Donnerstag, 25. April 2024

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"Die Renten sind sicher"

Kein Satz Norbert Blüms wird so häufig zitiert wie der: "Die Rente ist sicher". Norbert Blüm trat 1950 in die CDU ein und engagierte sich besonders in den Sozialausschüssen, deren Hauptgeschäftsführer und späterer Bundesvorsitzender er insgesamt 17 Jahre lang war. Als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung saß er von 1982 bis 1998 am Kabinettstisch von Bundeskanzler Helmut Kohl.

29.01.2009
    Doktor Norbert Blüm wurde 1935 in Rüsselsheim geboren. Bei der Adam Opel AG begann er seine berufliche Ausbildung als Werkzeugmacher. Sein Abitur holte Blüm auf der Abendschule nach. Er studierte in Bonn Theologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik und promovierte 1967 zum Doktor der Philosophie.

    Norbert Blüm trat bereits 1950 in die CDU ein und engagierte sich besonders in den Sozialausschüssen, deren Hauptgeschäftsführer und späterer Bundesvorsitzender er insgesamt 17 Jahre lang war. Als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung saß er von 1982 bis 1998 am Kabinettstisch von Bundeskanzler Helmut Kohl. Norbert Blüm war und ist ein engagierter Kämpfer für die Menschenrechte - weltweit.


    "Norbert Blüm: Ein guter Rüsselsheimer will zu Opel."

    Blüm, der Werkzeugmacher.

    Dieter Jepsen-Föge: Herr Doktor Blüm - so viel Zeit muss sein zu Beginn des Gesprächs, ein Studium und ein akademischer Titel waren Ihnen nicht in die Wiege gelegt. Wer hat Sie eigentlich gefördert und vielleicht ja auch gefordert?

    Blüm: Das weiß ich selber nicht. Das ist nicht das Ergebnis einer Lebensplanung, auch nicht das Ergebnis eines Förderunternehmens von dritter Seite, sondern mehr eine Mischung aus Zufall und Absicht. Als ich meine Lehre zu Ende hatte und noch als Werkzeugmacher gearbeitet habe, überkam mich die Abenteuerlust, und die hat sich in diesem Falle darauf gerichtet, was Neues für meinen Kopf zu erfahren, nachdem ich ja als Werkzeugmacher mehr mit den Händen zu tun hatte.

    Jepsen-Föge: Welche Rolle haben da Ihre Eltern gespielt? Ihr Vater war ja Kraftfahrzeugschlosser. Wollte er, dass Sie zuerst, nach der Volksschule, zu Opel gehen, weil das natürlich war? Sozusagen, es ist klar, dass der Norbert da hingeht?

    Blüm:Ein guter Rüsselsheimer will zu Opel, ganz unabhängig, wer der Vater ist. Und der Andrang war auch damals, 1949, sehr groß. 1000 Bewerber, das weiß ich noch, und 27 wurden genommen. Also das war so wie ein Lottogewinn. Ich meine, der musste mich nicht da hinschicken, man war froh, wenn man ankam.

    Jepsen-Föge: Wie weit haben Sie es bei Opel gebracht?

    Blüm: Zum Gesellen.

    Jepsen-Föge: Zum Gesellen, und dann irgendwann haben Sie aufgehört und gesagt, jetzt mache ich das Abitur nach, jetzt gehe ich auf die Abendschule. Das war ja, was wir heute "zweiter Bildungsweg" nennen.

    Blüm: Ja. In der Sprache der Werkzeugmacher: Jetzt hau' ich in den Sack. Es langt jetzt. Und dann musste ich bei Opel ausscheiden, denn das Abendgymnasium ließ sich nicht vereinbaren mit dem Schichtbetrieb. Als Werkzeugmacher musst du ja im Drei-Schichten-Rhythmus arbeiten, Früh-, Spätschicht , und dann manchmal auch Nachtschicht. Die Spätschicht und Abendgymnasium jedenfalls ging nicht. Also habe ich bei Opel aufgehört und mich in den dann restlichen vier Jahren so als Hilfsarbeiter auf allen möglichen Baustellen rumgetrieben.

    Jepsen-Föge: Und was war dann der Impuls - Sie sagten eben, vielleicht Abenteuerlust, Sie wussten es auch nicht - zu sagen, jetzt beginne ich ein Studium? Sie sind ja nach Bonn gegangen, haben Philosophie, Germanistik und auch die Theologie studiert.

    Blüm: Ja. Wenn ich ehrlich bin, kann ich Ihnen dafür keine heroische Geschichte liefern. Ich bin nach Köln gefahren, zunächst einmal in die Studienberatung, und habe mich, unschuldig wie ich war, beraten lassen, was ich alles werden könnte. Und als der gute Mann gehört hat, Werkzeugmacher, hat er mir Betriebswirt empfohlen, Volkswirt. Und ich fand' das alles relativ langweilig, weil ich gesagt habe, das ist doch alles in der Nähe von dem, was ich bisher gemacht habe.

    Also habe ich mich kurzerhand wie ein Turmspringer einfach vom Turm herunter begeben, nämlich springend, und habe gesagt, dann machen wir es ganz anders, ein Kontrastprogramm, und habe mich entschieden für Philosophie, Germanistik und Theologie.

    Jepsen-Föge: Theologie auch bei Josef Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt.

    Blüm: Josef Ratzinger, in seiner Bonner Zeit, da war das eine Kultfigur. Der Hörsaal 10 war gefüllt, nicht nur mit Theologiestudenten. Und wie es der Zufall - ich sprach ja schon von Zufall - und die Gnade Gottes will, habe ich in dieser Vorlesung meine Frau kennengelernt. Sie sehen: Ohne Papst Benedikt gäbe es nicht die Familie Blüm.

    Jepsen-Föge: Gut, jetzt will ich nicht sagen, was hat Sie mehr beeindruckt, offenbar Ihre Frau - aber ist auch etwas von Josef Ratzinger hängengeblieben? Was hat Sie an ihm beeindruckt?

