Donnerstag, 28. März 2024

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Die Rache einer Frau

Kindsmord ist das Verbrechen gegen die Natur par excellence. Die Urgeschichte dazu schrieb Euripides vor 2400 Jahren. Michael Thalheimer bringt das bis heute verstörende Skandalon des Stückes in einer ganz auf den Text konzentrierten Aufführung auf die Bühne.

Von Cornelie Ueding | 15.04.2012
    Schritt für Schritt, gebeugt, langsam und beschwerlich – im stummen Kampf gegen die bleischweren Kothurne immer neu mit den Armen Schwung holend -, stapft die Amme in einem endlos erscheinenden, diagonalen Gang über die kahle Bühne und trifft nur, ein gespenstisches Bild, weit hinten, am eisernen Vorhang, auf ihren eigenen Schatten. Wer immer diesen Bühnenraum betritt, ist von allen anderen getrennt. Ganz besonders Medea.

    Am entferntesten Ende des Bühnenraums steht sie auf hoher Rampe, wie auf Messers Schneide, im Wortsinn an den Rand gedrängt; bald wie ein Tier brüllend, bald kalt und klar das eigene Leben als Fremde, als verschmähte Frau analysierend. Ganz und gar eins mit sich und zugleich zerfallen in Einzelteile: Ihre Beine, Hände tasten suchend, Halt suchend, die Wand ab, hängen verrenkt, wie ausgerenkt über das schmale Sims, auf dem sie hoch über den Köpfen der anderen wie ein Adler nistet und, von Beginn an auf Rache sinnend, planvoll den großen Gegenschlag vorbereitet. Auf Olaf Altmanns restlos ausgenüchterter Bühne zeigt Michael Thalheimer, dass Euripides nichts weniger wollte, als anrührendes, anheimelndes Verständnis oder Gerechtigkeit für Medea. Der Zuschauer soll sie nicht mögen und auch nicht verstehen. Seine Bühnenanatomie "Medea" kommt zu dem Befund, dass die Protagonistin – wie verrenkt und verstört auch immer sie uns erscheinen mag – wie aus einem Guss funktioniert, denkt, fühlt, handelt. Ihr archaisch inkommensurabler "Mein-sei-die-Rache"-Gestus re-formiert die Ausgestoßene, Verstoßene und lässt sie, die am Anfang wie ein gequältes Hintergrund-Wesen erschien, zu Überlebensgröße heranwachsen. Auf dem Gefechtsstand ihrer Rampe rauscht Medea mit der ganzen massiven Bühnenhinterwand nach vorn, an die Rampe, und überrollt buchstäblich alles und alle. Jason vor allem. Jason, der zu Anfang noch wortgewandt und siegessicher im leuchtend blauen Anzug argumentativ rumzuzocken und gegenzuhalten versucht, und die Stirn hat ihr nahezulegen, dass eine Trennung ja auch für sie nur Vorteile habe. Am Ende verkriecht er sich, als zerknülltes, wimmerndes Würstchen am Boden.

    Ein einziges Mal in dieser ganz auf den Text konzentrierten Aufführung lässt Thalheimer das Inventar gegenwärtiger Bühnenästhetik aufblitzen. Statt das eigentliche, auch noch nach 2400 Jahren verstörende Skandalon des Stückes, den Mord an den Kindern zu zeigen, flimmert in abgehackter, dolchstoßartig schneller Schnittfolge eine Flut technologisch entpersönlichter Zeichen und Servicesymbole als großflächige Projektion über Medeas an die Wand gepressten Körper: Das Inventar von Lebensmöglichkeiten, wie sie in unserem kulturellen System vorgesehen und gespeichert sind: Mann Frau, Kind, Geburt, Baby, Familie – Tod. Medea passt in keines dieser Raster. Mord passt nicht in diese Raster. Eine Feststellung – keine Antwort - keine Frage: Ein gesellschaftlich akzeptiertes Zeichen für Mord fehlt, obwohl tausendfach gemordet wird. Mord durch Kinder, Mord an unschuldigen Kindern - wie er in diesem unfassbar zeitlosen Text geplant und ausgeführt wird.

    Ersichtlich geht es Thalheimer darum, das tausendfach Tradierte, Wiederholte, Überspielte, Durchgespielte auf dem Testplatz Theater vor der Folie von Terrorismus und Amokläufen noch einmal neu zu bilanzieren. Blicklos, mit der Unberührtheit und dem kalten Hochmut des paranoiden Serienkillers verlässt Medea hocherhobenen Hauptes die Bühne, rafft leicht angeekelt den Mantel über Jason, der wie ein Stück menschlicher Müll vor ihr am Boden liegt. Starr, unberührt und unberührbar schreitet sie am Chor vorbei ins Exil. Bei so viel Unverstehbarkeit und wilder, kalter Lust am Nicht-verstanden-werden-wollen macht es Sinn, den Chor auf eine einzige, fassungslose, hilflose Figur zu reduzieren. Die Öffentlichkeit hat keine Chance gegen eine wie Medea, eine, die die wenigen Momente des Zögerns als Schwäche abzutun imstande ist und entschlossen über Leichen geht. Im letzten Dialog mit Jason nennt sie in zwei auf Formeln verkürzten Sätzen das Programm des Projekts "Medea". Sätze, auf die keiner von uns eine Antwort hat:

    Der eine heißt: "Wer mich verrät, bezahlt mit dem Tod."

    Der andere: "Ich musste dich treffen. Mitten ins Herz."