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Die Sagan der Banlieues

Doria ist 15 und wohnt in einem dieser versifften Hochhaussiedlungen in der Banlieue. Die Adresse "Cité du Paradis" ist ein Hohn, denn ihr Leben dort ist die Hölle: Wenn Mama mal zuhause ist, starrt sie meist stumm auf den Bildschirm des ausgeschalteten Fernsehapparats, manchmal weint sie; Papa ist abgehauen - vor sechs Monaten in einem grauen Taxi. Es heißt, er habe eine Jüngere in Marokko, eine Frau, die ihm endlich den heißersehnten Sohn schenken wird.

Von Brigitte Neumann | 18.11.2006
    Macht nichts, dass dieses Jahr niemand an meinen Geburtstag gedacht hat. Ich bin ein Niemand. Und ich kann nichts Außergewöhnliches. Ich hab zwar so ein paar kleine Tricks auf Lager, aber nichts Besonderes: mit den Zehen knacken, einen Spuckefaden aus dem Mund laufen lassen und dann wieder hochziehen .. Als Junge wäre es vielleicht alles anders. Es wäre sogar ganz sicher anders. Zum Beispiel wäre mein Vater noch da. .. Es hätte mir gefallen ein Junge zu sein. Tja, aber ich bin nun mal ein Mädchen. Eine Tussi. Ein Mädel. Eine Ische halt. Irgendwann werde ich mich wohl daran gewöhnen.

    Dorias Leben spielt sich in einer dieser zahlreichen Zonen inmitten Frankreichs ab, die für normale Franzosen tabu sind. Während der Ausschreitungen letzten Herbst hatten gerade die professionellen Realitätsvermittler der seriösen Medien Schwierigkeiten, ihre Reporter dort zu postieren. Und wenn es doch klappte, machten sich die jungen Banlieusards einen Spaß daraus, ihnen Schauergeschichten zu servieren, markierten den harten Dealer und Mädchenhändler und bedienten sämtliche Vorurteile. Bürger, die trotzdem wissen wollten, was in den Ghettos tatsächlich passiert, mussten die Langzeitstudien der Soziologen durcharbeiten, die inzwischen zuhauf vorliegen. Oder gleich zu einem der ebenfalls zahlreich erschienen O-Ton-Romane greifen - einem wie dem von Faiza Guène zum Beispiel.

    Weil es die Unruhen in den Banlieues schon seit mehr als 10 Jahren gibt und weil Faiza Guènes Buch "Paradiesische Aussichten" keck, witzig und charmant geschrieben ist, war es einer der französischen Bestseller im Jahr 2004. Es wurde dort nicht - wie hierzulande - unter der Rubrik Kinderbuch verkauft, sondern galt völlig zu Recht als Erfahrungsbericht einer Jugendlichen aus den Ghettos, der jeden denkenden und lesenden Franzosen interessieren könnte. In den Besprechungen wurde die damals 19-jährige mit dem Titel "die Sagan der Banlieues" geehrt.

    Während der letzten Ausschreitungen in den französischen Vorstädten sprach ich mit dem in Paris lebenden libanesisch-französischen Schriftsteller Amin Maalouf über die Ursachen der Revolte. Seine Analyse der Verhältnisse ist nützlich, um den Hintergrund zu verstehen, vor dem Faiza Guènes Geschichte spielt ...

    " Zum Beispiel ist es falsch, alle Kinder aus Immigrantenfamilien in eine Schule zu packen. Und ein Hohn ist es, dann denen noch zu sagen: In Frankreich herrsche Chancengleichheit. Eine derartige Konzentration von Unterprivilegierten muss in Schulen und in Wohnquartieren verhindert werden. Man hat die Leute aus Afrika in diese Vorstadt-Ghettos gesteckt, um andere Wohnquartiere zu schützen. Aber diese Trennung in Arm und Reich ist sehr ungesund für die ganze Gesellschaft.

