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Die Rückkehr des Erzählens

Bisher war im Wettbewerb von Venedig das klassische Erzählkino kaum gefragt gewesen. Im Vordergrund standen eher Provokation, Spiel und Experiment. Ein Beispiel für ein ordentlich inszeniertes klassisches Erzählkino mit menschlicher Botschaft ist der Film "Philomena" bei den Filmfestspielen.

Von Josef Schnelle | 04.09.2013
    Philomena ist eine alte Frau. Als Teenager gehörte sie zu den Magdalene Sisters, einem Heim irischer Nonnen für gefallene Mädchen. Eine Weile durfte sie ihren kleinen Sohn noch betreuen, dann wurde er von den Nonnen an die höchstbietenden Adoptiveltern verkauft.

    50 Jahre danach macht sie sich auf die Suche nach ihrem verlorenen Sohn. Unterstützt wird sie dabei von Martin Sixsmith, einem eben erst von der Tony-Blair-Regierung entlassenen Spin-Doctor, der als investigativer Journalist ein neues Betätigungsfeld sucht. Mit populären Human-Interest Stories solle er sich doch mal befassen, sagt die Redakteurin. So gerät er an Philomena Lee. Aus der Bestseller-Tatsachenreportage, die dabei entstanden ist, hat der britische Routinier Stephen Frears einen Film gemacht.

    Judy Dench spielt die alte Dame auf der Suche nach ihrem – wie sich herausstellt – längst verstorbenen Sohn. Der britische Serienstar Steve Coogan ist ihr Gegenüber als sarkastischer Journalist, der harte Bandagen gewohnt ist. Natürlich ist diese sehr menschliche Komödie bei den Zuschauern auf dem Lido von Venedig mit Abstand der Hit. Es ist sehr ordentlich inszeniertes klassisches Erzählkino mit guten Schauspielern und einer menschlichen Botschaft. Diesen Film kann man sich sogar gut im normalen Kino vorstellen. Die Aufgabe der beiden ist nicht leicht und natürlich kommen sie einander auch menschlich näher. Die schroffe Fassade des coolen Top-Reporters bröckelt. Im Hotel in Amerika ist Philomena vom luxuriösen Frühstück hingerissen und Martin muss immer wieder klarstellen, worum es wirklich geht.

    "Philomena" wirkt wie ein Film, in dem die Zeit stillsteht. Keine formalen Experimente, nur klares direktes Erzählen. Wunderbar, wenn man sich darauf einlassen kann.

    Nur noch "Parkland" des US-Amerikaners Peter Landesman erzählt im Programm der diesjährigen Filmbiennale so direkt und unumwunden eine einfache Geschichte. Viele kleine Vorgänge, die das Attentat auf John F. Kennedy im November 1963 begleiteten, beschreibt der Film: Die verzweifelten Bemühungen des Operationsteams, den toten Körper des Präsidenten mit Herzmassage und Elektroschocks wieder zu beleben. Die Versuche des Filmamateurs, der das Geschehen auf Super-8 aufgenommen hat, mit diesem besonderen Erlebnis zurechtzukommen. Die aufgeregte, aber leere Routine der CIA-Teams vor Ort, die ein halbes Flugzeug zerstören bei dem Versuch, den Sarg des nunmehrigen Expräsidenten hinein zu wuchten. Politisches Kino im Menschlichen gespiegelt. Das ist ein schwieriges Geschäft. Frears gelingt es. Peter Landesman nicht. Auch, wenn man den spontanen Ausruf von Billy Bob Thornton als CIA-Agent durchaus nachvollziehen kann

    Eigentlich ist bisher im Wettbewerb von Venedig das klassische Erzählkino kaum gefragt gewesen. Im Vordergrund standen eher Provokation, Spiel und Experiment. In "Das Null-Theorem" von Terry Gilliam wird eine Zukunftswelt zwischen buntem Jahrmarkt und harter Konzernherrschaft heraufbeschworen, in der Christoph Waltz an einer unlösbaren mathematischen Aufgabe verzweifelt. Mit großartiger Ausstattung, mit Kathedralen der Technik und einer lediglich virtuellen Liebesgeschichte allein lässt sich das "Zero-Theorem" jedoch nicht nachvollziehen.

    Wie man einen packenden anspruchsvollen Experimentalfilm so inszenieren kann, dass man stets fasziniert bleibt und den Blick kaum abwenden kann, das macht Jonathan Glazer mit "Under the Skin" vor. Scarlett Johansson ist eine Außerirdische im Körper einer jungen Menschenfrau. Erst, wenn sie Lippenstift auflegt, erkennen wir überhaupt die Schauspielerin unter der schwarzen Perücke. Die Fremdheit der Menschenwelt erlebt sie in derart magischen Szenen, dass sich der staunende Blick von außen auf die menschliche Lebenswelt in Schottland überträgt. Empathie ist ihr zum Beispiel fremd, weswegen sie eine ganze Familie bei ihren gegenseitigen Rettungsversuchen in tosender Brandung ertrinken lässt. Männer lockt sie in eine pechschwarze Urbrühe, in der sie später zerplatzen. Ratlos rastlos spielt der größte Superstar Hollywoods eine Frau, die sich ihres Frau-Seins gar nicht bewusst ist, schließlich ist der Körper ja nur eine Hülle für sie. Glazer macht wenig Worte. Der entfremdete Blick auf die Welt und das sehr dominante Sounddesign müssen reichen bei diesem philosophischen Horrorfilm, der der anspruchsvollste des bisherigen Programms ist.