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Die russische Datscha (1/5)
"Es ging darum, sich selbst zu versorgen"

600 Quadratmeter Land bekamen viele Arbeiter zu Sowjetzeiten zugeteilt. Die Menschen sollten dort Obst und Gemüse anbauen, um Versorgungsengpässe abzumildern. Viele nutzen ihre Datschen aus diesem Grund auch heute noch.

Von Gesine Dornblüth | 29.07.2019
Lidija mit Rose vor ihrer Datscha
Lidija Nikolajewna im Garten ihrer Datscha (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
"Den Rucksack auf den Rücken, zwei Stöcke in die Hände, eine Sonnenbrille auf die Nase. Die Mütze habe ich dort."
Lidija Nikolajewna lässt die grauen fünfstöckigen Wohnhäuser hinter sich. Die Nordic-Walking-Stöcke bohren sich in den Kies. Die Sonne brennt. Lidija Nikolajewna ist das, was man eine rüstige Rentnerin nennt. Jeden zweiten Tag geht sie zu Fuß von ihrer Wohnung zur Datscha. Ein kurzer Weg vorbei an Garagen, dann beginnt schon die Siedlung.
Obst und Gemüse zur Selbstversorgung
Das zweite Garten-Grundstück ist ihres. Hier am Stadtrand von Nowotscherkassk, einer südrussischen Industriestadt, nicht weit von Rostow am Don. Das Eisentor ist mit einem dicken Vorhängeschloss gesichert: "Natürlich. Damit die Kinder hier keinen Unfug treiben."
Dieser Beitrag gehört zur Reportagereihe "Russische Datscha - Ein paar Quadratmeter Glück".
Lidija Nikolajewna duckt sich ein wenig, um unter einem Walnussbaum hindurchzugehen. Die Äste hängen weit hinunter. Eine Wildnis.
"Wir haben die Datscha 1990 bekommen. Vorher war hier ein Feld. Dann hat unsere Regierung die Regionen angewiesen, den Bürgern Grundstücke zu geben. In jedem Betrieb haben die Arbeiter damals Anträge gestellt, unser Kombinat erhielt zehn Hektar, und die wurden aufgeteilt. Es ging darum, dass sich die Leute selbst versorgen."
600 Quadratmeter Land – kostenlos
Lidija Nikolajewna arbeitete damals in einem Kombinat für Baumaterialien. 1990 ging die Sowjetunion gerade unter, und es mangelte an fast allem. 600 Quadratmeter Land erhielten die Menschen damals – kostenlos.
"Als sie uns das Grundstück gaben, haben wir alle gesagt: Das ist so wenig Land! Jetzt denke ich: Es ist so viel. Ich habe ja kaum noch Kräfte. Wir waren damals zu viert: Ich, mein Mann, meine Mutter und meine Tochter. Wir haben Kartoffeln gepflanzt, Gurken und Tomaten, Kohl, Möhren, Rote Beete. Die Kartoffeln reichten über den ganzen Winter. Tomaten mussten wir damals auch nicht kaufen."
Ihre Mutter und ihr Mann sind längst gestorben. Ihre Tochter lebt mittlerweile in Moskau.
Ein schmaler Pfad führt in den hinteren Teil des Grundstücks. An der Seite ein hölzerner Unterstand mit einem Kanister darauf: die Dusche. Ganz hinten in der Ecke das Plumpsklo. Längst beackert Lidija Nikolajewna nicht mehr die gesamte Fläche. Links und rechts gibt es ein paar Obstbäume mit unreifen Früchten, Stachelbeersträucher, Johannisbeeren, viel verdorrtes Gras.
Die Dusche im Garten von Lidijas Datscha
Die Dusche (Deutschlandradio / Gesine Dornblüth)
Mancher ist auf den Gemüseverkauf angewiesen
"Obst esse ich vor allem mein eigenes. Ich habe hier Aprikosen, Pflaumen, Birnen."
Viele Datschenbesitzer versorgen sich selbst mit Obst und Gemüse, weil es besser schmeckt oder um Geld zu sparen. Viele verkaufen ihre Ernte auch. Lidija Nikolajewna kennt Leute, die auf diesen Nebenverdienst angewiesen sind:
"Eine ehemalige Arbeitskollegin von mir hat zwei Gewächshäuser, eins für Gurken, eins für Tomaten. Sie sitzt selbst auf dem Markt und verkauft die Ernte. Ich verbringe die Zeit lieber hier an der frischen Luft und verschenke, was über ist."
Sie kann es sich leisten. Ihre Rente liegt bei rund 300 Euro, das ist fast das Dreifache der Mindestrente. Wenn große Anschaffungen oder medizinische Behandlungen anstehen, hilft ihr die Tochter.
"Kommt alle! Und bringt alle Eimer mit, die ihr habt!"
Geschützt unter Bäumen verbirgt sich eine kleine Laube: Vielleicht zwei mal vier Meter. Davor eine kleine Veranda, drinnen eine Couch, Regale, ein Kühlschrank.
"Hier ruhe ich mich zwischendurch aus. Es ist kühl. Die Antenne des Fernsehers ist abgebrochen, die muss ich reparieren lassen. Die jungen Leute, die jetzt Geld verdienen, bauen sich große zwei- und dreistöckige Häuser. Mir reicht das hier völlig."
Lidija Nikolajewna stellt Kekse und Käse auf die Veranda. Das Wasser kocht gerade, da kommt Besuch.
Wolodja ist ein Jugendfreund der Tochter. Lidija Nikolajewna kennt ihn von klein auf. Er lebt auch in Nowotscherkassk und hilft ihr gelegentlich auf der Datscha.
"Das läuft so: Die Ernte reift. Lidija Nikolajewna tut, was getan werden muss. Irgendwann ruft sie an und sagt: Wolodja! Alles ist reif! Das Obst fällt schon von den Bäumen! Kommt alle! Und bringt alle Eimer mit, die ihr habt!"
"Die Leute werden sich an die Datschen erinnern"
Lidija Nikolajewna schenkt Kaffee ein, nimmt einen Keks. Dann muss sie sich um ihren Garten kümmern:
"Ich hatte auf Regen gehofft. Daraus ist nichts geworden. Ich ziehe gleich mal Gummistiefel an und gieße."
"Die Generation meiner Mutter oder Lidija Nikolajewnas – das sind Leute, die können noch arbeiten, die wissen noch, was im Garten zu tun ist. Die jungen Leute, die ich kenne, sind verwöhnt, jedenfalls die Städter. Sie kennen keinen Mangel. Überall gibt es Supermärkte, dort gibt es das ganze Jahr über rund um die Uhr Obst und Gemüse zu kaufen. Aber ich denke, wenn wirklich einmal schwere Zeiten kommen, dann werden sich die Leute an die Datschen erinnern."