    Blüm: Erst einmal ganz äußerlich: Er ist ein Mensch, der - im wahrsten Sinne des Wortes - sehr schön spricht. Er kann gut formulieren. Ich bin in Versuchung zu bringen durch Leute, die des Wortes mächtig sind. Und zwar kein brüllender Rhetoriker - in die Nähe komme ich mehr - sondern ein leiser, nachdenklicher Professor, damals auch theologisch an der Spitze der Bewegung.

    Der war Konzilsberater bei Kardinal Frings, und Kardinal Frings war eine der progressiven Gestalten des Konzils - das ist also ein anderer Ratzinger, wie er später in der Öffentlichkeit erschien. Wobei es Leute gibt, die sagen, man könne das sogar biografisch ausmachen, wo der Knackpunkt war.

    Der Knackpunkt war, als er nach Tübingen kam, und die 68er seinen Hörsaal stürmten und "Jesus verrecke" schrien. Da hat dieser zarte, sensible Ratzinger das Chaos ausbrechen sehen und mehr Zuflucht zu den Institutionen gesucht, als es seiner bisherigen Denkweise entsprach.

    "Blüm: Die Arbeit ist wichtiger als das Kapital."

    Blüm und die katholische Soziallehre

    Jepsen-Föge: Herr Blüm, wenn man das Biografische von Ihnen liest, dann hat Sie ein frommer Mann noch mehr beeindruckt, nämlich Oswald von Nell-Breuning.

    Blüm: Ja.

    Jepsen-Föge: … der katholische Soziallehrer, dem Sie auch selber persönlich begegnet sind. Hat er Sie sozusagen dazu gebracht, sich auch für Sozialpolitik zu engagieren?

    Blüm: Der Nell-Breuning ist mein Heiliger. Das ist ein Mensch, der so gelebt hat, wie er gesprochen hat: Klar und bescheiden, nie triumphalistisch und immer auf der Suche nach der Wahrheit. Ich kann noch seine Rede zum 100. Geburtstag - er ist ja 102 Jahre geworden - , die kann ich noch aus dem Kopf nachsagen.

    Und da ist eine Stelle drin, die ist typisch Nell-Breuning. "Heute Morgen hat mich Radio Vatikano gefragt, was ich der nachfolgenden Generation von Theologen sagen sollte. Ich versteh ja schon die Gegenwart nicht mehr, was soll ich denn zur Zukunft sagen? Aber vielleicht gibt es Sachen, die in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtig sind."

    Jetzt, denkst Du, jetzt kommt die große Offenbarung. "Erstens, versuche immer, im Argument Deines Gegners das Körnchen Wahrheit zu finden, das jede Häresie beinhaltet." Erstens, Du verstehst den Gegner besser, zweitens, Du verstehst dich besser, und jetzt wieder Nell-Breuning, jeden Pathos vermeidend: "Der Gegner denkt auch noch, du wärst fair."

    Abseits dieser Anekdote: Was ist der Kern? Bleibe immer auf der Suche der Wahrheit, auch: Versuche die Wahrheit Deines Gegners, das Körnchen Wahrheit, herauszufinden. Sei nicht selbstverliebt, glaube nicht, Du seist der liebe Gott oder im Besitz der Wahrheit. Das ist Nell-Breuning.

    Jepsen-Föge: Um davon aber überzeugt zu sein, muss man kein Anhänger der katholischen Soziallehre sein, oder?

    Blüm: Muss man nicht. Es wäre auch vermessen, sozusagen das Monopol der Wahrheitssuche nur der katholischen Soziallehre anzuvertrauen. Das wäre überheblich. Ich glaube, dass die Wahrheit im Dialog sich offenbart, im Für- und Gegeneinander. Dazu gehört allerdings ein Standpunkt.

    Und der heißt, auch wieder Nell-Breuning: Die unwandelbare Wahrheit der katholischen Soziallehre, die lässt sich Nell-Breuning auf einen Fingernagel schreiben, das ist nämlich die Wahrheit: Der Mensch ist wichtiger als jede Sache. Mit anderen Worten, wenn Sie es aktuell umsetzen wollen: Die Arbeit ist wichtiger als das Kapital.

    Jepsen-Föge: Manche nennen Sie, vielleicht auch deshalb, einen Herz-Jesu-Marxisten.

    Blüm: (lacht)

    Jepsen-Föge: Trifft das?

    Blüm: Das ist eine Erfindung von Franz Josef Strauß, Gott habe ihn selig, und ich habe das immer als Kompliment empfunden. Also, mit dem Vornamen Herz Jesu vertrage ich sogar Marx als Zunamen. Ich habe das immer als einen Einfall von Franz Josef Strauß gefunden, der eher ironisch-humoristisch ist, als dass er mich verletzen könnte.

    Jepsen-Föge: Aber trifft der auch in der Sache? Unterscheidet Sie von den Positionen, sagen wir mal, der Linken, der Marxisten eigentlich das, dass es sozusagen auf christlicher Basis funktioniert?

    Blüm: Ja, ich würde die Übereinstimmung sehen: im Zweifel für den Schwachen. Den elementaren Unterschied allerdings sehe ich darin, dass ich im Unterschied vom Marxismus nicht daran glaube, dass wir den Himmel auf die Erde bringen können. Dass wir immer im Unvollkommenen bleiben und einzig diese Unvollkommenheit bewahrt uns auch vor der Zuflucht, mit Gewalt die Wahrheit durchzusetzen.

    Mit anderen Worten: Ich bin kein Anhänger von Klassenkampf. Sehr wohl hat die Politik Konflikte, das ist keine Harmonieveranstaltung. Aber wir sind aufeinander angewiese. Und insofern hänge ich einer Gesellschaftsordnung der Partnerschaft mehr an als einer Gesellschaftsordnung, die den Umweg über die Diktatur des Proletariats unternehmen muss.

    Und dieser Umweg ist in vielen Fällen die Endstation gewesen und hat viel Unheil über die Welt gebracht. Was nicht heißt, dass ich den Marxisten Großverdienste zuschreibe - das Bewusstsein der Arbeiterschaft geweckt zu haben, dass sie Subjekt sind, dass sie nicht nur Objekt sind - Großverdienste im Kampf gegen Ausbeutung. Allerdings mit dem Versagen, sich überschätzt zu haben und sich an die Stelle des lieben Gottes gesetzt zu haben.

