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"Die Richter sind nicht unfehlbar"

Burkhard Hirsch (FDP) lobt die Arbeit des Bundesverfassungsgerichtes. Die Richter seien zwar nicht unfehlbar, aber in der 60-jährigen Geschichte seien bedeutende Urteile gesprochen worden. Dabei sei ein Urteil "selber keine Politik, sondern das Urteil sagt, was nach der Verfassung möglich ist".

Burkhard Hirsch im Gespräch mit Dirk Müller | 28.09.2011
    Dirk Müller: Über 180.000 Entscheidungen bislang, lediglich gut zwei Prozent aller Klagen wurden stattgegeben. Aktuell legen mehr als 6000 Bürger Beschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wird 60, die Gewalt in Deutschland, die der Politik immer sehr genau auf die Finger geschaut hat, mit zahlreichen Urteilen, die äußerst umstritten waren und auch immer noch sind, zum Kruzifix-Urteil zum Beispiel in Klassenzimmern, zur Abtreibung oder jüngst zu den Hartz-IV-Sätzen, zum Existenzminimum oder auch ganz aktuell zum Euro-Rettungsschirm. Die Damen und Herren in den roten Roben haben immer mehr Einfluss auf die Politik genommen oder auch bekommen, je nach Sichtweise.
    60 Jahre Bundesverfassungsgericht, darüber wollen wir nun sprechen mit dem FDP-Politiker und Juristen Burkhard Hirsch, ehemals Innenminister von Nordrhein-Westfalen und Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.

    Burkhard Hirsch: Einen schönen guten Morgen, und lassen Sie mich ganz am Anfang sagen: Ich möchte auf diesem Wege dem Gericht herzlich gratulieren, ihm meinen Respekt bezeugen für die enorme Arbeit und dafür, dass sie ganz wesentlich zum Ansehen der Bundesrepublik und zur Wirkung der Verfassung beigetragen haben.

    Müller: Herr Hirsch, das sind ja die besten Voraussetzungen für ein kritisches Interview. Meine erste Frage: Sind die hohen Richter inzwischen unfehlbarer als der Papst?

    Hirsch: Nein, sie sind überhaupt nicht unfehlbar. Die Urteile sind hervorragend, aber es ist interessant, dass sie wohl als einziges Gericht auch Minderheitenvoten mit veröffentlichen, also ein Richter, der anderer Meinung ist, kann seine Position darstellen, denn häufig sind diese Minderheitsvoten gerade für das angewendete Recht von großer Bedeutung. – Nein, die Richter sind nicht unfehlbar. Aber das ändert nichts daran, dass der Weg dieses Gerichtes durch die 60 Jahre in seiner Tätigkeit von bedeutenden Urteilen geradezu gepflastert ist, von denen ich wünschte, dass die Politik von ihnen mehr aufnähme, als sie es tatsächlich tut.

    Müller: Aber die Politik muss doch sehr, sehr viel aufnehmen, muss sehr, sehr viel umsetzen. Viele beschweren sich darüber und sagen, die Politik verliert den Primat.

    Hirsch: Ja der Punkt ist aber der, dass man immer wieder hört, dass in der Politik dann gesagt wird, also wir setzen das Urteil des Verfassungsgerichts eins zu eins um. Das klingt ganz toll. In Wirklichkeit ist es aber so, dass dieses Gericht nur das sagen kann, was mit der Verfassung gerade noch vereinbar ist, was gerade noch geht, sozusagen die Grenzsituation. In den Urteilen selber ist sehr viel mehr vom Geist der Verfassung die Rede, von ihren wirklichen materiellen Inhalten, und ich wünschte, dass die Politik den Inhalt dieser Ausführungen ernster nähme, als nur dann ein Reparatururteil zu machen, bei dem man sich nun gerade an der Grenze des gerade noch erträglichen entlangtastet.

    Müller: Wenn ich Sie, Herr Hirsch, richtig verstanden habe, ist also die Politik zumeist das Problem und nicht das Urteil?

    Hirsch: Das Urteil ist ja selber keine Politik, sondern das Urteil sagt, was nach der Verfassung möglich ist. In diesen Grenzen hat das Verfassungsgericht ganz hervorragendes geleistet, also nicht nur das Lüth-Urteil, das Herr Schily erwähnt hat, sondern es geht ja los mit dem Gleichberechtigungsurteil von 1959, zur Notstandsverfassung, zur Bundeswehr als Parlamentsarmee, über die Parteienfinanzierung, und dann die ganze Serie der Urteile der letzten Jahre über die innere Liberalität, also das informationelle Selbstbestimmungsrecht, die Grenzen des Lauschangriffs, der Kernbereich der privaten Lebensführung, die Garantie der Integrität der informationstechnischen Systeme, also alles das, was die moderne Technologie mit sich bringt, dazu hat das Verfassungsgericht eine Fülle von Entscheidungen, 16 Entscheidungen im Laufe der letzten sechs Jahre, in denen Urteile und Entscheidungen der Länder und des Bundes revidiert oder aufgehoben worden sind. Das ist in der Verfassungsgeschichte einzigartig und zeigt, wie notwendig es ist, dass wir dieses Gericht haben.

    Müller: Wenn Sie sagen, Herr Hirsch, wenn ich Sie richtig verstanden habe, das Urteil ist ja keine Politik, kann man dann auch sagen, das Bundesverfassungsgericht ist nicht politisch?

