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"Die Revolution wird siegen!"

Ägypten bleibt nach der Revolution in Unruhe. Trotz Mubaraks Sturz, trotz Wahlen: Der Wille des Volkes zu einer wirklichen Systemerneuerung bleibt - gegen den Willen des herrschenden Militärrats. Immer noch ist Protestieren unter Umständen lebensgefährlich.

Von Susanne El Khafif | 23.01.2012
    Es ist Januar, früh am Morgen. Auf dem "Midan at-Tahrir" inmitten Kairos hat längst der neue Tag begonnen. Mikrobusse, Pkws und Motorräder verbreiten den für Ägyptens Hauptstadt üblichen Lärm: Berufstätige im Anzug, Schulkinder in Uniform. Sie alle hasten vorüber. Aus den Aufgängen der Metro strömen die Menschen. Einzig in der Mitte des Platzes, umtost vom Verkehr, stehen ein paar Zelte, aus einfachen Plastikplanen nur und aus Leinen in den Farben Ägyptens - schwarz, weiß, rot. Darüber hängen Plakate. "Nein, zum Militärrat", steht darauf, und "Nieder mit der Militärherrschaft". Der Zeltplatz ist vom Rest des Tahrir abgetrennt, recht provisorisch nur mit Schnüren. Am Eingang steht ein Mann, seine Augen sind müde. Doch mit einer Handbewegung lädt er dazu ein, den Platz zu betreten. Ob er schon lange hier ist? Obwohl ihn doch kaum jemand beachtet?

    "Ich bin seit 45 Tagen hier", sagt er. "Ich will, dass der Militärrat geht, und wenn ich hier auf dem Platz sterbe. Wenn er abtritt, dann gehe ich nach Hause. Für mich gibt es keine andere Option." In einer Ecke stehen vier, fünf größere Zelte nebeneinander. Davor sitzen Männer. Der eine hat Krücken, dem anderen wurde die Hand bandagiert, wieder andere haben Pflaster im Gesicht. Ein älterer Mann mit Brille ergreift das Wort:

    "Das ist das Lager der Verletzten, das Lager der verletzten Revolutionäre. In Alexandria kam nachts die Baltagiyya und hat uns vertrieben."

    Plötzlich kommt Unruhe auf. In einem der Zelte wird fieberhaft nach etwas gesucht. Ein Handy ist gestohlen worden. Wer hat es genommen? Einer der Demonstranten? Nein, heißt es, hier seien alles ehrliche Leute. Es sei einer von denen da hinten gewesen, einer von der Baltagiyya, Schlägertrupps, die dafür bezahlt würden, Zwietracht zu säen und Gewalt zu schüren. Tatsächlich befinden sich abgesondert, auf der anderen Seite des Tahrir-Platzes, weitere, noch schäbigere Zelte. Vor ihnen hängen Halbstarke herum. Sie sehen verwahrlost aus, kommen wahrscheinlich aus den Slums. Ihr Haar ist wirr, die Kleidung schmutzig, und manch einem fehlt der Vorderzahn. Zwei weitere Männer gesellen sich zu der Gruppe, die noch immer ratlos ist über den Handyklau. Der eine stellt sich als Abu Abdallah vor, der andere als Hussam. Beide sind ordentlich gekleidet, Jeans und Trekkinghose, Pullover und Jacke. Doch beide haben sich ein Tuch um den Kopf geschlungen, so, wie auch die anderen. Der eine, Abu Abdallah, ist Mathematiker, der andere Jurist, früher Richter beim Militär. Abu Abdallah spricht Deutsch. Er hat lange Zeit in Österreich gelebt und dort seine Frau kennengelernt.

    "Es gibt hier fast nur noch Verbrecher, sagt er, die Polizei hat sie eingeschleust. Sie will uns unterwandern und vom Platz jagen. Damit wir nicht mehr hier sind, am Jahrestag der Revolution. Und deshalb bin ich hier, sagt er. Ich will nicht, dass die anderen den Platz beherrschen, die, die unsere Sache in den Schmutz ziehen, sodass keiner mehr kommen will. Er ruhe sich zwei, drei Stunden zuhause aus, und komme dann wieder. Weil es vor allem nachts zu Übergriffen komme, von Sicherheitskräften und der Baltagiyya. Die Freunde sollen dann nicht alleine sein."

