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"Die Rosen haben überlebt."

Vor 20 Jahren begann die Blockade Sarajewos durch die serbische Soldateska. 11.541 Menschenleben forderte sie. Dem Bild der Ereignisse von damals fügt die amerikanische Journalistin Barbara Demick eine ganz eigene und sehr persönliche Dokumentation hinzu: Sie porträtiert das Leben während der Blockade in einer einzigen Straße - der Logavina.

Von Dirk Auer | 30.04.2012
    Wie an einer Schnur gezogen zieht sich die Logavina vom Rand der Bascarsija, der muslimisch geprägten Altstadt Sarajevos, steil hinauf Richtung Norden. Es ist eine der ältesten Straßen in Sarajevo: am unteren Ende ein Café, ein paar Hundert Meter weiter ein Lebensmittelladen und eine Schule. Nichts Besonderes, denkt man, aber gerade deshalb wohl hat sich Barbara Demick genau diese Straße ausgesucht, um - so der Untertitel ihres Buches - "eine Geschichte vom Krieg" zu erzählen. Denn:

    Wer die Logavina kennt, der kennt auch Sarajevo und begreift, was diese Stadt einmal war und was aus ihr geworden ist. Wer diese Straße kennt, der weiß um die Kraft und den Einfallsreichtum, den ganz gewöhnliche Menschen aufbringen können, wenn es ums Überleben geht. Hier wie überall hatte der Krieg das Unterste zuoberst gekehrt. Er hatte reiche Männer zu Almosenempfängern gemacht und sogar Licht in Dunkelheit verwandelt.

    Zwei Jahre hat Demick in Sarajevo verbracht, als die Stadt von bosnisch-serbischen Truppen belagert wurde, davon die meiste Zeit hier, in der Logavina. Ein Haus, das sie immer wieder aufsucht, ist eine imposante rosafarbene Villa, erbaut 1925 und seitdem im Besitz der Familie Vranic - heute alleine bewohnt und nur mühsam instand gehalten von Vetka, eine Frau mit schütterem weißen Haar, schwarz umrandeter Brille und melancholischem Gesichtsausdruck.

    "In dieser Richtung liegt Pale, da haben sie sich verschanzt - und dann von dort oben auf uns herunter geschossen ...
    Es war schlimmer als die Hölle. Ich weiß immer noch nicht, wie wir das eigentlich überlebt haben."

    Erzählt sie, vor ihrem Haus stehend.
    Unter anderem am Beispiel der Vranics zeigt Demick, wie brutal sich der Krieg in den Alltag hineinfraß - wie sich die Menschen aus Angst vor Granaten und Heckenschützen in ihre Häuser zurückziehen, dort hungern und frieren und in drei strengen Wintern erst den herumliegenden Müll, dann die Bäume und Sträucher aus dem Garten und schließlich auch noch ihre ganze Wohnungseinrichtung verheizten.

    "Über die humanitäre Hilfe haben wir Mehl und Öl bekommen. Manchmal gab es auch Reis und Nudeln. Das größte Problem aber war Strom und Wasser, vor allem Wasser. Wenn man Kerzen hatte, konnte man noch was tun, aber kein Wasser, das war das Schlimmste."

    Es ist zu spüren, dass Demick den Menschen wirklich nahe gekommen ist. Sympathisch auch, dass sie dabei auf jede Effekthascherei verzichtet. Die kleinen Tricks im Überlebenskampf, Geschichten von persönlichem Mut und Hilfsbereitschaft sind ihr ebenso wichtig, wie die tragischen Schicksale. Schritt für Schritt entfaltet sich so ein Kaleidoskop an Geschichten, die sich zur Chronik des Lebens in der Logavina verdichten.

    Ob man in Sarajevo ums Leben kam oder nicht, hatte wenig damit zu tun, wie vorsichtig man war. Muniba Kaninic, 33, hatte derartige Angst, als der Krieg begann, dass sie sich weigerte, ihre Wohnung zu verlassen. Am 23. Mai 1992 wagte sie es endlich, ein paar Schritte aus der Haustür zu tun, um Abfall wegzubringen. Sie wurde, wie der alte Bajro Hadzia, von einem Granatsplitter getötet.