    Jepsen-Föge: Herr Blüm, Sie sind seit 1950 Mitglied der CDU, also sehr schnell in diese Partei eingetreten. Warum wollten Sie sich überhaupt politisch engagieren und warum in der CDU? War es das C für christlich?

    Blüm: Ich war katholischer Pfadfinder, und zwar mit Leib und Seele, bin Werkzeugmacherlehrling geworden, mehr aus Zufall in die Jugendvertretung gewählt worden, und da ist mir gleich klargeworden, dass Jugendvertretung kein Geländespiel ist, sondern eine ernsthafte Sache, dass Du dafür Gewerkschaft brauchst. Das ist mir sehr schnell klargeworden, dass es nicht nur um Selbstbehauptung ging, sondern um Solidarität.

    Wenn Du in die Gewerkschaft gehst, da bist Du sofort in einem sozialdemokratischen - jedenfalls damals noch stärker als heute - in sozialdemokratischem Fahrwasser, und das war eigentlich nicht mein Fahrwasser. Da muss ich zugeben, auch als katholischer Pfadfinder hatte ich die Affinität zur christlichen Betriebsgruppe. Also bin ich in die christliche Betriebsgruppe gegangen. Und bist Du schon in der Gewerkschaft, dann mach' das ganz und geh' auch in die Partei.

    Dann lag die CDU näher. Aber nicht so sehr, dass ich da nächtelang Parteiprogramme studiert hätte und dann mich für die CDU entschieden, das war mehr aus dem Umfeld, aus dem Milieu heraus mit der Prägung christlicher Herkunft.

    Jepsen-Föge: Aber das ist ja nicht nur das Milieu der Pfadfinder, sondern …

    Blüm: Nein.

    Jepsen-Föge: … sie waren ja auch dann Doktor der Philosophie.

    Blüm: Man versteht frühere Entscheidungen öfter später besser, als man sie damals zum Zeitpunkt, in dem man sie fällen musste, die Urteile, durchschaut hat. Ich sehe schon in der christlichen Soziallehre eine große Klugheit. Sie vermeidet die Einseitigkeiten von Liberalismus und Sozialismus. Ich glaube, dass beide Extrempositionen eine Teilwahrheit verabsolutieren.

    Der Liberalismus verabsolutiert die Wahrheit, dass der Mensch Individuum ist. Das ist er, unverwechselbar, einzig. Der Sozialismus verwechselt die Teilwahrheit, dass der Mensch Gemeinschaftswesen ist, mit der ganzen Wahrheit. Auch das ist sein Fehler. Zwei sozusagen im Spiegelbild auftauchende Fehlurteile, beide haben eine Teilwahrheit für das Ganze erklärt.

    Der Mensch ist sowohl Sozialwesen wie Individuum, und die ganze Politik besteht in dem Kunststück der Balance zwischen individuellen Ansprüchen, Selbstverwirklichung, Freiheit, und Pflichten der Gemeinschaft, Solidarität, Mitmenschlichkeit, hier den Ausgleich, das Gleichgewicht zu finden.

    Die Krise, die wir weltweit erleben, ist auch eine Krise eines losgelassenen, eines wildgewordenen Individualismus.

    Jepsen-Föge: Aber war das auch damals so? Sie waren ja sozusagen Ihr Politikerleben lang Sozialpolitiker, lange Geschäftsführer der Sozialausschüsse in der CDU, dann lange Bundesvorsitzender der Sozialausschüsse. Mussten Sie damals auch schon, als es begonnen hat, etwas auspendeln?

    Blüm: Ja. Ich meine, die stärkste Zeit der Sozialausschüsse ist die Zeit, in der sie im großen Konflikt mit dem Wirtschaftsflügel stand. Und das hat beiden Seiten gutgetan. Ich halte nichts von einer Volkspartei, die so auf dem Hauptnenner der allgemeinen, nichtssagenden Gemeinplätze sich versammelt.

    Es geht darum, im Streit, in der Diskussion den Weg zu finden. Das ist im Übrigen auch der Vorteil der Demokratie, dass ihre Entscheidungen nicht vom Himmel fallen. Und eine Volkspartei, die Volkspartei bleiben will, die muss geradezu die Kämpfe organisieren, die darf das nicht unterflügeln.

    Ohne Flügel - um im Bild zu bleiben - erhebt sich niemand. Und ich glaube, man könnte selbstkritisch feststellen, dass die Flügel schwächer geworden sind, was der Volkspartei nicht guttut.

    Jepsen-Föge: Die Flügel oder der Flügel der Sozialausschüsse, denn tatsächlich, wenn Sie sagen, heute müsste man eigentlich gegenhalten gegen die zunehmende Individualisierung: Von den Sozialausschüssen hört man heute doch gar nichts.

    Blüm: Ja, Sie teilen damit das Schicksal, das nicht nur die Sozialausschüsse erfasst hat, sondern die Arbeiterbewegung insgesamt. Auch die Gewerkschaften sind schwächer geworden. Vielleicht liegt es auch daran, dass, solange wir im Ost-West-Konflikt standen, im Systemwettbewerb, die Sozialpolitik eine Legitimationsgrundlage unserer Wirtschaftsordnung war.

    Wir mussten beweisen, sozialer zu sein als die Kommunisten. Nachdem der Kommunismus zusammengebrochen ist, glauben offenbar manche, jetzt könnte der Kapitalismus triumphieren, und wenn man sich das abseits oder unterhalb der ideellen Auseinandersetzung ansieht: Die Arbeiterbewegung hat auch einen Wettbewerbsnachteil, das Kapital ist global, die Arbeit sehr lokal. Das Kapital agiert weltweit, die Sozialpolitik national. Und das ist eine Asymmetrie, die dem Sozialstaat nicht guttut.

    "Blüm: Der Schiedsrichter kann nicht mitspielen."

    Krise der sozialen Marktwirtschaft

    Jepsen-Föge: Sind wir schon da, nach Ihrer Einschätzung, dass aus der sozialen Marktwirtschaft das Adjektiv "sozial" gestrichen wurde?