    Ende November 2011, kurz vor Beginn der ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes. Zehntausende strömen auf den Tahrir-Platz. Der Auftakt einer Demonstration, die tage-, nein, wochenlang anhalten wird. Die Menschen fordern diesmal den Rücktritt der neuen Machthaber, sie fordern den Rücktritt des Militärrates, der erst im Februar die Macht übernommen hat. Die Menschen werfen ihm vieles vor: Ignoranz, Unfähigkeit und Machtbesessenheit. Eigentlicher Auslöser der neuen Proteste aber ist ein Papier, das die von den Generälen eingesetzte Regierung vorgelegt hat. Das Militär will in der neuen Verfassung, die nach den Wahlen ausgearbeitet werden soll, eine Sonderrolle einnehmen. Es will Autonomie, was das eigene Budget angeht, und die gewaltigen Einnahmen aus dem Wirtschaftsimperium, das es über Jahrzehnte aufgebaut hat. Doch das Militär verweigert dem Parlament nicht nur die Kontrolle, es will sich über die Volksvertreter stellen, es behält sich ein Vetorecht vor - alle wichtigen Angelegenheiten des Landes betreffend. Die meisten politischen Kräfte stellen sich dagegen.

    Doch was von den Menschen auf dem Platz in friedlichem Protest begonnen wird, endet in einem Blutbad, mit vielen Toten und unzähligen Verletzten. Tage lang hängen Tränengasschwaden über dem Tahrir und seinen Nebenstraßen, die die meist jungen Demonstranten immer wieder zurückerobern. Immer wieder heißt es auch: "Friedlich, friedlich", doch die Lage eskaliert.

    Die Sicherheitskräfte greifen durch. Es wird geschossen, auch mit Schrot direkt in die Gesichter. Es wird geprügelt, erbarmungslos. Selbst auf die, die auf dem Boden liegen, wird eingeschlagen, getreten, bis sich nichts mehr rührt. Als eine junge Frau von der Militärpolizei halb ausgezogen und auf brutale Weise verletzt wird, kommt es zu einem Aufschrei in der ägyptischen Öffentlichkeit, fast so, als habe man erst jetzt erkannt, in welchem Zustand sich das Land befindet, politisch, aber auch moralisch. Das Video, das die Misshandlung der jungen Frau zeigt, kursiert im Internet. Einen Tag später erscheint ihr Bild in den Zeitungen.

    "Ich war wütend und zornig und so voller Ablehnung. Ich habe mich entehrt gefühlt. Dieses Mädchen war bloßgestellt. Ihr Bild ging um die ganze Welt. Jeder konnte es in den Zeitungen anschauen. Ich hatte das Gefühl, das hätte genauso gut ich sein können."

    Auch Reem gehört zu denen, die für einen zivilen Staat kämpfen. Reem, Ende 30, Reiseführerin, gläubige Muslimin, das Haar von einer lustigen Pudelmütze bedeckt, eine starke, eine temperamentvolle Frau. Die Härte, mit der die Sicherheitskräfte - diesmal auf Weisung des Militärrates – durchgriffen, hat auch sie erschreckt. Anfangs. Doch dann, erzählt sie, habe sie ihre Angst überwunden. "Wir haben den Militärrat zum ersten Mal so deutlich kritisiert", sagt sie, "und wir haben seinen Rücktritt verlangt. Deshalb hat er um sich geschlagen, er hat uns beschimpft und diskreditiert. Wir seien alles 'bezahlte Verbrecher', haben sie gesagt, und dass wir ein Komplott planen, um den Staat zu zerstören. Leider haben ihm viele geglaubt."

    Die Misshandlung der jungen Demonstrantin ist der Auslöser für eine neue, eine sehr spontane Protestaktion. Reem nimmt teil an einer Demonstration von Frauen. Für das konservative Land ist das untypisch, so, wie auch die hohe Zahl der Teilnehmerinnen. Über Nacht hat sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet, von Mund-zu-Mund, per Telefon und übers Internet. Tausende von Frauen gehen gemeinsam auf die Straße. In den Tagen danach drückt der Militärrat sein Bedauern über die Misshandlung der jungen Frau aus. Doch er spricht sich frei von jeder Schuld. Das Militär sei dafür verantwortlich, die Einrichtungen des Staates zu schützen, heißt es, und fragt weiter, warum denn keiner von der Gewalt spreche, der die Sicherheitskräfte ausgeliefert seien. Wird es reichen, um die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beruhigen? Die Meinungen sind geteilt. Zu tief sitzt bei vielen die Angst vor neuem Aufruhr und Instabilität. Das Militär gilt ihnen als Garant für eine Ordnung. Doch für andere steht fest: Das Militär hat seine Maske abgenommen und sein wahres Gesicht gezeigt. Das Militär, das sich einst den Befehlen Mubaraks widersetzte und die Gewehrläufe eben nicht auf das Volk richtete, dieses Militär hat sein Ansehen eingebüßt. Reem will es nicht pauschal verurteilen:

    "Unser Militär ist stark und hat eine ruhmvolle Geschichte. Deswegen respektiere ich es. Auch weil es heute die letzte stabile Säule in unserer Gesellschaft ist. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Militär und Militärrat. Im Militärrat sind nur 19 Personen vertreten; sie alle stehen hinter Mubarak. Es ist doch kein Zufall, dass sie alle unter ihm zu Macht und Einfluss kamen. Sie versuchen die ganze Zeit, die Uhr zurückzudrehen, das alte Regime wieder an die Macht zu bringen."