    Hirsch: Seine Wirkung ist schon politisch, denn die Urteile haben ja in ihrem Kern Gesetzeskraft. Das heißt, die Politik muss sich danach richten. Und natürlich sind sich die Richter auch der politischen Wirkung der Urteile, die sie treffen, bewusst, obwohl sie in wirklich erstaunlicher Weise sich von Parteipolitik freigehalten haben. Am Anfang des Verfassungsgerichts war dieses Gerede von dem roten und dem schwarzen Senat, also einem SPD und einem konservativ dominierten Senat. Das ist inzwischen völlig verschwunden und die Richter haben sich von diesen Begrenzungen, von diesen Etikettierungen in einer erstaunlichen Weise freigemacht und freigehalten.

    Müller: Jetzt sagen, Herr Hirsch, viele Kritiker, das Bundesverfassungsgericht, die Richter werden zusammengesetzt aus den Voten der Parteien. Warum sind die Richter dann nicht parteipolitisch?

    Hirsch: Das ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Die eine Hälfte der Richter wird vom Bundesrat gewählt, die andere Hälfte vom Bundestag, in Wirklichkeit von dem Richterwahlausschuss des Bundestages, eine Konstruktion, die man oft angegriffen hat und sehr anzweifeln kann, weil da nun natürlich eine enorme Kungelei einsetzt. Die Richter müssen ja mit zwei Drittel Mehrheit gewählt werden und nun hat sich ein ganz feinsinniger Proporz entwickelt, Männer, Frauen, der CDU oder der SPD oder der FDP nahestehend oder den Grünen, Norddeutschland, Süddeutschland, die berufliche Herkunft spielt eine Rolle, also ob sie Richter waren, oder es gab sogar Anwälte, die Verfassungsrichter wurden. Also da hat sich ein ganz feinsinniger Proporz entwickelt, den man teilweise nur andächtig bestaunen kann. Aber im Ergebnis haben tatsächlich die Richter sich dann von ihrer politischen Herkunft ganz überwiegend freigemacht, und das verdient wirklich höchsten Respekt, weil sie ja ein Amt haben, das nicht parteilich sein darf, sondern nur an einem Punkt orientiert werden darf: an der Verfassung und an der ihr innewohnenden Garantie der Menschenwürde. Und das tun die! Das habe ich immer wieder bewundert, muss ich sagen.

    Müller: Bleiben wir noch mal bei dem Thema Parteien, Herr Hirsch. Viele Parteien, vor allem ja die Oppositionsparteien, die sagen häufig, so geht das nicht, wir rufen das Bundesverfassungsgericht an. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht entscheidet häufig über die Politik, weil die Politik nicht entscheidet?

    Hirsch: Das ist richtig, das wird so gemacht. Was soll also die Opposition auch machen? Sie muss sich natürlich klar darüber sein, dass sie den Weg nach Karlsruhe nicht überziehen darf. Man darf nicht jede, vor allen Dingen nicht rein politische Fragen vor das Gericht ziehen. Aber es hat Entscheidungen gegeben, ich habe selber mehrfach Verfassungsbeschwerde erhoben, nicht als Partei, sondern als Bürger dieses Landes, wo man sagen muss, die gesetzliche Entscheidung, die hier getroffen worden ist, ist einfach nicht akzeptabel. Das war der Lauschangriff, das war das Luftsicherheitsgesetz mit der Möglichkeit, Flugzeuge voll besetzt mit Passagieren abzuschießen, das war die Vorratsdatenspeicherung. Also das sind Dinge, wo man als Bürger, aber dann eben auch als Abgeordneter sagen muss, verdammt noch mal, ihr Mehrheit habt jetzt elementare Grundsätze der Verfassung nicht beachtet und das lassen wir nicht durchgehen.

    Müller: Dann gehören Sie, Burkhard Hirsch, also zu den Bürgern – 6000 werden da im Moment gezählt -, die sich jedes Jahr beschweren, und das stellt das Gericht offenbar vor riesengroße Probleme, organisatorisch und administrativ. Haben Sie damals schon Gebühren bezahlt oder wären Sie bereit – das ist im Moment die Diskussion -, für Ihre nächste Beschwerde auch Gebühren zu zahlen?

    Hirsch: Ja wenn ich verliere ja, natürlich. Es gibt also einmal die Missbrauchsgebühr, da muss man als Anwalt natürlich sagen, wenn ich eine Missbrauchsgebühr verdiene, dann habe ich meine berufliche Verpflichtung nicht erfüllt. Ich muss ja sehen, dass ich wirklich nur in einer ernsthaften Sache zum Verfassungsgericht gehe. Und im übrigen gilt, es kann durchaus dasselbe gelten wie bei jedem anderen Verfahren: Wer Unrecht hat, muss im Ergebnis bezahlen. Das ist schon in Ordnung. Aber ich glaube nicht, dass man durch Gebühren den Weg zum Verfassungsgericht abschneiden sollte, sondern man muss sich eher überlegen, ob man den personellen Unterbau des Gerichtes, also die Hilfskräfte, die jeder Richter hat, verstärken muss und ob das Gericht eher von dem Recht oder mehr von dem Recht Gebrauch machen muss, Klagen auch ohne Begründung abzulehnen, weil sie entweder Kleinigkeiten sind oder ohne Aussicht auf Erfolg. In Amerika gibt es die Political Question Doktrin, dass das Gericht sogar sagen kann, das sei eine überwiegend politische Frage, die entscheiden wir einfach nicht. Also ich würde der Entscheidungsfreiheit der Senate etwas mehr Raum lassen, aber dem Gericht auch mehr Mut wünschen, notfalls zu sagen, die und die Sachen machen wir eben einfach nicht. Das ist für den Kläger dann unbefriedigend. Aber es ist genauso unbefriedigend, wenn sie auf Entscheidungen zwei, drei, vier Jahre warten müssen, bis sie wirklich zu Potte kommen. Das macht keinen Spaß.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk 60 Jahre Bundesverfassungsgericht. Vielen Dank, Burkhard Hirsch.

    Hirsch: Bitte schön! Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.