    Blüm: Ja, die Gefahr sehe ich, die hängt damit zusammen, dass mancherorts die Globalisierung verstanden wurde als Kostenwettbewerb, also reduziert: Wer produziert am billigsten? Der gewinnt. Wenn das das Motto der Globalisierung ist, dann müssen wir wieder zurück ins 19. Jahrhundert, dann müssen wir Kinderarbeit einführen. Die ist immer billiger. Oder dann müssen wir Arbeitsschutz aufgeben. In China haben sie pro Jahr im Bergbau 6000 Tote. Also wer damit konkurrenzfähig sein will, muss den Arbeitsschutz abbauen.

    Sie sehen doch, das führt doch in die Sackgasse, das führt in eine Welt, die im Chaos landet. Insofern - soziale Marktwirtschaft ist nicht nur eine Sache für Arbeitnehmer, das ist ein Friedensangebot. Und ich behaupte, es funktioniert gar keine Marktwirtschaft ohne Sozialstaat, sie ist auf den Sozialstaat angewiesen, denn erst, nachdem die großen sozialen Risiken - Alter, Krankheit, Unfall - aus dem Betrieb externalisiert wurden, erst von diesem Zeitpunkt an war überhaupt eine Marktwirtschaft funktionsfähig, die sich im Wettbewerb bewährte und am Gewinn orientierte.

    Solange der Betrieb alles war, Familie, Altersversicherung, Krankenversicherung, solange er sozusagen die umfassende Lebensordnung war, solange gab es keine Marktwirtschaft.

    Jepsen-Föge: Hat der Sozialstaat vor der Globalisierung kapituliert?

    Blüm: Nein. Ich glaube, es wächst ja auch die Einsicht, dass wir Spielregeln brauchen. In diesem Getümmel, in dem bisher immer nur gerufen wurde "Wettbewerb, Wettbewerb, Markt, Kostensenkung", taucht plötzlich als Rettung des Wettbewerbs der Ruf auf: "Ordnung, Staat, Spielregeln".

    Das, was der Nationalstaat hier in Deutschland als soziale Marktwirtschaft etabliert hatte unter Ludwig Erhard, das kann jetzt nicht mehr national sich begnügen, das muss in einen internationalen Rahmen.

    Nun gibt es keinen Weltstaat, ich halte ihn auch nicht für erstrebenswert, aber wir brauchen Spielregeln, einen Ordnungsrahmen für den Wettbewerb. Der Wettbewerb kann nicht alles organisieren. Das ist eine Überschätzung des Wettbewerbs. Ich bin Anhänger des Wettbewerbs, aber er ist nur in einem Teilbereich des Lebens möglich und er braucht Organisation.

    Er braucht beispielsweise eine Finanzordnung, das zeigt sich doch jetzt. Es können nicht die Rating-Agenturen Unternehmen bewerten, von denen sie bezahlt werden. Das ist eine ganz einfache Spielregel. Der Schiedsrichter kann nicht mitspielen.

    Das muss international durchgesetzt werden. Im Arbeitsschutz, da haben wir eine internationale Arbeitsorganisation in Genf, mit Verlaub gesagt: Die pennt! Die produziert Papiere, deren Hauptbeschäftigung heißt: Berichte erstatten. Die muss sich mal als Normgeber stärker bewegen, und wenn sie eine Konvention zustande bringt, dann muss sie dafür sorgen, dass die durchgesetzt wird. Wir haben eine Konvention von fast allen unterschrieben: Verbot der Kinderarbeit.

    Sehen Sie sich mal in der Welt um, wie es aussieht. Was nützt dieses bedruckte Papier und dieses Gelabere, globale Gelabere, wenn es nicht Sanktionen gibt, auch eine Ordnung durchzusetzen? Dafür müssen wir die Institutionen auch ausstatten.

    "Blüm: Es gab sogar mal eine Zeit, da hatte ich die Rücktrittserklärung immer in der Brieftasche."

    Minister im Kabinett Kohl

    Jepsen-Föge: Sie waren 16 Jahre lang unter Kanzler Helmut Kohl Bundesminister für Arbeit und Soziales, Sie sind der Einzige, der von Anfang an, nämlich von 1982 bis 1998, am Kabinettstisch Helmut Kohl saßen. Woran liegt das? Waren Sie für Helmut Kohl so unentbehrlich für diesen Bereich Sozialpolitik, oder ist es Zeichen eines ganz besonders intensiven Vertrauensverhältnisses zwischen Helmut Kohl und Norbert Blüm?

    Blüm: Das weiß ich auch nicht, da habe ich auch nicht sehr viel drüber nachgedacht, denn Zeit sagt noch nichts über Qualität. Ich kenne Leute, die 20 Jahre im Amt sind und vielleicht 19 Jahre zu viel, und andere, die ein Jahr im Amt sind und viel geleistet haben. Also sagt Dauer noch nichts. Auch 16 Jahre Blüm sagt noch nicht, ob Blüm gut oder schlecht war.

    Um 16 Jahre das Amt zu verwalten, gehört in der Tat eine gewisse Ausdauer dazu, eine gewisse Hartnäckigkeit, die ich für den Politikerberuf auch für unverzichtbar halte. Mich stört eine gewisse Flatterhaftigkeit, die sehr schnell aufgibt. Es gehört eine gewisse Hartnäckigkeit dazu, Probleme zu meistern, auch, wenn es im ersten Anlauf nicht gelingt. Und wenn du sechs Mal nicht ans Ziel kommst, musst du es beim siebten Mal noch mal probieren.

    Jepsen-Föge: Hatten Sie denn auch zwischendurch mal überlegt, hinzuwerfen, zurückzutreten?

    Blüm: Ach, es gab sogar mal eine Zeit, da hatte ich die Rücktrittserklärung immer in der Brieftasche, weil Du nicht sagen darfst, ich werde, ich will zurücktreten - wenn Du zurücktrittst, musst Du es machen.

