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Die Sabotage eines Lebens

Kirsten Thorup versteht sich als realistische Erzählerin. Die Hauptelemente ihres neuen Buchs sind Punkt für Punkt ihrem wahren, offenbar freudlosen Leben entnommen: provinzielle, kleinbürgerliche Herkunft, Heirat mit einem bekannten Theaterregisseur, gemeinsame Tochter, Scheidung. Trotz dieser fast aufdringlichen Nähe zum eigenen Leben haben die beiden Hauptfiguren des Buchs etwas ungeheuer Künstliches, in der Zwangsläufigkeit ihres Handelns gleichen sie beinahe Robotern.

Von Peter Urban-Halle | 22.08.2005
    Die Geschichte, die wir hier lesen müssen, die Geschichte von Nina, einem jungen Mädchen von der Insel Fünen, lässt in ihrer Mitleidlosigkeit an die antiprovinzielle Erinnerungsliteratur Österreichs denken, an Thomas Bernhard, Anna Mitgutsch oder sogar Christine Lavant. Immerhin macht Nina, die Schüchterne und Geplagte, das Abitur und geht nach Kopenhagen, wir sind in den 60er Jahren, in denen der Umsturz der Traditionen geübt wird, dort lernt sie den gebildeten und weltmännischen Theatermenschen Stefan kennen, er wird ihr Vorbild, ihr Sprachrohr. Sie heiratet den Angebeteten, der in der Hochzeitsnacht Migräne vortäuscht, der sie seelisch misshandelt, der sie demütigt und reihenweise betrügt, übrigens weniger mit Frauen. Irgendwann wird die Scheidung dann doch unvermeidlich, aber ihre Beziehung dauert an, bis zu seinem freiwilligen Tod - zu allem Überfluss ist der Mann nämlich, was er aus Eitelkeit und Scham nicht zugeben will, aidskrank.

    Kirsten Thorup versteht sich als realistische Erzählerin, die Hauptelemente ihres neuen Buchs "Bonsai" sind Punkt für Punkt ihrem wahren, offenbar freudlosen Leben entnommen: die provinzielle, kleinbürgerliche Herkunft, die Heirat mit einem bekannten Theaterregisseur, die gemeinsame Tochter und die Scheidung 1974; sogar die Jahreszahl stimmt. Manche bezeichnen das als "Autofiktion". Trotz dieser fast aufdringlichen Nähe zu ihrem eigenen Leben haben die beiden Hauptfiguren Nina und Stefan etwas ungeheuer Künstliches, in der Zwangsläufigkeit ihres Handelns gleichen sie beinahe Robotern. Die Autorin erklärt das so:

    " Ich habe versucht, durch das Extreme zum Allgemeinmenschlichen zu kommen. Tatsächlich handelt es sich bei den Hauptfiguren sozusagen um Archetypen. Ich habe versucht, wie im griechischen Theater Konsequenzen aus menschlichen Dramen zu ziehen. Nun ist Realismus ein großer Begriff, alle haben ihre eigene Vorstellung davon, aber ich glaube, ich bewege mich doch innerhalb eines realistischen Genres, auch wenn mein Roman ein paar experimentelle Erzählweisen hat. Aber die Tatsache, dass ich ihre Geschichte aus ihrer gemeinsamen Geschichte heraus erzähle, führt ja dazu, dass es zu einem Konzentrat wird mit bestimmten menschlichen Problemen und Charakterzügen."

    Man liest das Buch mit wachsendem Erstaunen. Was hält Nina so lange bei diesem Egozentriker? Die psychologische Situation ist durchaus plausibel. Es entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit, die heillos und ausweglos ist, die beiden gehen eine Art Symbiose ein, sie werden "Zwillinge", wie es irgendwo heißt, denn sie brauchen einander, um sich gegenseitig zu helfen, das Leben zu vermeiden: Hier geht es um Lebenssabotage auf Gegenseitigkeit. Das Buch ist das Zeugnis einer Literarisierung bis in den Identitätsverlust, was wie eine rituelle Handlung wirkt.

    Warum Identitätsverlust? Die Kerngeschichte war Kirsten Thorup zu wenig. Also beginnt sie das Buch mit einem rätselhaften, ja irritierenden Kapitel, das eigentlich am Ende stehen müsste: Ein Mann erzählt seiner Analytikerin seine Geschichte. Wenn wir das Buch tatsächlich durchgelesen haben, merken wir, dass hier ein Geschlechterwandel stattgefunden hat. Nina wurde zu einem Mann und Stefan zu einer Frau.

    " Einleitung und Schluss gehören zusammen, eigentlich ist es eine Rahmenerzählung. Darauf wollte ich nicht verzichten, weil sonst die Hauptgeschichte zu konzentriert, sozusagen kurzsichtig geworden wäre. Ich wollte einen Rahmen, welcher der Geschichte der beiden Protagonisten eine Perspektive gibt, also gleichsam in die Zukunft gerichtet ist. Das erste Kapitel kommt ja in Wirklichkeit nach der letzten Seite. ( ... ) Am Schluss beschreibt sie ja eine Art Geschlechts- und Identitätsverwirrung, unter anderem weil sie sich so sehr mit dem Mann identifiziert, mit dem sie verheiratet ist, so wie manche Frauen die Wünsche des Mannes oft schon erfüllen, ehe er sie überhaupt geäußert hat. Das heißt, letztendlich verwandelt sie sich in ihn, sie wird er."

    Thorups Buch besteht aus ständigen Perspektiv- und Personenwechseln, die immer neue Töne bringen, die Figuren werden brüchiger. Aber sie bleiben im Mittelpunkt. Das Kopenhagener Intellektuellenmilieu, in dem die Geschichte spielt, lernen wir kaum kennen. Wichtig ist nur die psychologische Situation, die gegenseitige Verhinderung des Lebens. In einem früheren Essay schrieb Kirsten Thorup einmal: "Das Leben ist so voller Überraschungen." Das hört sich viel versprechend an. Nur leider: Wo sind in diesem Buch die Überraschungen? Die Monologe, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen oder Tonbandprotokolle erweisen sich als statische Fertigteile. Quälend schleppt sich die Analyse des Innenlebens dahin, man spürt von der ersten Seite an: Hier wird sich nie was ändern. Wahrscheinlich kein Wunder, denn in ihrem Essay sagte Thorup auch: "Der Roman wird zur Redemaschine des Stummen." Für die Phantasien des Lesers bleibt dann wenig Platz. Kirsten Thorups Redemaschine reproduziert den Schmerz eines ganzen Lebens. Aber sie schafft es nicht, die Wörter klingen zu lassen. Bonsai ist die Kunst, Großes klein zu machen.

    Kirsten Thorup
    "Bonsai"
    (Insel Verlag)