    Man sagt den Kindern der Einwanderer: Ihr seid alle Franzosen. Aber die Betroffenen haben das Gefühl, von der französischen Gesellschaft abgeschnitten und auf die eigene Gemeinschaft zurückgeworfen zu sein.

    Der Beweis: Frankreich ist ein Land, das kaum herausragende Persönlichkeiten mit Immigrantenhintergrund aufweisen kann. Höchstens im Sport gibt es ein paar solcher Figuren. Die Franzosen machen sich nun zwar gerne lustig über solche Alibi-Figuren wie Pele in Brasilien, die hochgejubelt werden, während der Rest der Schwarzen sein Leben auf dem Abstellgleis fristet. Aber in Wahrheit haben wir eine vergleichbare Situation. Und auch da scheint niemand zu merken, wie sich der Graben vertieft."

    Faiza Guène sieht - vielleicht weil sie selbst eine der wenigen ist, die es schaffte, dem Ghetto zu entkommen - Potential für eine hoffnungsvolle Zukunft der rund 5 Millionen Noirs, die nach Schätzungen in Frankreich leben. Denn der französische Staat hat sich ganz und gar nicht aus den Vorstädten zurückgezogen. Er schickt Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter. Über 15.000 gemeinnütziger Vereine bieten Hausaufgabenhilfe oder Unterstützung bei der Jobsuche. Kirchliche Organisationen verteilen Essens- und Kleiderspenden. Bürgerinitiativen organisieren Patenschaften als Integrationshilfe.

    So sehr Guènes Heldin, die 15-jährige Doria, diese Abgesandten der Wohlstandswelt auch anfangs auch als käsige, Mitleid heuchelnde Dingsdas verflucht - sie schaffen es immerhin, der Mutter einen Alphabetisierungskurs zu organisieren sowie ein Bewerbungstraining und ermöglichen ihr dadurch den Weg aus der Isolation und zu einem besseren Job. Eine wichtige Rolle im Leben der Hauptfigur spielt auch die Psychologin Madame Burlaud. Doria wird zu ihr geschickt, als man merkt, dass das Mädchen verstummt und fast sämtliche Verbindungen zur Außenwelt kappt. Mme Burlaud kämpft gegen das in Frankreich geläufige Cité-Syndrom. Es ist das Gefühl, immer übers Ohr gehauen zu werden, ständig Opfer von Diskriminierung zu sein, immer als letzter an die Reihe zu kommen. Sie verhilft Doria zu einigen wichtigen Einsichten über sich selbst. Zum Beispiel, dass es nichts bringt, sich im eigenen Unglück zu verkriechen; dass es sich immer lohnt, nach einem Ausweg zu suchen.

    Und zum Schluss scheint tatsächlich eine andere Doria aus dem am Anfang so vollständig bedrückten Mädchen zu wachsen. Sie, die mit 15 noch in Endzeitstimmung war - pampig, frustriert und feindselig - hat mit 16 eine Ausbildungsstelle, eine Mutter, die sich wieder um sie kümmern kann und einen Freund, der lieb zu ihr ist. Doria hat gelernt, Hilfe anzunehmen, und die Soziologen in ihren Berichten würden schreiben: Sie verschanzt sich nicht mehr hinter einem ressentimentgeladenen Kommunitarismus.

    "Paradiesische Aussichten" ist ein Buch über die trotzige Liebe zum Ghetto, dem verschämten Wunsch nach Integration in die französische Gesellschaft und über die vielen falsch konstruierten, brüchigen und eingestürzten Kontakt-Kanäle zwischen Drinnen und Draußen. Der Roman von Faiza Guène funktioniert selbst als eine dieser Kontaktröhren. Stabil, reell, gut gelüftet. In zwei Stunden sind Sie wieder daheim. Absolut unversehrt. Aber reicher um mindestens eine Frage: Wenn die Banlieue eigentlich ein Ghetto ist, leben die anderen Franzosen drum herum dann in Freiheit oder nur in der Illusion davon?

    Faiza Guène: Paradiesische Aussichten
    Carlsen