    Ich habe zwar gesagt, ich bin für Hartnäckigkeit - nicht aufgeben -, aber man muss wissen, es gibt Grenzen der Zumutbarkeit. Ich bin ein Anhänger des Kompromisses, er ist eine der größten Erfindungen der Menschheit. Aber der Kompromiss hat seine Grenzen. Es gibt bestimmte Sachen, da musst Du sagen: Ende der Fahnenstange. Da mache ich nicht mit! Solche Situationen gab es schon, aber Gott sei Dank ist mir nie etwas zugemutet worden, was gegen mein Gewissen war.

    Jepsen-Föge: Noch mal zurück zu Ihrem Verhältnis zu Helmut Kohl. In seinen Erinnerungen kommen Sie bei Helmut Kohl nicht gut weg, er erwähnt vor allem Ihre Rolle Anfang 1989, das war also noch sozusagen ungefähr ein halbes Jahr vor dem Mauerfall, wo es einen bedeutenden CDU-Bundesparteitag in Bremen gab.

    Und er wirft Ihnen vor, sozusagen zu den Putschisten - das ist jetzt mein Wort - gehört zu haben, nämlich zu denen, die ihn als CDU-Vorsitzenden und dann auch als Kanzler absetzen wollten, und durch Lothar Späth ersetzen wollten. Wie sehen Sie sich da durch Helmut Kohl getroffen und richtig beurteilt?

    Blüm: Getroffen bin ich überhaupt nicht, das ist die Einschätzung von Helmut Kohl, die bleibt ihm unbenommen. Offenbar war es ja damals nicht seine Einschätzung, sonst wäre ich ja nicht nach 1990 noch acht Jahre Arbeitsminister geblieben. Das scheint ja eine verspätete Einsicht zu sein, die allerdings - aus meiner Sicht - nicht mit den Fakten übereinstimmt. Ich war und bin gegen die Entlassung von Geißler gewesen.

    Jepsen-Föge: Heiner Geißler, den damaligen Generalsekretär.

    Blüm: Der Geißler ist von Kohl auf freier Wildbahn, sage ich mal, aus dem Verkehr gezogen worden, um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen, jedenfalls abgesetzt worden. Das fand ich nicht nur undankbar, das fand ich auch dumm. Denn ich habe Heiner Geißler als einen der besten Generalsekretäre gehalten, halte ihn nach wie vor für einen großen strategischen Kopf, habe das nicht heimlich hinter dem Rücken, sondern auch laut, auch Helmut Kohl gegenüber gesagt, befand mich also im Gegensatz zu ihm. Allerdings war ich nicht dafür, ihn auszuwechseln durch Lothar Späth.

    "Blüm: Welche Aufbruchsstimmung, welche Bereitschaft zur Solidarität - sie ist uns leider wieder entschwunden."

    Glücksfall deutsche Einheit

    Jepsen-Föge: Ich will doch noch mal zurückkommen auf diesen Bremer Parteitag und das ganze zeitliche Umfeld 1989. Denn tatsächlich war das ja eine Zeit, so hat auch Helmut Kohl das empfunden und beschrieben, in der sein Ansehen rapide gefallen war und auch die Befürchtung der Union, bei den nächsten Wahlen schlecht abzuschneiden. Also - gehörten auch Sie damals zu den Kritikern und was hätten Sie damals an der Politik Helmut Kohl vorgeworfen?

    Blüm: Zunächst mal bin ich nicht so personell fixiert. Politik hat zwar mit Personen zu tun, aber es geht immer um Inhalte. Und es gab auch damals einen Auftrieb, die Sozialpolitik etwas zur Seite zu schieben. Das ist ja Gott sei Dank verhindert worden. Und die deutsche Einheit hat uns gezeigt, dass es ohne Sozialpolitik gar nicht geht.

    Ich meine, die deutsche Einheit wäre - was ja oft unterschätzt wurde - gar nicht gelungen ohne Renteneinheit, Krankenversicherungseinheit, ohne die großen, sozialstaatlichen Errungenschaften jetzt für alle zu öffnen. Das ist eine große Leistung des Sozialstaates.

    Aber in der Tat gab es damals - ich nenne es mal - Verschleißerscheinungen. Es gibt ja Leute, die ernsthaft sagen, nach acht Jahren wird jede Regierung etwas gefährdet. Und ich glaube auch, nach 16 Jahren - da sind wir ja abgelöst worden - gibt es in der Demokratie so einen Rhythmus: Der ist offenbar ein Rhythmus der demokratischen Natur, dass mal irgendwann der Wechsel fällig ist.

    Und vielleicht ist in der schnelllebigen Zeit dieses Wechselbedürfnis schneller, als es der Sache guttut. Dieses Wechselbedürfnis gab es ganz unzweifelhaft 1990. Und wäre die deutsche Einheit nicht gekommen, wäre vielleicht auch manches anders gelaufen. Ich sage, Gott sei Dank ist sie gekommen, nicht nur der CDU wegen.

    Jepsen-Föge: So gab es sozusagen zwei Achtjahresperioden.

    Blüm: Ja.

    Jepsen-Föge: Vor der deutschen Einheit und nach der deutschen Einheit.

    Blüm: Ja, ich glaube, die deutsche Einheit ist eine richtige Zäsur. Da ist sozusagen das Spiel noch mal angepfiffen worden. Man kann ja auch schlecht jetzt im Nachhinein sich noch mal vorstellen, was das war. Das kam ja über Nacht. Es gab ja keine Modellversuche. Und wir mussten über Nacht - noch mal in meinen Bereich - vier Millionen Rentnern aus der DDR, über Nacht die Renten umstellen, ausrechnen, auszahlen, eine Arbeitsverwaltung aufbauen, mit 11.000 Mitarbeitern, von denen 8000 noch nie das Arbeitsförderungsgesetz gelesen haben!

    Vergleichbares gibt es in der Geschichte des Sozialstaates nicht. Gäbe es das unter normalen Bedingungen in Westdeutschland, hätten wir erst mal drei Jahre Modellversuche gemacht, vier Enquete-Kommissionen eingesetzt und nach zehn Jahren wären wir soweit gewesen.

