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Die Rache der Sieger

Der Versuch, die Geschichte der deutschen Flüchtlinge zu erzählen, ist immer noch eine Gratwanderung: Einerseits droht das Ausblenden der Schuldfrage, andererseits ein langweiliger Film mit erhobenem Zeigefinger. Nun hat Kai Wessel für das Erste einen zweiteiligen Fernsehfilm "Die Flucht" gedreht.

Von Christoph Schmitz | 04.03.2007
    Der Film "Die Flucht" hat vieles nicht. Sehr vieles nicht. Doch eines hat er ganz bestimmt.

    Was er alles nicht hat, liegt daran, dass er ein Fernsehfilm ist, und Fernsehfilme für das frühe Abendprogramm im deutschen Fernsehen, also für das große Publikum, selten besonders gut sind. Die Bildsprache und die Erzählweise sind konventionell, damit jeder alles versteht und nur ja keine Doppelbödigkeiten aufkommen. Außerdem wird die Ausstattung mit deutlichen Signalen versehen, dass die Zeit, im Falle der "Flucht" also das ostpreußische Landgut der von Mahlbergs mit seinen weiten Feldern, seinen Hofgebäuden aus Backstein, seinen Salons und Küchen, wo viele Angestellte in Kopftüchern, Schürzen und Stiefeln Teige kneten und Tiere schlachten, damit also das Ambiente historisch und atmosphärisch deutlich markiert ist. Und wie so oft im Fernsehfilm führt diese Deutlichkeit dazu, dass alles furchtbar künstlich aussieht, obwohl ja genau das Gegenteil erreicht werden soll. In "Die Flucht" sieht sogar der Schnee nach Styropor aus, die verendeten und gefrorenen Pferde am Rande der Landstraßen und die in der Luft baumelnden Körper der Erhängten wie eine Geisterbahn-Collection aus dem Hause Käthe Kruse. Die Dialoge wirken oft wie Merksätze aus der Zeit des guten alten Schulfernsehens.

    Die Welt der Lena von Mahlenberg - in ihrer spröden, klugen und zupackenden Art intensiv gespielt von Maria Furtwängler - diese Welt ist ausgeleuchtet wie die Schaufensterfront eines eleganten Kaufhauses. Doch in diesem Schaufenster soll eine ganze Lebenswelt samt Untergang gezeigt werden. Die preußische Adelige Lena übernimmt nach ihrer Rückkehr aus Berlin ab Sommer 1944 die Leitung der Gutswirtschaft, weil ihr Vater krank ist und angesichts der von ihm erahnten Katastrophe resigniert hat. Familienzwiste und alte Freundschaften zu benachbarten Familien wachen für kurze Zeit auf, eine Hochzeit wird geplant, die eigenen Leute, die Angestellten und Zwangsarbeiter wollen versorgt werden, doch die Angst vor der nahenden Front und den Gräueltaten russischer Soldaten lässt die Familie samt Anhang, wie hunderttausende andere, Anfang 45 gegen den Willen der Nazis Hals über Kopf die Flucht ergreifen. Lena organisiert diese Flucht für die Menschen ihres Gutes und begleitet sie durch einen brutalen Winter, über die zugefrorene Ostsee bis nach Bayern. Wie gesagt - alles in einer wenig authentischen Fernseh-Ästhetik erzählt.

    Doch wenn diesem Zweitteiler über ein politisch und gesellschaftlich höchst umstrittenes Thema, die Flucht der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, vieles fehlt, so muss man ihm doch eines zugestehen: Dass er eine Ahnung vom Verlust und vom Leid vermittelt, das die Deutschen durch den Krieg und ihren Rassenwahn sich selbst zugefügt haben. Familien, die seit Hunderten von Jahren eine Weltgegend besiedelten, wo sie über Generationen hinweg eine spezifische Gefühls- und Lebenskultur entwickelten, werden binnen kürzester Zeit entwurzelt und aller Identifikationskoordinaten beraubt. Zugleich werden für diesen Untergang nicht die bestialischen Übergriffe der Sowjetarmee verantwortlich gemacht, die der Film durchaus zeigt. Sondern die Mörderbande der Nazis, die Unterwürfigkeit in Kreisen der ostpreußischen Elite, die Begeisterung kleiner Leute. Verblendung, Gewalt, Propaganda - in nur wenigen Jahren vermochten sie Jahrhunderte vernichten. Dabei ist der Film weit davon entfernt, alte ostpreußische Zeiten zu verherrlichen. Dass das Junkertum an sein historisches Ende gekommen war, klingt in manchen Passagen an. Mit der "Flucht" unter der Regie von Kai Wessel wird der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Naziherrschaft um eine historische Facette in der medialen Aufarbeitung erweitert. Deutsche Schuld wird nicht geschmälert, deutsche Opfer werden nicht unterschlagen. Nach diesem Film über die Flucht müsste jetzt noch der Film über die Vertreibung folgen.