    Die gewählte Perspektive, sich auf einen kleinen Mikrokosmos zu konzentrieren, ist durch und durch überzeugend, lässt sich doch dadurch auch vieles begreifen, was darüber hinausgeht. So ist eins der vielleicht wichtigsten Kapitel dem fortdauernden Zusammenleben von Muslimen, Serben und Kroaten in der Straße gewidmet, um das damals übliche Erklärungsmuster eines ethnischen Konflikts zu relativieren. Die Bewohner der Logavina jedenfalls, so zeigt Demick, vermögen bis zum Schluss zu unterscheiden: zwischen den Serben und den "Karadzic-Leuten", die von den Hügeln aus die Stadt sturmreif schießen wollten. Dabei laufen die großen politischen Ereignisse eher im Hintergrund mit und werden nur insoweit in das Geschehen eingeflochten, wie es nötig ist, um den Alltag der Menschen zu verstehen. So auch der 5. Februar 1994, der als Tag des ersten Markale-Massakers in die Geschichte der Belagerung eingegangen ist. Eine Mörsergranate war auf dem überfüllten Markale-Marktplatz eingeschlagen. 68 Menschen wurden getötet, 144 verletzt. Demick beschreibt eindrücklich wie das Ehepaar Jela und Zijo vom Massaker im Stadtzentrum erfuhren.

    In der Logavina hörten die Bewohner nur einen fernen, dumpfen Schlag. Zijo schloss den Fernseher an die Autobatterie an - es gab wieder einmal keinen Strom - und hatte direkt den Marktplatz auf dem Bildschirm. Es war alles zu sehen - die abgerissenen Körperteile, verstreut zwischen Kartoffeln und Zwiebeln, der abgetrennte Kopf und die hellroten Blutlachen, und man hörte die Schmerzensschreie der Verletzten. (...) Erst am Abend gaben die Behörden die Opfer bekannt. Jela und Zijo hörten schweigend und mit bangem Herzklopfen zu, als der Fernsehsprecher die Namen verlas.

    Zweimal noch kehrt Barbara Demick nach Kriegsende nach Sarajevo zurück. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen - in den Köpfen der Menschen, an den Häusern, von denen nicht wenige Fassaden immer noch mit Löchern übersät sind. Und schließlich sind da noch die sogenannten "Rosen von Sarajevo", nach denen das Buch benannt ist: Löcher von Granateinschlägen, die nach dem Krieg mit rotem Harz ausgegossen wurden, um so der Toten zu gedenken.

    "Die Rosen haben überlebt."

    Sagt Vetka Vranic vor ihrer Villa und meint damit aber ihren prächtigen Garten. Ihr Mann hatte sich bis zum Schluss geweigert, die 50 Jahre alten Rosenstöcke zu Brennholz zu machen.

    "Irgendwie liegen diese ganzen Erlebnisse tief in mir verborgen. Wir sprechen nicht einmal mehr untereinander über diese Zeit. Nach dem Krieg hat man nur darüber gesprochen, aber dann wurde es für jeden zu viel und man hat versucht, das alles zu verdrängen und zu vergessen."

    Für die Menschen mag das opportun sein. Trotzdem ist es ein Glück, dass mit den "Rosen von Sarajevo" nun ein Buch vorliegt, das rechtzeitig zum 20-jährigen Jubiläum noch einmal an ein fast schon vergessenes Kapitel der jüngeren europäischen Geschichte erinnert. Wer ein Buch über die komplexen Ursachen des Konflikts sucht, sollte vielleicht zu alternativen Titeln greifen. Wer aber hautnah erfahren will, was es für Menschen bedeutet, fast vier Jahre lang unter ständigem Beschuss zu leben, für den braucht es nun kein anderes mehr.

    Barbara Demick:
    Die Rosen von Sarajevo - Eine Geschichte vom Krieg,Verlag Droemer, 304 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-426-27587-0