    Das war ein ungeheurer Aufbruch, und da muss ich voller Bewunderung sagen, da haben Millionen von Menschen mitgewirkt, in Ost und West, sind über alle Schatten gesprungen. Dass ich in einer solchen Zeit dabei war, das ist eine außergewöhnliche Zeit mit ungeheuer viel Idealismus, auch im Osten, über Nacht sich umstellen auf ein ganz neues System, mitwirken. Welche Aufbruchsstimmung, welche Bereitschaft zur Solidarität - sie ist uns leider wieder entschwunden.

    Jepsen-Föge: Sie haben bei Ihrer Abschiedsrede 1998 gesagt, ich zitiere: "Die deutsche Einheit ist die große Bewährungsprobe des Sozialstaates Deutschland." Wurde die Bewährungsprobe bestanden?

    Blüm: Ja, so wie unter Menschen allerdings das "ja" zu verstehen ist: Nicht perfekt und nicht ideal. Aber es ist uns Erstaunliches gelungen, nämlich, ohne Schrittwechsel, ohne dass wir erst durch ein Tal von Katastrophen mussten, auch die soziale Einheit herzustellen - mit großen Opfern, Arbeitslosigkeit. Aber ich behaupte, die wären auch gekommen ohne deutsche Einheit.

    Das System, nicht nur in der DDR, im ganzen Osten, war am Ende. Das beweisen ja auch die geheimen Berichte der SED, dass sie im Grunde bankrott waren, dass es nicht das Ergebnis der deutschen Einheit ist. Und den Bankrott muss man als Systembankrott verstehen. Es sind ja nicht die Menschen gewesen, es haben ja in Frankfurt an der Oder die gleichen fleißigen, intelligenten Menschen gelebt wie in Frankfurt am Main.

    Dass es diese Unterschiede gab, waren Systemunterschiede, und die zu überwinden - was nie perfekt gelingt - , das halte ich für eine bestandene Herausforderung. Ein Glücksfall, eine glückliche Stunde, ich meine, was hätten wir alles bezahlt.

    Wenn ich jetzt höre, was hat uns das gekostet, was hätten wir denn bezahlt, wenn 1980 uns jemand gefragt hätte: Wie viele Milliarden wollt ihr bezahlen, wenn die Sowjetunion ihre Raketen abzieht? Da hätten wir das Dreifache bezahlt!

    Und was hätte ein Krieg gekostet, der in Deutschland stattgefunden hätte, wenn die deutsche Einheit nicht stattgefunden hätte, sondern irgendwann die beiden feindlichen Systeme aufeinander losgeschlagen hätten? Dann hätten sie in Deutschland aufeinander losgeschlagen, kein anderer Platz der Welt war das Schlachtfeld der Zukunft.

    Und dass uns das erspart blieb - ich habe Krieg erlebt, nicht an der Front, als Kind. Es ist das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Und dass uns das gelungen ist, und dann noch mit unseren Nachbarn, mit Frankreich, England, Polen, nicht gegen Sie - das ist doch ein gutes Erbstück für die Zukunft.

    "Blüm: Mein Sozialstaat hat auch mit der Leistungsgerechtigkeit zu tun."

    Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik

    Jepsen-Föge: Herr Blüm, zur Sozialpolitik vor und nach der Wiedervereinigung: Sie haben, wenn man das rückblickend betrachtet, auf der einen Seite das Netz sozialer Sicherheit enger geknüpft, Sie haben die Pflegeversicherung verankert, sozusagen als letztes wichtiges Stück - aber Sie haben auch mit dem begonnen, was Ihre Kritiker Abbau des Sozialstaates nennen?

    Und heute sind Sie ja selber ein Kritiker, der heute viel vom Abbau des Sozialstaates spricht. Also, es gab auch zu Ihrer Zeit weniger Leistung, zum Beispiel bei der Lohnfortzahlung, dem Kündigungsschutz. Rentenreformen gab es auch, die ja im Kern bedeuteten: Mehr Beiträge und weniger Leistungen. War das auch damals der Situation wie heute geschuldet, den Haushalt auszugleichen?

    Blüm: Zunächst mal muss ich bei den Kritikern sortieren, da komme ich immer etwas in Versuchung, durcheinanderzukommen. Da gibt es die einen Kritiker, die sagen, ich hätte 16 Jahre geschlafen, Reformstau, und jetzt müssen sie den ganzen Reformstau auflösen. Dann gibt es Kritiker, die sagen, Du hast doch den Sozialabbau vorangetrieben - also, was habe ich denn jetzt gemacht?

    Ich will diesen Streit nicht vertiefen. Ich sage: Sozialpolitik ist immer ein Geben und Nehmen. Es kann nicht so sein - das ist jedenfalls eine Illusion - es wird immer mehr, mehr, mehr, die ganzen Reformen bestehen nur in Mehrausgaben. Denn eine solche Politik übersieht, dass die, die davon beglückt werden sollen, es am Schluss selber bezahlen.

    Ich meine, Du darfst bei der Sozialpolitik nicht nur daran denken, wer die Empfänger sind, sondern wer es auch bezahlt. Und das ist in einer Gesellschaft wie der unseren sind das die Arbeitnehmer in Hauptsache. Ich bin auch dafür, dass die reichen Leute mehr zur Kasse gebeten werden, aber so viel Geld bringen die nicht auf, wie die Lohnsteuer beispielsweise aufbringt.

    Und auch Beitragsbelastungen haben ihre Grenze, also musst Du auch immer sehen, die Belastungen in Schach und Proportion zu halten, da musst Du auch zurücknehmen. Und wenn Du wie beispielsweise in der Pflegeversicherung ausbaust, dann musst du fragen, wo du an anderer Stelle möglicherweise die Kompensation schaffst.

    Jepsen-Föge: Hängt das auch damit zusammen, dass es einfach so ist aufgrund der demografischen Entwicklung, dass es weniger Menschen sind und für kürzere Zeit, die einzahlen in soziale Sicherungssysteme, und mehr sind, die empfangen, und zwar für längere Zeit?

    Blüm: Ja, das ist eine Komponente, allerdings eine völlig überschätzte. Ich glaube nicht, dass das Hauptproblem unseres Sozialstaates - entgegen anderslautenden Meldungen - die demografische Entwicklung ist. Was wäre eigentlich gewonnen, wenn die doppelte Anzahl von Kindern geboren worden wäre, aber die Kinder keine Arbeit hätten?