    "Das Militär", sagt Reem, "hat nichts in der Politik zu suchen. Seine Aufgabe ist es, die Grenzen zu verteidigen. Und nur da gehört es hin!"

    "Ich ging auf die Straßen und schwor, niemals umzukehren.
    Jede Straßenecke habe ich mit Blut beschrieben.
    Unsere Stimmen erreichten die, die nicht mehr hören konnten.
    Wir durchbrachen alle Schranken, machten unsere Träume zu unseren Waffen.
    Wir haben schon so lange gewartet und nach einem Platz für uns gesucht."

    "Saut al-Hurriya", die "Stimme der Freiheit", von Amir Eid und Hany Adel, wird zum Lied der ägyptischen Revolution. Als Videoclip geht es um die Welt. Gedreht auf dem Tahrir-Platz, dort wo im Januar 2011 erst Tausende, dann Hunderttausende, am Ende Millionen zusammen kommen. Nicht nur in Kairo, sondern auf den Plätzen und den Straßen aller großen Städte des Landes.

    Eine Massendemonstration, die keiner den Ägyptern je zugetraut hätte, die in diesem Ausmaß keiner vorhergesehen hatte, die friedlich blieb, und dabei eine Eigendynamik entwickelte, die Präsident Husni Mubarak und seine Regierung nicht mehr steuern konnten. Am Ende blieb nur noch eines: Der Präsident ließ durch Vizepräsident Omar Suleiman seinen Rücktritt verkünden.

    Abu Abdallah, der noch immer jede Nacht auf dem Tahrir-Platz ausharrt, um die anderen nicht im Stich zu lassen, wohnt mit seiner Familie in Haram, in dem Viertel, das an die Pyramiden von Gizeh grenzt. An diesem Nachmittag ist auch sein Freund Hussam, der ehemalige Militärrichter, auf ein Glas Tee vorbeigekommen. In der Wohnung ist es kalt. Eine Heizung gibt es nicht. Ein jeder fröstelt. Auf dem Tisch in der Mitte steht ein Laptop. Gemeinsam schauen sich alle die Fotos an, die zeigen, was vor einem Jahr auf dem Tahrir-Platz geschah. Die Fotos zeigen aufgewühlte Gesichter, Plakate mit sehr individuellen Botschaften: Aufrufe, Sprüche, Gedichte, und wo man hinblickt, die Farben Ägyptens. Jeder in der Familie ist dabei gewesen, Vater, Mutter, die drei Kinder, der Freund, die alte Tante. Die Augen leuchten.

    "Wenn ich diese Bilder heute sehe, aus den ersten Tagen der Revolution, dann würde ich am liebsten alles noch einmal erleben. Es waren so wunderbare, schöne und große Gefühle. Ich würde gerne zurückkehren und noch einmal erleben, was damals geschah."

    Abu Abdallah nickt, bestätigt, was sein Freund sagt.

    "Am Anfang haben die Leute noch gesagt, wir brauchen Veränderung, Frieden und soziale Gerechtigkeit. Und als dann nach den Kämpfen mit der Polizei immer mehr Menschen kamen, da hieß es auf einmal, das Volk will etwas anderes: Es will das System stürzen. Und da wusste ich: Das ist eine Revolution. Und sie hat gerade begonnen. Und darüber war ich so glücklich, ich fühlte all die Stärke und Kraft. Ein Gefühl des Sieges."

    Und was hat sie dazu gebracht, in diesen Tagen immer wieder auf den Tahrir-Platz zu gehen? Trotz der Angst, verletzt oder gar getötet zu werden? Und trotz der freigelassenen Verbrecher, die die Gegend unsicher machten und jeden Mann eigentlich dazu zwangen, mit Eisenstangen und Stöcken bewaffnet, die Nachbarschaft zu schützen und das eigene Heim.

    "Ach, da gibt es viele Gründe. Ich habe es nicht für mich getan. Ich habe schon die Welt gesehen, gelebt. Ich habe es für die Kinder getan. Es ist so schwer in diesem Land zu leben, gutes Essen zu haben, Arbeit zu finden, eine gute Schule, ein gutes Krankenhaus. Ich bin gegen das System. Es ist einfach ungerecht."

