Freitag, 19. April 2024

Archiv


Die protestantisch-kapitalistische Ethik der Pfingstler

Die Pfingstkirchen Lateinamerikas gelten als reaktionär und antimodern. Der Religionssoziologe Peter L. Berger widerspricht dem aber - und hält sie im Gegenteil aufgrund ihrer kapitalistischen Ethik für einen modernisierenden Faktor.

Von Ludger Fittkau | 05.11.2012
    Seine Bücher erreichen eine Millionenauflage, seit vielen Jahrzehnten lebt der heute 84-Jährige in den USA. Vor allem beschäftigt er sich mit der Entwicklung der Pfingst-Kirchen in Lateinamerika und China.

    Seit Mitte der 80er-Jahre forscht Peter L. Berger zur Pfingstbewegung in Lateinamerika. Diese charismatischen Bewegungen sind seit dieser Zeit in vielen Regionen Lateinamerikas auf dem Vormarsch; die katholische Kirche verliert auf dem "katholischen Kontinent" immer mehr Mitglieder. Den evangelikalen Freikirchen, die oftmals auf die Sorgen der Menschen weit individueller eingehen, strömen die Gläubigen dagegen zu. So bekennt sich in Guatemala bereits rund ein Drittel der Bevölkerung zu den Evangelikalen. Peter L. Berger sieht in dieser Entwicklung durchaus eine Chance für Lateinamerika:

    "Ich kam zum Schluss schon vor Jahren, dass im Gegenteil zu dem, was die allgemeine Meinung ist über Pfingstler, nämlich reaktionär, antimodern – ja in manchen Dingen schon, man hat Bauchweh und geht zum Prediger und der haut einem auf den Bauch und man wird gesund – das ist nicht gerade modern. Aber ich kam zum Schluss und nicht nur ich, auch andere Leute, die sich mit Pfingstlern befasst haben: Im sogenannten 'globalen Süden' ist charismatisches Christentum ein modernisierender Faktor."

    Angesichts von Zungenrede und Dämonenaustreibungen, die in den Gemeinden durchaus praktiziert werden, eine überraschende These. Doch Berger nennt dafür zwei Gründe: Erstens:

    "Pfingstlertum individualisiert. Es ist die einzige wichtige Religion auf der Welt, inklusive dem nicht-charismatischen Protestantismus meistens heute, wo im Zentrum der Religion steht eine individuelle Entscheidung. Man kann nicht als Christ geboren werden, man muss wiedergeboren werden als Christ. 'Born again' im amerikanischen Individualismus. Das heißt, man hat eine gewisse Erfahrung des Glaubens 'to accept Jesus as personal lord and savier'. Das kann man dann genau sagen, am 5. März 1988, da geschah es. Da habe ich mich entschlossen und an diesem Entschluss halte ich fest. Das ist enorm individualisierend und ich würde sagen, Individualisierung ist ein enorm wichtiger Bestandteil der Modernität."

    Zum Zweiten sei die Arbeitsethik bedeutsam, so Berger. Sie enthalte zentrale Elemente dessen, was Max Weber unter dem Titel "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" untersucht habe: Die Freikirchen fordern ihre Gläubigen in den Slums auf, sich zu bilden. Auch raten sie, sich selbst zu disziplinieren, Belohnungen für erreichte Leistungen aufzuschieben - die sogenannte "delayed gratification" – und so aus der Armut herauszufinden.

    "Wenn sie sich die Ethik dieser Leute anschauen, ist es fast buchstäblich das, was Max Weber die protestantische Ethik genannt hat. In allen Einzelheiten. Innerweltliche Askese, delayed gratification, Erziehung ist wichtig, die Kinder müssen Lesen und Schreiben lernen. Das modernisiert und es ist vielleicht am Dramatischsten in Lateinamerika."

    Doch auch in China sind evangelikale Bewegungen auf dem Vormarsch. Auch dort erforschen Peter L. Berger und sein Soziologien-Team von der Boston University dieses Phänomen. Ein charismatisches Christentum gelte der kommunistischen Führung im Reich der Mitte als vergleichsweise kleineres Übel, so Berger. Der Islam oder der tibetanische Buddhismus sei den Behörden schon deshalb suspekt, weil damit separatistische Bewegungen einhergingen. Christliche Freikirchen bewerte Peking dagegen bisher als weitgehend harmlos, so der Soziologe. Man glaube wohl: Wenn schon nicht das Vordringen von Religionsgemeinschaften verhindert werden könne, dann seien Pfingstkirchen noch am ehesten akzeptabel: Peter L. Berger:

    "Die Pfingstler in China sind keine Wählergruppe – weil niemand das Wahlrecht hat. Die Christen sind für ehrliches Geschäftsleben, sie arbeiten, sie sind verlässlich. Wir wollen modernisierte Wirtschaft, das ist gut. Auch der Direktor dort hat Max Weber erwähnt, bestimmt nicht gelesen, aber Protestantismus und kapitalistische Ethik. Die wollen eine kapitalistische Gesellschaft haben, bloß es nicht so nennen. Aber andererseits und da denkt er an Taiwan oder Südkorea, die wollen wahrscheinlich Demokratie und das ist schlecht und das wollen wir nicht. Wie machen wir das."

    Doch Modernisierung, das zeigt für Berger das Beispiel China, führt nicht zwingend auch zu Wohlstand und Demokratie. Moderne und Fundamentalismus verbinden sich vielerorts ebenso, wie etwa das Vordringen der Salafisten in den Ländern Nordafrikas gegenwärtig zeige. Dass allerdings Evangelikale in Nord- oder auch in Südamerika einen "modernen Gottesstaat" anstrebten, glaubt er nicht:

    "Evangelikale in Amerika kenne ich intimst. Obwohl ich Gott weiß nicht zu ihnen gehöre. Es gibt überhaupt kein Projekt einen evangelikalen Staat zu errichten, es gibt keine evangelikalen Terroristen. Die Trennung von Kirche und Staat im Allgemeinen wird akzeptiert. Es sind gewisse einzelne Punkte, wo hauptsächlich juristische Probleme entstehen. Darf ein Baptisten-College beten, wenn die Leute Fußball dort spielen? Da gibt es endlose Gerichtsfälle so an der Grenze, da gibt es immer Probleme. Aber die haben überhaupt keine Schwierigkeit mit der Trennung von Kirche und Staat."