    Es kommt also nicht so sehr darauf an, wie viele Köpfe und Hände geboren werden, sondern es kommt darauf an, dass die, die geboren werden, Arbeit haben und zwar produktive. Käme es nur auf die Zahl der Kinder an, müssten die ja im Kongo eine hervorragende Alterssicherung haben oder in Brasilien. Das sind sehr viele Köpfe.

    Oder ein anderes Beispiel: 1900 hat ein Bauer drei Nicht-Landwirte ernährt, heute ernährt er 88. Nach der Kopfzahltheorie müssten wir jetzt verhungert sein. Sind wir Gott sei Dank nicht, es kommt auf die Produktivität an. Und deshalb ist die Hauptaufgabe der Sozialpolitik wichtiger als jede demografische Entwicklung: Arbeit für alle, produktive Arbeit. Wenn allein die, die arbeitslos heute sind, Arbeit haben, dann haben Sie einen Großteil des demografischen Problems gelöst.

    Jepsen-Föge: Also dann könnten man sagen, wenn ich einmal dazwischen gehen darf: Eine gut funktionierende Marktwirtschaft ist dann eigentlich auch die beste Sozialpolitik.

    Blüm: Ja, das muss ich etwas einschränken. Es gibt ja auch Menschen, die gar nicht an dem Markt teilnehmen können. Es darf nicht eine Marktwirtschaft sein, die nur an diejenigen bedenkt, die Marktteilnehmer sind. Ein Großteil der Menschen, zum Beispiel die Kinder, können noch nicht teilnehmen und die Alten nicht mehr. Dann gibt es Behinderte. Also: Es ist nicht eine Insidergesellschaft, die nur für diejenigen - die Gefahr ist groß - die nur für diejenigen sorgt, die in die Marktwirtschaft, in den Wettbewerb integriert sind.

    Ich muss sagen: Du musst allerdings immer einen Orientierungsmaßstab für alles haben. Und meine Kritik an der gegenwärtigen sozialen Politik ist, dass sie immer mehr Menschen abdrängt in die Sozialhilfe, in die Fürsorge, und dass damit das Versicherungsprinzip geschwächt wird. Das kann ich feststellen in der Arbeitslosenversicherung, Abdrängen in die Sozialhilfe. Das stelle ich fest durch die Riester-Rente, die hat keine Antwort für diejenigen, die sich gar keine Riester-Rente leisten können, deren Rente aber mit Hilfe von Riester abgesenkt wurde. Wir werden mehr Altersarmut produzieren. Damit landen immer mehr Menschen in der Fürsorge, und das ist nicht mein Sozialstaat.

    Mein Sozialstaat oder den, den ich verteidige, der hat es nicht nur mit der Bekämpfung von Armut zu tun, der hat es mit der Vermeidung von Armut zu tun, der hat es damit zu tun, dass derjenige, der ein Leben lang arbeitet, eine anständige Rente bekommt und dass da nicht geprüft wird, ob er noch ein Haus hat, ob er bedürftig ist. Der hat geleistet, der hat gearbeitet, Beitrag gezahlt, also bekommt er eine anständige Rente.

    Wenn die Rente immer mehr abgesenkt wird, wenn sie zum Schluss niedriger ist als die Fürsorge, dann ist das System am Ende, dann heißt es ja: Arbeit ist eigentlich eine Dummheit, geh' doch gleich zur Sozialhilfe. Die, die diese Sozialhilfepolitik betreiben, die überschauen gar nicht, dass sie das System, das auf Leistungsbewertung, Anerkennung und Solidarität angewiesen ist, dass sie das ruinieren.

    Ich meine, die schreien "weniger Staat", produzieren aber pausenlos mehr Staat. Das sehe ich in der ganzen Sozialpolitik. In der Krankenversicherung setzt jetzt der Staat die Beiträge fest. In der Rentenversicherung werden wir mehr Sozialhilfe haben, in der Arbeitslosenversicherung. Mein Sozialstaat hat es auch mit der Leistungsgerechtigkeit zu tun, er hat es nicht nur mit der Bekämpfung von Armut zu tun.

    Jepsen-Föge: Herr Blüm, kein Satz von Ihnen wird so häufig zitiert wie der: "Die Rente ist sicher", oder abgewandelt: "Aber eines ist sicher: Die Rente." Was hieß das in Ihren Gedanken, und könnte der Arbeits- und Sozialminister von heute dasselbe mit gleichem Recht sagen?

    Blüm: Ja. Und heute noch mehr, weil nun augenscheinlich ist, dass die Rente das einzige Alterssicherungssystem ist, das den Turbulenzen der Weltfinanzwirtschaft entzogen ist.

    Jepsen-Föge: Auch ein ausreichendes?

    Blüm: Ja, da muss man allerdings bereit sein, mehr Beiträge zu zahlen. Aber mehr Beiträge, als heute jemand bezahlen muss, der Riester und Rente finanziert, ist es auch nicht. Wenn man das Geld, die Beiträge, die in die Riester-Rente gesteckt werden, vier Prozent, wenn man das in die Rentenversicherung fließen lassen würde, wären die Rentenprobleme gelöst. Und der große Vorteil: Es hätten alle etwas davon, auch die Kranken, auch die Erwerbsunfähigen. Für die ist die Riester-Rente keine Antwort, die haben ja keinen Beitrag.

    Und für mich muss ein Sozialstaat auch für jene sorgen, die keinen Beitrag leisten können. Das ist neben der Leistung das zweite große Prinzip des Sozialstaates: Solidarität. Und ich kann das sogar in Zahlen festmachen: Als ich mein Amt abgegeben habe, war 24 Prozent der höchste Beitragssatz für 2030. Riester hat es geschafft, hurra, diesen Beitragssatz auf 22 abzusenken. Jetzt klatschen alle Beifall. Moment mal: Plus vier Prozent Riester - 22 plus 4 sind 26 - ist mehr! Und für mich ist es nicht verwunderlich. Beispielsweise sind die Verwaltungskosten der Privatversicherung unvergleichlich höher: Die Rentenversicherung, 1,5 Prozent der Einnahmen für Verwaltung, die Privatversicherung bis 25 und mehr.