    Auf dem Weg nach Umraniyya, einem Viertel in Kairo, das die Leute hier "shaaby" nennen, "einfach", "volkstümlich". Ab von der Hauptstraße sind die Gassen schmal, der Boden ist unasphaltiert und voller Schlaglöcher, hier und da läuft Abwasser auf die Fahrwege, bildet Pfützen, mischt sich mit Sand und Staub. Ein jeder manövriert sich am anderen vorbei. Am Rand stehen Eselskarren, Obst- und Gemüsestände, die Ware ordentlich aufgereiht. Daneben jede Menge Abfallhaufen, die nicht entsorgt werden. Kurzum: Umraniyya, das ist ein Viertel wie viele andere, in denen die Verwaltung nur das Nötigste tut - eines, in dem viele Menschen leben, die wenig besitzen.
    In einem mehrstöckigen Mietshaus wohnt Muhammad. Er ist Taxifahrer, hat zwei Kinder, die beide studieren, obwohl der Vater heute nicht mehr als 50 Pfund nach Hause bringt, etwa sechs bis sieben Euro am Tag. Muhammad ist ein verhärmt aussehender Mann um die 60. Freundlich lädt er ein seine Wohnung zu betreten, zeigt sich bereit für ein Gespräch.
    Das Leben ist heute schwerer als vor der Revolution, sagt er, die Preise sind gestiegen, für Grundnahrungsmittel, selbst für Brot. Gleichzeitig habe in seinem Viertel jeder Zweite seine Arbeit verloren, im Tourismus, der im Pyramidenviertel fast zum Erliegen gekommen sei, und im Bausektor, weil heute keiner mehr Geld übrig habe für Bauarbeiten, nicht einmal für Reparaturen. Gerade die Handwerker treffe das besonders hart.

    "Es gibt viele, die heute Hunger haben, zum Beispiel die Maurer, die Klempner, Maler – alles Handwerker, die mit der Bauerei zu tun haben. Sie haben keine Arbeit mehr. Wer soll ihnen Geld geben? Sie und ihre Familien haben Hunger. Aber wenn sich etwas ergibt, dann machen sie es, irgendwas, Hauptsache, Arbeit. Keiner will hungrig sein, jeder will essen. Sie machen alles."

    Und wer ist schuld an der Misere? Die Demonstranten, wie es so oft heißt? Oder der Militärrat, der sagt, er tue doch so viel für das Land? Tatsächlich hat der Militärrat der Regierung gerade erst einen Kredit gegeben, über eine Milliarde US-Dollar. Der soll über die schlimmsten Engpässe der nächsten Zeit hinweghelfen; er hat Hilfe für die Flutopfer in Aswan geschickt, ein Krankenhaus versprochen, mehr sozialen Wohnungsbau. Wer also ist schuld an der Misere im Land? Muhammads Antwort kommt spontan, und sie überrascht: Husni Mubarak sei schuld, meint er, und alle, die zum alten System gehören. Hier im Viertel glaube doch keiner, was in den staatlichen Medien erzählt wird.

    "Keiner will das Militär an der Spitze. Denn das bedeutet, wir haben eine Militärdiktatur. Dann kehren wir wieder dorthin zurück, wo wir vorher waren. Diesmal unter Mubarak II. Wir wollen aber einen zivilen Präsidenten, eine Gesellschaft, in der jeder zu seinem Recht kommt."

    Schau Dir doch an, sagt er, wie gut es Mubarak und seinen Leuten im Gefängnis geht. Sie haben es hundert Mal besser als wir. Und was ist mit denen, die dem Militär die Stange halten? Ist es die Mehrheit im Land?

    "Wer bis heute hinter dem Militär steht, das sind die von der alten Partei. Sie sind überall, im Geheimdienst, der Polizei, in den Medien, in der Wirtschaft. Wir gehören nicht dazu. Die normalen Leute müssen die höheren Preise zahlen, für Strom, Benzin, Nahrungsmittel. Das Volk hat überhaupt nichts davon."

    Bei den Wahlen haben die Islamisten die meisten Stimmen gewonnen. Wie haben die Leute in diesem Viertel gewählt?

    "Sie haben die Muslimbrüder gewählt, weil sie glauben, dass sie die Einzigen sind, die das Land retten können. Und sie sind hier, sie gehen zu den Leuten, fragen, was sie brauchen und helfen. Die Leute haben Angst vor dem alten System. Deshalb haben sie die Muslimbrüder gewählt."