ich glaube, vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung sechs Jahre gemeinsames Lernen, aber auch ein gutes Gymnasium hinterher die genau richtige.

    Spengler: Nun ist die Konsequenz Ihrer Schulpolitik, Herr von Beust, dass die CDU tief gespalten ist. Sie steckt gerade in der Führungskrise, sie ist in Umfragen um elf Prozentpunkte auf 31 Prozent abgesackt. Profitieren von so einem schwarz-grünen Regierungsbündnis eigentlich immer nur die Grünen?

    von Beust: Das ist eine Umfrage. Jetzt soll man sich auch nur nicht zu große Sorgen wegen einer Umfrage machen. Wenn man Politik abhängig von Umfrageergebnissen oder gegenwärtigen Stimmungen macht, kann man jeden Führungsanspruch aufgeben, und ich glaube, das sollte man nicht tun. Wir sind im Moment in einer schwierigen Lage, weil einige der Eltern – das ist auch unsere Klientel – schwer zu überzeugen sind. Ich glaube, wir werden sie überzeugen. Im Moment stehen die Grünen gut da, aber nebenbei ja nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, vielleicht auch wegen des schwierigen Erscheinungsbildes der Koalition in Berlin. Das hilft den Grünen ja im Moment auch. Aber wissen Sie, in der Legislatur jetzt zur Hälfte gibt es immer Aufs und Abs, da muss man durch, und ich stehe auf dem Standpunkt, Politik muss Ziele haben, muss führen, muss versuchen, sie durchzusetzen. Wenn es gelingt, ist gut, und wenn nicht, steht man auch vor dem Risiko, nicht wieder gewählt zu werden. Aber wenn ich Politik nur unter dem Vorzeichen mache, oh Gott, oh Gott, werde ich wieder gewählt und tue ich alles, um der Mehrheit zu gefallen, für mich ist das die falsche Art, Politik und Führung zu zeigen.

    Spengler: Was, wenn Sie Misserfolg haben sollten, wenn der Volksentscheid im Sommer in die Hose geht, beziehungsweise gegen die Schulreform Erfolg haben wird? Wäre das für Sie ein Rücktrittsgrund?

    von Beust: Das hängt auch ein bisschen davon ab, wie die ganze Diskussion jetzt läuft. Ich trete persönlich sehr dafür ein und muss mir dann auch persönlich überlegen, welche Konsequenzen ich ziehe. Aber das ist jetzt eine grundsätzliche Bemerkung. Ich will auch gar nicht kneifen, aber schauen Sie, wenn ich schon einen Volksentscheid in der Verfassung habe, der verbindlich ist, wie es in Hamburg der Fall ist, wenn das dann immer um die Frage geht, so eine Art vorgezogene Neuwahlen, oder geht es um den Kopf des jeweiligen Fachministers oder Regierungschefs, führe ich eigentlich Volksentscheide ad absurdum. Da geht es erst mal um die Sache und nicht um die Köpfe von einzelnen. Das müssen die dann entscheiden, wie sie sich verhalten. Aber ich habe keine Existenzsorgen.

    Spengler: Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust im Deutschlandfunk-Interview. Danke für das Gespräch, Herr von Beust.

    von Beust: Gerne geschehen. Tschüß!