    Ich habe nichts gegen Privatversicherungen - als Ergänzung finde ich sie nicht nur geeignet, sondern wünschenswert. Aber sie kann nicht die Basis des Sozialstaates liefern, und das ist der Grundirrtum. Und insofern ist hier ein Paradigmenwechsel vorgenommen worden, also eine wirkliche Umsteuerung. In der Rentenversicherung galt bisher die unabhängigere Variable, das angestrebte Sicherungsniveau, zu meiner Zeit 70. Dann haben wir es abgesenkt, um die Belastung in Grenzen zu halten, aber auf 64. Da sollte es sein. Jetzt sagt die Regierung: Nicht das Sicherungsziel ist die unabhängige Variable, sondern der Beitragssatz 22 Prozent. Damit ist die Sicherung, also das Niveau, eine abhängige Variable und sozusagen auch dem Fall, dem freien Fall, wenn es sein muss, anheim gegeben.

    Das ist eine andere Sozialpolitik. Es ist nicht meine, deshalb werde ich sie auch bekämpfen, und ich bin ganz sicher: Die Zeichen der Zeit sprechen nicht für das neoliberale Paradigma, denn mehr Staat heißt auch mehr Privatisierung. Die arbeiten sich in die Hände. Die Privatisierer des Sozialstaates, die brauchen den Fürsorgestaat als letztes Netz. Die, die das letzte Netz da bauen, die brauchen zur Ergänzung die Privatisierung. Die Neoliberalen und die Kollektivisten sind, Sie werden es nicht glauben, Bündnisbrüder, geheime Koalitionspartner. Das, was wir wollen, liegt dazwischen: solidarische Selbstverantwortung.

    Jepsen-Föge: Vielleicht gibt es deshalb die große Koalition. Herr Blüm, Sie sind auch in Erinnerung - und diesen Aspekt zum Schluss - als Kämpfer für die Menschenrechte, zum Beispiel durch Ihre Begegnungen, als Minister ja noch, mit dem chilenischen Diktator Pinochet oder dem südafrikanischen Staatspräsidenten der Apartheit-Zeit Botha. Das haben Sie als Sozialminister getan. Hätten Sie da eigentlich mehr Engagement für die Menschenrechte damals von dem Kanzler und dem Außenminister nicht erwarten müssen?

    Blüm: Ach, ich spreche nachträglich kein Urteil. Du bist ja nicht nur Sozialpolitiker, Du bist Mensch, und Menschenrechte sind keine Ressortangelegenheit. Ich glaube, dass es das beste Erbstück der christlichen Botschaft ist. Wenn es etwas gibt, was die christliche Botschaft auch originell beigetragen hat, dann der Gedanke, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, alle. Dass es keine Kasten gibt, keine Klassen, dass alle Kinder Gottes sind.

    Und wenn sie alle Kinder Gottes sind, sind sie auch alle Geschwister. Und da gibt es keinen Grund, keinen denkbaren - ich muss gar nicht diskutieren -, Menschen zu foltern. Ich muss nicht fragen, warum gefoltert wird, und da muss es eine übergroße Koalition geben, nicht nur aus Christen. Aber die Christen müssen zu uns sagen, die Inspiration in diese Weltöffentlichkeit bringen, dass alle Menschen ein Recht haben auf ein würdiges Leben, als Kinder Gottes zu leben. Wie jemand seine Gesellschaft einrichtet, ist seine Sache, das muss der Toleranz anheimgestellt werden. Aber es gibt ein paar Sachen, die sind völlig unabhängig, und dazu gehören die elementaren Menschenrechte.

    Jepsen-Föge: Applaudieren Sie da denn ab und zu der heutigen Bundeskanzlerin Angela Merkel für Ihre Politik?

    Blüm: Na, ich habe mit Respekt gesehen, dass sie dem Putin widerstanden hat, dass sie nicht gesagt hat, wie ihr Vorgänger, es wäre ein lupenreiner Demokrat - das fand ich einen Skandal angesichts der Menschenschlächterei in Tschetschenien. Ich bin ja auch schon mal aus Moskau rausgeflogen wegen dieser Sache. Und dass sie auch in China den Mund aufgemacht hat. Ich glaube schon: Geschäft ist eine Sache, aber wenn alles dem Geschäft untergeordnet wird, dann ist die Humanität auf der Welt verloren. Und da zolle ich der Kanzlerin Beifall.

    Jepsen-Föge: Herr Blüm, ganz zum Schluss: Sie spielen auch gern Theater, auch Kabarett, etwa gemeinsam mit dem Schauspieler und jetzigen Präsidentschaftskandidaten der Linken Peter Sodann. Sind die Grenzen zwischen Politik und Schauspielerei fließend, oder sind gar Politik und Schauspiel zwei Seiten einer Medaille?

    Blüm: Die haben etwas Gemeinsames, ich sage es gleich, und etwas elementar Unterschiedliches. Der elementare Unterschied liegt darin, dass Schauspiel, wie der Name es sagt, ein Spiel ist, und Politik existenzieller Ernst.

    Mit anderen Worten: Wenn ich auf der Bühne des Kabaretts einen Fehler mache, dann gibt es Pfiffe, und die Leute gehen möglicherweise enttäuscht nach Hause. Das war es dann. Wenn Du in der Politik Fehler machst, da betriffst Du das Schicksal von möglicherweise Millionen von Menschen. Die Folgen also von Fehlentscheidungen sind in der Politik höher, und deshalb auch die Verantwortung.

    Die Gemeinsamkeiten: Beide sind auf Beifall angewiesen. Der Politiker auf Zustimmung, der will ja gewählt werden - ich meine der demokratische Politiker, mit dem der Politiker in einer Diktatur hat das nichts zu tun. Aber der demokratische Politiker braucht Beifall, der muss um Zustimmung kämpfen.

    Und was will ein Kabarettist, was will ein Schauspieler? Er will auch Beifall. Also sind beide auch außengesteuert. Für Autisten ist weder der Politikerberuf geeignet noch der Schauspielerberuf.

    Jepsen-Föge: Vielen Dank, Herr Blüm!